Spruch:
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Beim Landesgericht für Strafsachen Wien ist zu AZ 123 Hv 79/06y ein Strafverfahren gegen Dr. Christian B*****, Mag. Stephan B*****, Dr. Ludwig B*****, Dr. Wilhelm M*****, Mag. Christian A*****, sowie weitere Angeklagte wegen Vergehen des Missbrauchs von Insiderinformationen nach § 48a Abs 1 und Abs 2 BörseG idF BGBl 1993/529 anhängig. Heinz M***** wurde laut VJ‑Register mittlerweile von den wider ihn in diesem Strafverfahren ebenfalls in Richtung des Missbrauchs von Insiderinformationen erhobenen Vorwürfen mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23. März 2012, GZ 123 Hv 79/06y‑287, freigesprochen.
Mit Beschluss vom 11. Oktober 2011, AZ 20 Bs 79/11f (= ON 231 der Hv‑Akten) kassierte das Oberlandesgericht Wien in Stattgebung der Beschwerden der Staatsanwaltschaft und der Finanzmarktaufsicht den (nur der Staatsanwaltschaft zugestellten ‑ ON 226 S 7) Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 14. Februar 2011, GZ 123 Hv 79/06y‑226, mit welchem das Strafverfahren gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO eingestellt worden war, und trug dem Erstgericht auf, in Ansehung der Angeklagten Dr. Christian B*****, Mag. Stephan B*****, Dr. Ludwig B*****, Dr. Wilhelm M*****, Mag. Christian A***** das Verfahren fortzusetzen und dem Angeklagten Heinz M***** ein neuerliches gesetzmäßiges Diversionsangebot gemäß § 203 Abs 3 iVm § 199 StPO zukommen zu lassen.
Zur Frage des Vorliegens der Diversionsvoraussetzungen führte das Beschwerdegericht Folgendes aus (BS 15 ‑ 19):
Die Anwendung des 11. Hauptstücks der StPO setzt gemäß § 198 StPO neben einem hinreichend geklärten Sachverhalt voraus, dass eine Bestrafung aus spezial‑ oder generalpräventiven Gründen nicht geboten erscheint und dass die Schuld des Angeklagten nicht als schwer anzusehen ist. Das Korrektiv einer schweren Schuld im Sinne dieser Gesetzesstelle orientiert sich an jenem Schuldbegriff, der in den §§ 32 f StGB als Grundlage für die Bemessung der Strafe dient, wobei stets nach Lage des konkreten Falles eine ganzheitliche Abwägung aller Unrechts‑ und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist. Erreichen Handlungs‑ und Erfolgsunrecht sowie der Gesinnungsunwert insgesamt ein Ausmaß, welches im Wege einer überprüfenden Gesamtbewertung als auffallend und ungewöhnlich zu beurteilen ist, liegt ein schweres Verschulden vor, wobei hiefür keineswegs ein Überwiegen der Erschwerungsumstände vorausgesetzt wird (vgl 14 Os 38, 39/02 mwN).
Unter diesen Prämissen verbietet sich in Ansehung der Angeklagten Dr. Christian B*****, Mag. Stephan B*****, Dr. Ludwig B*****, Dr. Karl Bü*****, Dr. Wilhelm M***** und Mag. Christian A***** die vom Erstgericht angedachte diversionelle Verfahrenserledigung.
Auszugehen ist davon, dass sich die genannten Angeklagten der aktuellen Aktenlage zufolge bedenkenlos dazu verstanden haben, ihr Insiderwissen mit dem zumindest bedingten Vorsatz, sich oder einem Dritten einen Vermögensvorteil zu verschaffen, wobei ein solcher letztlich auch in jeweils nicht unbeträchtlicher Höhe erlangt werden konnte, auszunützen bzw einem Dritten ‑ vorliegendenfalls jeweils einem nahen Angehörigen ‑ zugänglich zu machen.
