OGH 11Os139/12v

OGH11Os139/12v11.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Dezember 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Meier als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Natalia M***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1, Abs 4 erster Fall StGB, AZ 6 U 50/11w des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 6. September 2011, einen Vorgang in der Hauptverhandlung am 8. September 2011, das Urteil des genannten Bezirksgerichts vom 8. September 2011 und den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 25. Mai 2012, AZ 43 Bl 70/12z, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, des Verteidigers Dr. Schubeck und des Privatbeteiligtenvertreters Dr. Hieke zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache gegen Natalia M***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1, Abs 4 erster Fall StGB, AZ 6 U 50/11w des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau, verletzen das Gesetz

1./ der Beschluss dieses Gerichts vom 6. September 2011 (ON 17) in §§ 61 Abs 2 iVm 86 Abs 1 StPO;

2./ die in der Hauptverhandlung am 8. September 2011 (ON 18) unterlassene Aufklärung der Angeklagten über ihre wesentlichen Rechte im Verfahren in § 6 Abs 2 erster Satz (iVm §§ 48 Abs 2, 49 Z 2, 6 und 11) StPO;

3./ das Urteil des genannten Bezirksgerichts vom 8. September 2011 (ON 19) durch Unterlassen der Setzung einer Leistungsfrist beim Privatbeteiligtenzuspruch in § 366 Abs 2 StPO iVm § 409 ZPO;

4./ der Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 25. Mai 2012, AZ 43 Bl 70/12z, in §§ 56 Abs 1, 466 Abs 1 und 470 Z 1 StPO.

Der Beschluss des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 6. September 2011 (ON 17) sowie das Urteil dieses Gerichts vom 8. September 2011 (ON 19) werden aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht St. Johann im Pongau verwiesen.

Text

Gründe:

Im beim Bezirksgericht St. Johann im Pongau zu AZ 6 U 50/11w gegen die polnische Staatsangehörige Natalia M***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1, Abs 4 erster Fall StGB anhängigen Strafverfahren wurden der in Polen wohnhaften Angeklagten der Strafantrag der Staatsanwaltschaft Salzburg vom 21. April 2011 (ON 4) und die Ladung zu der vom Bezirksrichter für 8. September 2011 anberaumten Hauptverhandlung (ON 1 S 1a) samt Übersetzung dieser Schriftstücke in die polnische Sprache (ON 10, 11) am 19. Juli 2011 zugestellt (internationaler Rückschein ON 1 S 1a umseits).

Mit in polnischer Sprache verfasstem Schreiben (ON 13) beantragte die Angeklagte unter Hinweis auf ihre Einkommenslosigkeit als Studentin und monatliche Alimentationszahlungen ihres Vaters in Höhe von 375 Euro die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers. Sie merkte an, dass sie die (Gerichts‑)Sprache nicht in dem Ausmaß beherrsche, um in dieser vor Gericht auszusagen. Da sie in dieser Sache noch nicht vernommen worden sei (sie habe bisher lediglich eine schriftliche Erklärung per E‑Mail übermittelt) und die Akten der (Straf‑)Sache nicht kenne, sei sie ohne Rücksprache mit einem Rechtsanwalt, mit dem sie vorweg die „Verteidigungslinie“ besprechen möchte, nicht dazu in der Lage zu sagen, ob und welche Beweisanträge sie in der Sache einbringen werde.

Dieser seit 23. August 2011 in deutscher Übersetzung vorliegende Antrag (ON 15) wurde mit Beschluss vom 6. September 2011 (ON 17) abgewiesen. Das Bezirksgericht begründete seine Entscheidung im Detail wie folgt:

Ein Fall einer notwendigen Verteidigung im Sinn des § 61 Abs 1 StPO liegt nicht vor. Ein Verfahrenshilfeverteidiger kann daher nur unter der Voraussetzung des § 61 Abs 2 Z 4 StPO bei schwieriger Sach‑ oder Rechtslage bestellt werden, wenn und soweit dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Die Angeklagte bestreitet zwar ein Verschulden am Schiunfall in einer schriftlichen Stellungnahme. In der Hauptverhandlung werden neben der Angeklagten auch zwei Zeugen, darunter die Geschädigte, vernommen. Diese Umstände begründen aber keine schwierige Sach- oder Rechtslage. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers für eine zweckentsprechende Verteidigung im bezirksgerichtlichen Strafverfahren sind somit nicht gegeben.

Erwägungen dahin, ob die Angeklagte trotz des Umstands, dass sie der Gerichtssprache nicht kundig ist, in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen (vgl § 61 Abs 2 Z 2 StPO), sind dem Beschluss, der zudem keine Rechtsmittelbelehrung enthält, nicht zu entnehmen.

