OGH 3Ob203/12t

OGH3Ob203/12t19.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Dr. Friedrich Valzachi, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei H*****, vertreten durch Mag. Gerhard Pilz, Rechtsanwalt in Wien, wegen 20.000 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 14. August 2012, GZ 16 R 169/12h-27, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. Mai 2012, GZ 7 Cg 85/11p-21, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.189,44 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 198,24 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Im Jahr 2004 war der Kläger als Krankenpfleger berufstätig, der Beklagte betrieb ein Restaurant in Wien. Ein gemeinsamer Bekannter der Streitteile, D***** (in der Folge immer: Schuldner) war Inhaber eines Taekwondostudios in Wien. Alle drei sind koreanischer Herkunft und waren 2004 gut befreundet.

An einem nicht mehr feststellbaren Tag im Oktober 2004 trafen sich die drei Freunde im Lokal des Beklagten, um den Geldwunsch des Schuldners für die Eröffnung eines weiteren Taekwondostudios zu besprechen. Der Schuldner wollte sich 20.000 EUR vom Kläger ausborgen. Der Kläger erklärte sich bereit, ihm diesen Betrag zur Verfügung zu stellen, verlangte aber vom Beklagten die Übernahme einer Bürgschaft. Der Beklagte war damit einverstanden. Nicht festgestellt werden konnte, dass die Streitteile näher besprachen und einander erklärten, was sie jeweils unter dem Begriff Bürge verstanden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass sie konkrete Bürgschaftsbedingungen diskutierten.

Der Schuldner verfasste handschriftlich noch bei diesem Treffen einen selbst entworfenen Text eines Schuldscheins in koreanischer Sprache, welcher unmittelbar danach am selben Tag von den Streitteilen und vom Schuldner unterfertigt wurde.

Der Schuldschein weist als Gläubiger den Kläger, den Schuldner und als Bürgen den Beklagten auf und nennt den Betrag von 20.000 EUR. Der Schuldschein hält fest, dass sich der Schuldner diesen Betrag borgt und sich verpflichtet, den Betrag spätestens bis 31. Juli 2005 an den Kläger zurückzuzahlen. Es wurden 10 % Zinsen (pa) vereinbart, wobei sich der Schuldner verpflichtete, auch die Zinsen am Zahlungstag mit dem geborgten Kapital zurückzuzahlen. Neben der Unterschrift des Beklagten findet sich das Wort „Bürge“.

In der koreanischen Sprache gibt es wie im Deutschen eigene, voneinander unterschiedliche Worte für „Zeuge“ und für „Bürge“. Dem Wortsinn nach bezeichnet dabei das koreanische Wort „Bürge“ jemanden, der für einen anderen eine Haftung übernimmt.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beklagte lediglich als Zeuge für die Vereinbarung zwischen dem Kläger und dem Schuldner fungieren sollte.

Der Betrag von 20.000 EUR wurde vom Kläger dem Schuldner an einem nicht feststellbaren Tag binnen einem Monat ab Unterfertigung des Schuldscheins, jedoch nicht in Gegenwart des Beklagten, übergeben.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Geldübergabe und -übernahme in einem Zusammenhang mit der Erlangung eines Visums, einer Aufenthaltsbewilligung oder der Erlangung einer Arbeitsbewilligung zu Gunsten des Bruders des Klägers stand.

Ob und wann der Schuldner vom Kläger nach der vereinbarten Fälligkeit gemahnt wurde und dieser die Rückzahlung des Darlehensbetrags verweigert hat, konnte nicht festgestellt werden.

Der Schuldner hat weder das Kapital noch die vereinbarten Zinsen gezahlt. Er ist seit längerem unbekannten Aufenthalts.

Der Kläger trat erstmals im Juli 2011 an den Beklagten wegen der behaupteten Rückzahlungsverpflichtung heran.