Mag auch der Angeklagte Dr. Ludwig B***** für sich selbst keinen Vermögensvorteil lukriert haben und der Angeklagte Dr. Christian B***** vom Anklagefaktum I./A./1./ mangels Nachweises der subjektiven Tatseite rechtskräftig freigesprochen worden sein, darf jedoch nicht übersehen werden, dass ihnen (auch) die Bestimmung des Mag. Stephan B*****, der als unmittelbarer Täter unter Ausnützung seines Insiderwissens als Geschäftsführer der Brauerei E***** GmbH, deren Geschäftsführer er war, einen solchen in Höhe von über eine EUR 1 Mio erzielen konnte, vorgeworfen wird. Auch Dr. Karl Bü***** erzielte selbst keinen Vermögensvorteil, ermöglichte es aber, indem er sein Insiderwissen seiner Ehefrau und seiner Tochter zugänglich machte und diesen den Ankauf der inkriminierten Wertpapiere empfahl, dass diese durch ihre daraufhin vorgenommenen Wertpapiertransaktionen einen Gewinn von rund EUR 529.000,-- bzw EUR 612.000,-- lukrierten. Dr. Wilhelm M***** und Mag. Christian A***** wiederum verschafften sich aufgrund der Ausnützung ihres Insiderwissens nicht nur selbst einen Vermögensvorteil (laut Strafantrag rund EUR 114.000,-- bezüglich Dr. M***** und ca. EUR 65.000,-- bezüglich Mag. A*****), sondern konnten auch der Bruder von Dr. M***** und die Gattin von Mag. A***** infolge des ihnen jeweils von den beiden Angeklagten zugänglich gemachten Insiderwissens und deren Empfehlung, die inkriminierten Wertpapierankäufe durchzuführen, letztlich einen daraus resultierenden Gewinn von EUR 22.860,-- (betreffend Heinz Peter M*****) und rund EUR 112.000,-- (betreffend Mag. Irene A*****) erzielen.
Bei einer Gesamtbetrachtung dieses Verhaltens der genannten Angeklagten und den Auswirkungen desselben ist aber der Schuldgehalt ihrer Taten trotz des Umstands, dass diese bisher einen ordentlichen Lebenswandel geführt haben und die Taten schon längere Zeit zurückliegen, als schwer einzustufen, zumal die Argumentation des Erstgerichts, wonach eine Verwertung der inkriminierten Wertpapiere lediglich zur Sicherung des Einflusses der österreichischen Bierbrauchfamilien bei einer bevorstehenden ausländischen Übernahme, sohin aus durchaus achtenswerten Beweggründen erfolgt sei, nicht zu überzeugen vermag. Denn zum einen schließt der Wunsch der Stärkung der Familienposition innerhalb des Syndikats den erweiterten Eventualvorsatz auf (zusätzliche) Erlangung eines Vermögensvorteils nicht aus, zum anderen steht einer solchen ‑ vom Erstgericht angenommenen ‑ ausschließlichen Motivation der in Gang gesetzte Prozess der Mehrheitsabgabe und des Bieterverfahrens sowie der Umstand, dass für eine maßgebliche Veränderung der Kräfteverhältnisse im Syndikat die gegenständlichen Wertpapierkäufe und die nachfolgende Einbringung in die G***** nicht im Ansatz ausreichend gewesen wären (S 111 in ON 73/Band V), entgegen.
Im Übrigen sind die vom Erstgericht berechneten Nettobereicherungsbeträge bezüglich der „Familien“ B***** und Bü***** sowie betreffend Mag. Christian A*****, Dr. Wilhelm M***** und Ing. Paul Richard K*****, wobei anzumerken ist, dass eine „Sippenhaftung“ dem österreichischen Strafrecht fremd ist, mangels jeglicher diesbezüglicher näherer Erläuterungen in keiner Weise nachvollziehbar. Aus dem Diversionsanbot, wonach die Angeklagten aufgefordert wurden, auch eine Aufstellung ihrer bisher entstandenen Steuern und Kosten vorzulegen (ON 216), ist jedoch abzuleiten, dass das Erstgericht bei seiner Berechnung der Nettobereicherungsbeträge in Ansehung sämtlicher Angeklagten auch allfällige Steuern bezüglich der erzielten Gewinne sowie die jeweiligen Anwaltskosten mitberücksichtigt hat. Dies jedoch zu Unrecht.