Eine Ausfertigung dieser Entscheidung wurde der Angeklagten zu Beginn der Hauptverhandlung am 8. September 2011 ausgefolgt (ON 18 S 3). Die Erteilung einer mündlichen Rechtsmittelbelehrung in Ansehung dieses Beschlusses, vor allem der Hinweis auf die jedenfalls noch offene Beschwerdefrist, oder eine Anleitung der unvertretenen Angeklagten, ihren Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers in der Hauptverhandlung wiederholen zu können, sind dem Hauptverhandlungsprotokoll nicht zu entnehmen (ON 18).

Die Hauptverhandlung am 8. September 2011 wurde in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die polnische Sprache, jedoch ohne Verteidiger durchgeführt. Die Angeklagte bestritt ein Verschulden am ihr angelasteten (Schi‑)Unfall und erwähnte im Rahmen ihrer Schilderung des Unfallhergangs ua, dass sie gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer Schwester als Gruppe abgefahren wäre und sich ihre Schwester hinter ihr befunden habe. Dass diese auch Wahrnehmungen zum gegenständlichen Unfall gemacht hätte, geht aus der Aussage nicht konkret hervor (ON 18 S 3), weil der Tatrichter die Angeklagte nicht dazu befragte, ob ihre Schwester den Zusammenstoß wahrgenommen habe (und solcherart als Zeugin in Frage komme). Darüber hinaus unterließ er es zur Gänze, die Angeklagte darüber aufzuklären, dass sie berechtigt wäre, zweckdienliche Beweisanträge zu stellen, insbesondere die Vernehmung der Schwester als Zeugin zu begehren.

Mit Urteil des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 8. September 2011, GZ 6 U 50/11w‑19, wurde die Angeklagte schließlich des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1, Abs 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Zuspruch eines Schadenersatzbetrags von 550 Euro an die Privatbeteiligte Monika K***** erfolgte ohne Setzung einer Leistungsfrist.

Die Angeklagte ersuchte (mit Beistand der anwesenden Dolmetscherin für die polnische Sprache) nach Bekanntgabe der wesentlichen Entscheidungsgründe und Erteilung der Rechtsmittelbelehrung „um drei Tage Bedenkzeit“ (ON 18 S 17).

Mit in polnischer Sprache verfasstem Schreiben vom 10. September 2011, das laut Poststempel noch am selben Tag zur Post gegeben worden war (ON 19a samt angeschlossenem Kuvert), brachte die Angeklagte laut der am 23. September 2011 beim Bezirksgericht St. Johann im Pongau eingelangten Übersetzung (ON 23) deutlich ihren Willen zum Ausdruck, mit diesem Urteil des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 8. September 2011 „nicht einverstanden“ sowie „unschuldig“ zu sein, und meldete solcherart das Rechtsmittel der (vollen) Berufung an.

Die in der Folge von einem bevollmächtigten Wahlverteidiger (ON 26) schriftlich ausgeführte (ON 27) Berufung der Angeklagten gegen das vorstehend bezeichnete Urteil wies das Landesgericht Salzburg als Berufungsgericht mit Beschluss vom 25. Mai 2012, AZ 43 Bl 70/12z, mit der Begründung als unzulässig zurück, dass die Berufung infolge Einlangens der amtswegig veranlassten Übersetzung erst nach Ablauf der Frist des § 466 Abs 1 erster Satz StPO verspätet angemeldet worden sei. Ein Rechtsmittel in fremder Sprache sei (ohne Verstoß gegen die MRK) unzulässig; ferner sehe die StPO für den Fall einer fremdsprachigen Eingabe kein Verbesserungsverfahren vor.

Rechtliche Beurteilung

Der Beschluss des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 6. September 2011 (ON 17), die Unterlassung der Aufklärung der Angeklagten über ihre wesentlichen Verfahrensrechte in der am 8. September 2011 durchgeführten Hauptverhandlung, das Urteil vom selben Tag und der Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 25. Mai 2012 stehen ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt ‑ mit dem Gesetz nicht im Einklang:

1./ Gemäß § 86 Abs 1 erster Satz StPO hat ein Beschluss Spruch, Begründung und Rechtsmittelbelehrung zu enthalten. In der Begründung sind die tatsächlichen Feststellungen und die rechtlichen Überlegungen auszuführen, die der Entscheidung zugrunde gelegt wurden (vierter Satz leg cit). Die Rechtsmittelbelehrung hat die Mitteilung zu enthalten, ob ein Rechtsmittel zusteht, welchen Förmlichkeiten es zu genügen hat und innerhalb welcher Frist und wo es einzubringen ist (letzter Satz leg cit).

Der Beschluss des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 6. September 2011 (ON 17) enthält jedoch weder eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung noch wurde der Angeklagten anlässlich der Ausfolgung des Beschlusses in der Hauptverhandlung vom 8. September 2011 eine entsprechende mündliche Aufklärung erteilt.