Der Kläger begehrt mit seiner am 31. August 2011 erhobenen Klage vom Beklagten Zahlung von 20.000 EUR samt 10 % Zinsen seit 31. August 2008. Er habe dem Schuldner ein am 31. Juli 2005 rückzahlbares Darlehen in Höhe des Klagebetrags gewährt. Der Kläger habe wiederholt, allerdings vergeblich, versucht, vom Schuldner Zahlung zu erlangen. Seit mehreren Jahren halte sich der Schuldner nicht mehr in Österreich auf. Er sei unbekannten Aufenthalts. Der Beklagte habe für die Darlehensforderung eine Bürgschaftsverpflichtung übernommen.

Der Beklagte wandte - soweit für das Revisionsverfahren noch maßgeblich - ein, dass die Bürgschaftsverpflichtung nicht wirksam sei. Er habe lediglich als Zeuge fungiert. Es liege Dissens vor. Der Kläger habe den Schuldner nicht gemahnt. Es sei nicht nachvollziehbar, warum der Kläger angesichts der vereinbarten Rückzahlung per 31. Juli 2005 erstmals im Juli 2011 an den Beklagten herangetreten sei. Der Kläger habe keine Anstrengungen zur Einbringlichmachung der Darlehensforderung gemacht. Er habe daher einen allfälligen Anspruch gegen den Beklagten verwirkt. Der Beklagte könne allenfalls eine Ausfallsbürgschaft übernommen haben. Ohne vorherige Geltendmachung der Darlehensforderung beim Hauptschuldner sei eine Klageführung gegen den Beklagten nicht möglich.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es traf ua die eingangs wiedergegebenen Feststellungen und erachtete rechtlich, dass dem Schuldschein, den der Beklagte unterfertigt habe, eine eindeutige, bestimmte und klare Erklärung, für eine fremde Schuld als Bürge einzustehen, nicht zu entnehmen sei. Dem Kläger sei damit der Nachweis einer ausreichend bestimmten, den Formerfordernissen des § 1346 Abs 2 ABGB entsprechenden Bürgschaftsverpflichtung des Beklagten nicht gelungen.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung des Klägers Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer gänzlichen Stattgebung des Klagebegehrens ab.

Es vertrat die Auffassung, dass nach der Rechtsprechung die Unterzeichnung einer über die Hauptschuld ausgestellten Urkunde zur Annahme einer wirksamen Bürgschaftserklärung dann genüge, wenn der Bürge ausdrücklich mit dem Beisatz „als Bürge“ unterfertigt habe. Die Streitteile seien sich einig gewesen, dass der Beklagte Bürge sein sollte.

Soweit die Parteien nichts anderes vereinbart hätten und sich aus besonderen Vorschriften nicht das Gegenteil ergebe, müsse der Gläubiger gemäß § 1355 ABGB zuerst den Hauptschuldner mahnen. Hätte sich der Beklagte lediglich als Ausfallsbürge verpflichten wollen, hätte dies in der Urkunde seinen Niederschlag finden müssen. Gemäß § 1356 ABGB könne der Bürge aber, selbst wenn er sich ausdrücklich nur für den Fall verbürgt habe, dass der Hauptschuldner zu zahlen unvermögend sei, zuerst belangt werden, wenn der Hauptschuldner in Konkurs verfallen oder wenn er zur Zeit, als die Zahlung geleistet werden sollte, unbekannten Aufenthalts sei und der Gläubiger keiner Nachlässigkeit zu beschuldigen sei. Der Beweis der Voraussetzungen für eine unmittelbare Inanspruchnahme des Bürgen obliege dem Gläubiger. Der Beweis einer Nachlässigkeit des Gläubigers sei allerdings vom Bürgen zu erbringen. Die Negativfeststellung des Erstgerichts zu den Eintreibungsmaßnahmen des Klägers gehe daher zu Lasten des Beklagten.

Über Zulassungsbeschwerde des Beklagten, verbunden mit der ordentlichen Revision, änderte das Berufungsgericht seinen Zulässigkeitsausspruch nachträglich dahin ab, dass es die Revision mit der Begründung für zulässig erklärte, dass Rechtsprechung fehle, zu welchem Zeitpunkt der Hauptschuldner iSd des § 1356 ABGB abwesend sein müsse.