Denn die von den Angeklagten zu entrichtende Einkommenssteuer aufgrund der erzielten Gewinne wurde nicht zur Erlangung der inkriminierten Vermögensvorteile aufgewendet, sondern stellt lediglich eine (steuerrechtliche) Folge ihres strafbaren Verhaltens dar. Auch durch das Strafverfahren entstandene Anwaltskosten sind nicht mitzuberücksichtigen, steht doch bei einer diversionellen Erledigung ein Anspruch auf einen Beitrag zu den Kosten der Verteidigung nicht zu (vgl Lendl in WK‑StPO § 393a Rz 3). Darüber hinaus stehen in Ansehung des Erst‑ bis Viert‑ sowie des Acht‑ und Zehntangeklagten fallbezogen einer diversionellen Maßnahme auch massiv generalpräventive Vorbehalte entgegen, würde eine derart milde Behandlung von Straftätern, die sich ‑ wenn auch in unterschiedlicher Ausformung ‑ dazu verstanden haben, ihr Insiderwissen dazu zu nutzen, sich oder einen Dritten einen Vermögensvorteil zu verschaffen, wobei vorliegendenfalls ein solcher letztlich tatsächlich auch in teils beträchtlicher Höhe eingetreten ist, zu einer Bagatellisierung derartig verpönter Straftaten führen und einen Anreiz für potentielle Täter in ähnlicher Lage bieten.
Rechtliche Beurteilung
Mit Bezug auf diese Entscheidung und das dazu geführte (Beschwerde‑)Verfahren behaupten die Angeklagten Dr. Christian B*****, Mag. Stephan B*****, Dr. Ludwig B*****, Dr. Wilhelm M*****, Heinz M***** sowie Mag. Christian A***** (1.) eine Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK durch Nichtgewährung einer Äußerungsmöglichkeit zu den Beschwerden der Staatsanwaltschaft und der Finanzmarktaufsicht gegen die Diversionsbeschlüsse des Erstgerichts sowie (2.) einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung in der Beschlussbegründung des Oberlandesgerichts (Art 6 Abs 2 MRK). Die Anträge schlagen fehl.
1. Zu Art 6 Abs 1 MRK:
Grundsätzlich ist die Möglichkeit der Erneuerung eines Strafverfahrens nach § 363a StPO aufgrund eines darauf gerichteten, nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Antrags nicht auf in rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergangene (End‑)Entscheidungen beschränkt. Subsidiarität in einem solchen Erneuerungsverfahren bedeutet demnach (bloß) Erschöpfung des Instanzenzugs in Ansehung der nach grundrechtlichen Maßstäben zu prüfenden (Einzel‑)Entscheidung. Solcherart können Fehlentwicklungen im noch anhängigen Strafverfahren aufgezeigt und die Grundrechtskonformität einzelner gerichtlicher Entscheidungen im Interesse einer einheitlichen, menschenrechtskonformen Standards entsprechenden Rechtsanwendung klargestellt werden (RIS‑Justiz RS0124739).
Können aber die unter dem Gesichtspunkt des Art 6 Abs 1 MRK behaupteten Verfahrensmängel (durch Unterlassung des rechtlichen Gehörs im ‑ gemäß § 209 Abs 2 StPO einseitig geführten ‑ Beschwerdeverfahren über die Gewährung diversioneller Maßnahmen) im weiteren Hauptverfahren iSd Art 13 MRK wirksam ausgeglichen werden, ist der Antrag unzulässig (RIS‑Justiz RS0126370; Ratz, ÖJZ 2010, 983 [984]), zumal es sich bei einem nicht auf eine Entscheidung des EGMR gestützten Erneuerungsantrag ‑ nicht anders als bei einer Beschwerde an diesen Gerichtshof ‑ um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt.
Dies ist hier der Fall, weil die ein diversionelles Vorgehen ablehnende Entscheidung des Oberlandesgerichts keinen endgültigen Charakter besitzt. Denn einem Angeklagten ist es unbenommen, im weiteren Hauptverfahren neue Argumente für das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 198 Abs 2 Z 2 StPO vorzubringen und die Sachlage dadurch zu verändern. Im Rechtsmittelverfahren kann er seinen Standpunkt selbst bei unverändert gebliebener Sachlage mit Diversionsrüge (hier: aus § 489 Abs 1 iVm § 281 Abs 1 Z 10a StPO) durchsetzen (Schroll, WK‑StPO § 209 Rz 12).