Gerichtliche Entscheidungen (§ 35 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StPO) sind rechtsfehlerhaft, wenn die Ableitung der Rechtsfolge aus dem zu Grunde gelegten Sachverhaltssubstrat das Gesetz verletzt oder die Sachverhaltsannahmen entweder in einem rechtlich mangelhaften Verfahren zu Stande gekommen oder mit einem formalen Begründungsmangel behaftet sind (RIS‑Justiz RS0126648; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 17; vgl auch RIS‑Justiz RS0123668, RS0120232).

Letzteres ist hier der Fall, weil die (implizite) Nichtannahme der Voraussetzungen für die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 61 Abs 2 Z 2 StPO das Vorbringen der Antragstellerin in diese Richtung völlig unerörtert ließ. Das stellt einen formalen Begründungsmangel dar und macht den Beschluss ‑ losgelöst von seinem Inhalt ‑ rechtsfehlerhaft.

2./ Da der den Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers abweisende Beschluss der Angeklagten ohne jede Rechtsmittelbelehrung erst in der Hauptverhandlung bekannt gemacht wurde, bestand für den Bezirksrichter ‑ bei sonstiger Nichtigkeit aus dem Grund des § 281 Abs 1 Z 4 (§ 468 Abs 1 Z 3) StPO ‑ gemäß § 6 Abs 2 erster Satz (iVm § 49 Z 2 und 11) StPO die Verpflichtung, die Angeklagte in der Hauptverhandlung zu befragen, ob sie ihren Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers wiederhole bzw aufrecht erhalte (Ratz, WK‑StPO § 468 Rz 38; vgl auch Achammer, WK‑StPO § 61 Rz 57).

Mit ihrer Aussage, wonach sie gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer Schwester als Gruppe abgefahren wäre und sich ihre Schwester hinter ihr befunden hätte, hat sie sich in der Hauptverhandlung der Sache nach hinreichend deutlich auf ein für die Lösung der Schuldfrage möglicherweise relevantes Beweismittel, nämlich eine Tatzeugin, bezogen.

Auch insoweit hätte das Bezirksgericht die nicht durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte zur zweckdienlichen Antragstellung anleiten und sie ganz allgemein über ihre wesentlichen Rechte im Verfahren ‑ so insbesondere das Recht, (auch noch) in der Hauptverhandlung die Aufnahme von Beweisen beantragen zu können (§§ 48 Abs 2, 49 Z 6 und 55 StPO) ‑ aufklären müssen (RIS‑Justiz RS0096346, RS0096544; 13 Os 52/09k; Ratz, WK‑StPO § 468 Rz 38).

3./ Der Zuspruch eines Schadenersatzbetrags von 550 Euro an die Privatbeteiligte Monika K***** im Urteil vom 8. September 2011 (ON 19) erfolgte entgegen § 366 Abs 2 StPO idF BGBl I 2007/93 iVm § 409 ZPO ohne Setzung einer Leistungsfrist (15 Os 171/10a = RIS‑Justiz RS0126774).

4./ Gemäß § 56 Abs 1 StPO hat ein Beschuldigter oder Angeklagter (§ 48 Abs 2 StPO), der sich in der Verfahrenssprache nicht hinreichend verständigen kann, das Recht auf Übersetzungshilfe. Soweit dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem zur Wahrung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten erforderlich ist, ist Übersetzungshilfe durch Beistellung eines Dolmetschers zu leisten. Dies gilt insbesondere für die Rechtsbelehrung (§ 50), für Beweisaufnahmen, an denen der Beschuldigte teilnimmt, und für Verhandlungen.

Diese Bestimmung trägt Art 6 Abs 3 lit a und lit e MRK Rechnung, die das Recht des der Gerichtssprache nicht oder nicht ausreichend kundigen Beschuldigten oder Angeklagten garantieren, in einem gegen ihn geführten Strafverfahren unabhängig von seiner finanziellen Situation die unentgeltliche Beistellung eines Dolmetschers zu verlangen, um die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verstehen zu können und dadurch in die Lage versetzt zu werden, sich zu verteidigen, vor allem aber seine Version der Ereignisse darzutun (EGMR 19. 12. 1989, Kamasinski gg Österreich, Nr 9/1988/153/207; EGMR 24. 2. 2005, Husain gg Italien, Nr 18913/03; EGMR 18. 10. 2006, Hermi gg Italien, Nr 18114/02; EGMR 24. 2. 2009, Protopapa gg Türkei, Nr 16084/90; Frowein/Peukert, EMRK³ Art 6 Rz 317; Grabenwarter/Pabel, MRK5 § 24 Rz 122; vgl überdies die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010, ABl L 280, über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, va Art 2 Abs 2).

Dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des sprachunkundigen Angeklagten auf unentgeltliche Übersetzung erstreckt sich damit ‑ worauf sich die einfachgesetzliche Regelung ausdrücklich bezieht (arg: „insbesondere [...] für Verhandlungen“) ‑ jedenfalls auf seine Verantwortung und seine sonstigen maßgeblichen Äußerungen im Rahmen der Hauptverhandlung. Wenngleich Rechtsmittelerklärungen nach verkündetem Urteil keinen Gegenstand der Hauptverhandlung bilden (RIS‑Justiz RS0125616), entspricht es gefestigtem Verständnis von Übersetzungshilfe, jene erforderlichenfalls in die deutsche Amtssprache zu übersetzen. Will man das solcherart gewährte rechtliche Gehör nicht bloß auf die faktische Anwesenheit eines Dolmetschers kurz nach beendigter Hauptverhandlung stützen, fehlen rechtlich fassbare Anhaltspunkte für eine unterschiedliche Behandlung von Rechtsmittelerklärungen, für die die Prozessordnung eine Frist von drei Tagen vorsieht (§§ 466 Abs 1, 489 Abs 1 StPO), nach dem Zeitpunkt (Beginn oder Ende der Frist) oder der Form (mündlich oder schriftlich) dieser maßgeblichen Verfahrenshandlung des unvertretenen, sprachunkundigen Angeklagten. Die Einschränkung der Verpflichtung, Rechtsmittelerklärungen des (unvertretenen, sprachunkundigen) Angeklagten in die Verfahrenssprache zu übersetzen, auf dessen mündliches Vorbringen kurz nach der Hauptverhandlung wäre mit den ‑ aus dem fair‑trial‑Gebot des Art 6 MRK erfließenden ‑ Grundsätzen der Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs (dazu Grabenwarter/Pabel, MRK5 § 24 Rz 61 und 64) nicht zu vereinbaren (11 Os 44/09v als Ansatz einer Weiterentwicklung der zu 12 Os 122/72, EvBl 1973/49, 127, SSt 43/32 vertretenen Auffassung; Bachner‑Foregger, WK‑StPO § 56 Rz 1; siehe auch BGH 26. 10. 2000, 3 StR 6/00 = NJW 2001, 309 = BGHSt 46, 178; Meyer‑Ladewig, Kommentar zur EMRK³, Art 6 Rz 250; SK‑StPO/Frister § 187 GVG Rn 4; Wickern in Löwe‑Rosenberg, GK‑StPO26 § 184 GVG Rz 14 ff, va 17, § 187 GVG Rz 11; enger noch BGH 14. 07. 1981, 1 StR 815/80 = NJW 1982, 532 = BGHSt 30, 182 sowie Otte in Radtke/Hohmann, StPO § 184 GVG Rz 3).

Eine grundrechtskonforme Auslegung des § 56 Abs 1 StPO gebietet daher, einem unvertretenen, der Verfahrenssprache nicht hinreichend mächtigen Angeklagten nicht nur unmittelbar nach erhaltener Rechtsmittelbelehrung, sondern auch dann Übersetzungshilfe zu leisten, wenn er innerhalb der Frist zur Anmeldung einer Berufung gegen das Urteil eines Einzelrichters (§ 466 Abs 1 erster Satz, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO), das ihm zuvor im Beisein eines Dolmetschers verkündet wurde, einen nicht in der Verfahrenssprache gehaltenen Schriftsatz einbringt.

Erweist sich eine solche fremdsprachig abgefasste Eingabe nach Vorliegen der Übersetzung ihres Inhalts in die Gerichtssprache (Art 8 B‑VG; § 53 Abs 1 Geo) als ‑ im Übrigen keiner besonderen Form bedürftige (Ratz, WK‑StPO § 284 Rz 7) ‑ schriftliche (vgl § 84 Abs 2 StPO) Berufungsanmeldung, ist diese folglich fristgerecht eingebracht.

Die Zurückweisung der innerhalb von drei Tagen nach Urteilsverkündung angemeldeten Berufung als verspätet steht daher im Gegenstand mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Da die zu 1./, 2./ und 4./ aufgezeigten Gesetzesverletzungen geeignet sind, zum Nachteil der Verurteilten Natalia M***** zu wirken, war deren Feststellung in Ausübung des dem Obersten Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO zustehenden Ermessens mit konkreter Wirkung zu verknüpfen. Den von den beiden zu kassierenden Entscheidungen (Beschluss vom 6. und Urteil vom 8. September 2011) rechtslogisch abhängigen Entscheidungen und Verfügungen ist damit die Basis entzogen (RIS‑Justiz RS0100444; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 28).

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