In seiner gegen das Berufungsurteil erhobenen Revision beantragt der Beklagte die Wiederherstellung des klageabweisenden Ersturteils; hilfsweise eine Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

In seiner Revision hält der Beklagte den Standpunkt aufrecht, dass keine wirksame Bürgschaftsverpflichtung vorliege. § 1356 ABGB sei nicht anwendbar, weil diese Bestimmung voraussetze, dass der Hauptschuldner zur Zeit, als die Zahlung geleistet werden sollte, unbekannten Aufenthalts sei. Das stehe hier nicht fest. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts trage der Gläubiger die Beweislast dafür, dass eine Einmahnung des Hauptschuldners erfolgt sei. Der Hauptschuldner sei weder zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Rückzahlungsverpflichtung (31. Juli 2005) noch zum Zeitpunkt, als der Kläger vom Beklagten erstmals die Bezahlung des Klagebetrags gefordert habe, unbekannten Aufenthalts gewesen. Im Übrigen würden die Rechtsfolgen des § 1356 ABGB nicht eintreten, wenn der Gläubiger bei Durchsetzung seiner Ansprüche gegenüber dem Hauptschuldner nachlässig handle. Eine solche Obliegenheitsverletzung könne insbesondere in einem unangemessen langen Zuwarten (gemeint: mit der Geltendmachung gegenüber dem Hauptschuldner) bis zum Verschwinden des Hauptschuldners liegen.

Dazu wurde erwogen:

1. Zum anzuwendenden Recht

Die Streitteile sind nach den Feststellungen koreanischer Herkunft. Ob sie auch koreanische Staatsbürger sind, bedarf keiner Prüfung, weil auch in diesem Fall nach dem noch maßgeblichen EVÜ (zu dessen zeitlichen Anwendungsbereich Verschraegen in Rummel³ Vor Art 1 EVÜ Rz 5 sowie Art 28 Rom I-Verordnung) auf die in Frage stehende Bürgschaftsverpflichtung österreichisches Recht anzuwenden ist (Verschraegen in Rummel³ Art 4 EVÜ Rz 90). Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Unterfertigung des Schuldscheins hatte der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich.

2. Zur Wirksamkeit der Bürgschaftsverpflichtung

2.1 Aus der schriftlichen Verpflichtungserklärung des Bürgen muss sein rechtsgeschäftlicher Wille, für eine fremde Schuld einzustehen, unmittelbar hervorgehen (RIS-Justiz RS0032728; 1 Ob 582/90 mwN). Bei formbedürftigen Rechtsgeschäften können jedoch auch außerhalb der schriftlichen Erklärung liegende Umstände berücksichtigt werden, sofern sich für den durch Auslegung ermittelten Willen ein zureichender Anhaltspunkt in der Urkunde selbst findet, der Inhalt der Bürgschaftsverpflichtung also dort irgendwie seinen Ausdruck gefunden hat (8 Ob 388/97k; s auch RIS-Justiz RS0032263).

2.2 Die bloße Unterfertigung einer über die Hauptschuld ausgestellten Urkunde, die keine Bürgschaftsverpflichtung enthält, durch andere Personen als den Hauptschuldner ohne ausdrücklichen Beisatz der Haftung als Bürge genügt dem Erfordernis der Schriftform nicht (RIS-Justiz RS0032261; 6 Ob 114/09x).

2.3 Dieser Fall liegt hier aber gerade nicht vor: Es steht nicht nur fest, dass der Beklagte den Schuldschein mit dem Zusatz „Bürge“ unterfertigte, sondern auch, dass in einem der Unterfertigung vorangegangenen Gespräch zwischen den Streitteilen und dem Hauptschuldner erörtert wurde, dass der Kläger die Darlehensgewährung von der Übernahme einer Bürgenhaftung des Beklagten abhängig machte, womit der Beklagte einverstanden war. Die Streitteile besprachen somit auch ausdrücklich mündlich die Übernahme einer Bürgschaftsverpflichtung durch den Beklagten. Nach den Feststellungen bezeichnet das koreanische Wort „Bürge“ jemanden, der für einen anderen eine Haftung übernimmt.

2.4 Zutreffend hat das Berufungsgericht somit eine wirksam begründete Bürgschaftsverpflichtung bejaht.

3. Zu den Voraussetzungen des § 1355 ABGB

3.1 Die Revision zieht die - zutreffende - Auffassung des Berufungsgerichts, dass hier kein Fall einer (gesetzlich nicht näher geregelten) Ausfallsbürgschaft (dazu P. Bydlinski in KBB³ § 1346 Rz 15; 3 Ob 58/05h; 2 Ob 78/11a EvBl 2012/132, 913 [Konecny]) vorliegt, nicht mehr in Zweifel: Eine Einschränkung der Bürgschaft auf den Fall der Uneinbringlichkeit der Hauptschuld wurde nicht vereinbart.

3.2 Gemäß § 1355 ABGB kann der Bürge in der Regel erst dann belangt werden, wenn der Hauptschuldner auf des Gläubigers gerichtliche oder außergerichtliche Einmahnung seine Verbindlichkeiten nicht erfüllt hat.

3.3 Zutreffend ist allerdings, dass der Gläubiger im Verfahren gegen den Bürgen die Einmahnung des Hauptschuldners zu behaupten und zu beweisen hat (7 Ob 664/90 SZ 63/177; RIS-Justiz RS0032175; Gamerith in Rummel³ § 1355 ABGB Rz 2 mwN). Dabei ist die Einmahnung nicht nur zur Herbeiführung der Fälligkeit der Hauptschuld, sondern auch dann notwendig, wenn - wie hier - der Fälligkeitstag vertraglich bestimmt wurde (Gamerith in Rummel³ § 1355 ABGB Rz 2 mwN).

3.4 Der Revision ist daher darin beizupflichten, dass die Negativfeststellung des Erstgerichts, wonach nicht festgestellt werden könne, ob der Kläger den Hauptschuldner nach Eintritt der Fälligkeit mahnte, den Kläger trifft.

4. Zum Anwendungsbereich des § 1356 ABGB

4.1 Gemäß § 1356 ABGB kann der Bürge, selbst wenn er sich ausdrücklich nur für den Fall verbürgt hat, dass der Hauptschuldner zu zahlen unvermögend sei, zuerst belangt werden, wenn der Hauptschuldner in Konkurs verfallen ist oder wenn er zur Zeit, als die Zahlung geleistet werden sollte, unbekannten Aufenthalts ist und der Gläubiger keiner Nachlässigkeit zu beschuldigen ist.

4.2 Der in § 1356 ABGB angesprochene Tatbestand des unbekannten Aufenthalts des Hauptschuldners stellt nach dem Gesetzeswortlaut auf den Zeitpunkt der Fälligkeit der Hauptschuld ab.

4.3 Es entspricht allerdings der herrschenden Lehre, dass es auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem der Gläubiger vom Bürgen Zahlung begehrt (Ohmeyer/Klang in Klang² VI [1951] 224; Gamerith in Rummel³ § 1356 ABGB Rz 1; Mader/W. Faber in Schwimann³ § 1356 ABGB Rz 3; P. Bydlinski in KBB³ § 1356 Rz 3).

4.4 Eine Auslegung, die sich streng nach dem gesetzlichen Wortlaut richtete, würde zu dem unhaltbaren Ergebnis führen, dass der Gläubiger den Bürgen auch dann unmittelbar belangen könnte, wenn der Hauptschuldner bei Fälligkeit der Schuld unbekannten Aufenthalts war, aber zur Zeit der Klage gegen den Bürgen auffindbar ist (Ohmeyer/Klang in Klang² VI 224). Auch aus einem anderen Grund ist dieser Auslegung der Vorzug zu geben: Stellte man nämlich ausschließlich auf den Fälligkeitszeitpunkt der Hauptschuld ab, könnte der Bürge, wie sich gerade an dem hier zu beurteilenden Anlassfall zeigt, vom Gläubiger auch bei dauernder späterer Abwesenheit des Hauptschuldners nie mehr belangt werden, sofern der Hauptschuldner zum Fälligkeitszeitpunkt noch nicht unbekannten Aufenthalts war und vom Gläubiger zu diesem Zeitpunkt nicht zur Zahlung aufgefordert wurde. Diese Rechtsfolge wäre überschießend, weil der Bürge im Anwendungsbereich des § 1356 ABGB dadurch ausreichend geschützt ist, dass er nur dann belangt werden kann, wenn „der Gläubiger keiner Nachlässigkeit zu beschuldigen ist“.

4.5 Es steht fest, dass der Hauptschuldner „seit längerem unbekannten Aufenthalts“ ist. Diese Feststellung reicht entgegen der in der Revision vertretenen Auffassung für die Verwirklichung des Tatbestands des § 1356 ABGB aus, weil aus ihr jedenfalls abzuleiten ist, dass der Schuldner nun - bei Geltendmachung der Zahlung beim Bürgen - nicht auffindbar ist. Seit wann das der Fall ist, wäre, wie dargelegt, nur dann maßgeblich, wenn auf den Fälligkeitszeitpunkt der Hauptschuld abzustellen wäre.

5. Zur behaupteten Sorgfaltspflichtverletzung

5.1 Bei beiden Tatbeständen des § 1356 ABGB schadet dem Gläubiger die eigene Nachlässigkeit bei der Verfolgung seines Anspruchs. Diese Nachlässigkeit kann sich ua darin äußern, dass der Gläubiger mit der Eintreibung der fällig gewordenen Forderung zögert, also etwa bis zur späteren „Flucht“ des Schuldners (P. Bydlinski in KBB³ § 1356 Rz 4) zugewartet hat (zur Nachlässigkeit iSd § 1356 ABGB grundlegend Ohmeyer, Die Sorgfaltspflicht des Gläubigers gegenüber dem Bürgen, ZBl 1927, 161).

5.2 Im Anwendungsbereich des § 1356 ABGB entspricht es der herrschenden Auffassung, dass die dort angesprochene Nachlässigkeit eine Obliegenheitsverletzung darstellt, die zur gänzlichen oder teilweisen Bürgenbefreiung führen kann (Ohmeyer, ZBl 1927, 172; Ohmeyer/Klang in Klang² VI 225; Gamerith in Rummel³ § 1356 ABGB Rz 4; Mader/W. Faber in Schwimann³ § 1356 ABGB Rz 4; P. Bydlinski in KBB³ § 1356 Rz 4).

5.3 Im Anwendungsbereich des § 1364 Satz 2 ABGB hingegen, aus dem die ständige Rechtsprechung eine umfassende, dem Gläubiger gegenüber dem Bürgen obliegende Sorgfaltspflicht ableitet (8 Ob 119/97a SZ 70/182; RIS-Justiz RS0032306), ist strittig, ob eine Sorgfaltspflichtsverletzung des Gläubigers eine selbständig geltend zu machende Schadenersatzforderung des Bürgen begründet (so Ohmeyer/Klang in Klang² VI 245 f; Gamerith in Rummel³ § 1364 ABGB Rz 3; Mader/W. Faber in Schwimann³ § 1364 ABGB Rz 2 f; Th. Rabl in ABGB-ON 1.00 § 1364 ABGB Rz 15) oder ob eine Obliegenheitsverletzung vorliegt, die unmittelbar zum Wegfall bzw zur Kürzung des Bürgschaftsanspruchs führt (so Iro zu 6 Ob 587/86 ÖBA 1988/97, 719; P. Bydlinski zu 3 Ob 559/91 ÖBA 1993/363, 64). Die Rechtsprechung differenziert nicht deutlich (erkennbar für Obliegenheitsverletzung zB 7 Ob 605/95; erkennbar für Schadenersatzforderung 8 Ob 118/06w; unklar zB 6 Ob 587/86 ÖBA 1988/97, 719 [Iro] und 8 Ob 119/97a SZ 70/182; ausdrücklich offen lassend 1 Ob 8/04i ÖBA 2004/1238, 883).

5.4 Dazu wird die Meinung vertreten, dass sowohl die schadenersatzrechtliche als auch die „obliegenheitsrechtliche“ Variante zum selben Ergebnis führen (so Iro zu ÖBA 1988/97, 719; ebenso 1 Ob 8/04i ÖBA 2004/1238, 883).

5.5 Ob das zutrifft oder ob nicht - neben prozessesualen Fragen - auch die Behauptungs- und Beweislast in Ansehung der Kausalität der Sorgfaltswidrigkeit - die etwa nach den Entscheidungen 8 Ob 119/97a und 1 Ob 8/04i (vgl auch P. Bydlinski in KBB³ § 1364 Rz 3) den Bürgen treffen soll (ggt jedoch 7 Ob 605/95) - unterschiedlich beurteilt werden müsste, weil der Geschädigte zwar nach allgemeinen Grundsätzen den Schadenseintritt zu beweisen hat, dieser Grundsatz aber für die Relevanz von Obliegenheitsverletzungen jedenfalls nicht selbstverständlich ist, ist hier ohne Bedeutung:

5.5.1 Der Beklagte hat in erster Instanz vorgebracht, der Kläger habe nach Fälligkeit des Darlehens im Jahr 2005 keine Anstrengungen unternommen, das Geld beim Schuldner einzubringen; der Anspruch gegen den Beklagten sei daher „verwirkt“.

5.5.2 Die Beweislast dafür, dass es der Gläubiger unterließ, die erforderlichen Schritte gegen den Schuldner bei Eintritt der Fälligkeit der Hauptschuld zu setzen, also die Beweislast für eine objektive Nachlässigkeit, trifft sowohl im Anwendungsbereich des § 1356 ABGB als auch nach § 1364 Satz 2 ABGB jedenfalls den beklagten Bürgen (Ohmeyer/Klang in Klang² VI 225, 246; Mader/W. Faber in Schwimann³ § 1356 ABGB Rz 5 und § 1364 ABGB Rz 3; Gamerith in Rummel³ § 1356 ABGB Rz 8 und § 1364 ABGB Rz 4; RIS-Justiz RS0032311).

5.5.3 Schon an diesem Beweis fehlt es hier: Die Frage der Beweislast für die geschehene Einmahnung nach § 1355 ABGB ist von der Frage zu trennen, wen die Beweislast für eine objektive Nachlässigkeit des Gläubigers trifft:

Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass die Negativfeststellung des Erstgerichts, dass nicht festgestellt werden könne, ob der Kläger den Hauptschuldner mahnte, zwar zunächst den Kläger belastete, der die Verwirklichung des zweiten Tatbestands des § 1356 ABGB (Abwesenheit des Hauptschuldners) zu beweisen hatte, um dennoch Zahlung vom Bürgen beanspruchen zu können.

Für die Frage der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers iSd § 1356 und/oder des § 1364 Satz 2 ABGB schlägt hingegen die getroffene Negativfeststellung zu Lasten des Beklagten aus, weil ihm der Nachweis, dass der Kläger bei Eintreibung der Schuld gegenüber dem Hauptschuldner nachlässig war, ihn also nicht mahnte bzw das Darlehen zurückforderte, nicht gelungen ist.

5.6 Schon aus diesem Grund ist der unberechtigten Revision des Klägers ein Erfolg zu versagen. Ob eine Sorgfaltspflichtverletzung des Gläubigers iSd § 1364 Satz 2 ABGB eine Gegenforderung aus dem Titel des Schadenersatzes begründen kann oder ob sie als Obliegenheitsverletzung zu beurteilen ist, bedarf daher hier ebenso wenig einer Prüfung wie die Frage, ob die Beweislast für den Kausalverlauf, nämlich dafür, dass bei Einhaltung der dem Bürgen gegenüber gebotenen Sorgfalt an den Gläubiger Zahlung geleistet worden wäre, tatsächlich den Bürgen trifft.

6. Die Entscheidung über die Kosten der Revisionsbeantwortung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

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