Da somit insgesamt dem Fairnessgebot des Art 6 Abs 1 MRK ausreichend Rechnung getragen wird (vgl auch Grabenwarter, WK‑StPO § 8 Rz 15, wonach die Diversion ein Instrument zugunsten des Beschuldigten bildet, dieser mithin durch ein alternativ fortgesetztes Strafverfahren keine Nachteile erleidet), ergeben sich ‑ selbst unter der Annahme partieller Anwendbarkeit des Art 6 MRK auf Diversionsentscheidungen (vgl aber Schroll, WK‑StPO § 209 Rz 12: „keine Entscheidung über die Stichhaltigkeit der Anklage“; in diese Richtung auch Grabenwarter/Pabel EMRK5 § 24 Rz 26 sowie Grabenwarter, WK‑StPO § 8 Rz 15) ‑ keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das einseitig ausgestaltete Beschwerdeverfahren nach § 209 Abs 2 letzter Satz StPO (vgl dazu EBRV 1581 BlgNR XX. GP 23, 30 zur Vorläuferbestimmung des § 90l StPO idF vor BGBl I 2004/19). Das Oberlandesgericht war daher ‑ den Beschwerdeausführungen zuwider ‑ nicht zur Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof nach Art 89 Abs 2 zweiter Satz B‑VG verpflichtet (vgl dazu 12 Os 57/11s).
Bleibt den darauf bezogenen Anregungen der Beschwerdeführer der Vollständigkeit halber zu erwidern, dass ein solches Vorgehen durch den Obersten Gerichtshof selbst, der § 209 Abs 2 letzter Satz StPO bei seiner gegenständlichen Entscheidung gar nicht anzuwenden hat, schon aufgrund fehlender Präjudizialität (Art 89 Abs 2 B‑VG) nicht in Betracht gekommen wäre (vgl Mayer, B‑VG4 Art 89 Anm II.1. ff).
2. Zu Art 6 Abs 2 MRK:
Zwar kommt eine Verletzung des Art 6 Abs 2 MRK grundsätzlich auch dann in Frage, wenn (bloß) in der Begründung einer (nicht verurteilenden) gerichtlichen Entscheidung Schuldannahmen entsprechend deutlich zum Ausdruck gebracht werden (SSt 51/8, dazu EGMR vom 26. März 1982, Nr 8269/78, Adolf gg Österreich und weiters vom 25. März 1983, Nr 8660/79, Minelli gg Schweiz). Entscheidend für die Beurteilung der relevierten Verletzung des Art 6 Abs 2 MRK ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR jedoch nicht die exakte Wortwahl, sondern der Sinngehalt der in Rede stehenden Formulierungen. So bewirkt die Verwendung „zweideutiger und wenig zufriedenstellender“ Ausdrücke per se noch keine Konventionsverletzung, wenn die Entscheidungsbegründung der Sache nach bloß eine Verdachtslage und keine Schuldfeststellung enthält (EGMR vom 25. August 1987, Nr 8/1986/106/154, Lutz gg Deutschland; ähnlich: jeweils vom gleichen Tag, Nr 9/1986/107/155, Englert gg Deutschland und Nr 10/1986/108/156 Nölkenbockhoff gg Deutschland), während umgekehrt auch eine vorsichtige Wortwahl allein die Einhaltung des Gebots der Unschuldsvermutung nicht sicherzustellen vermag (EGMR vom 25. März 1983, Nr 8660/79, Minelli gg Schweiz; zum Ganzen zuletzt 14 Os 25/09x).
Vorliegend ging das Oberlandesgericht im Rahmen der ‑ bei der Prüfung nach § 198 Abs 2 Z 2 iVm § 199 StPO gar nicht zu vermeidenden ‑ Bewertung des hypothetischen Schuldgehalts der den Angeklagten zur Last gelegten Straftaten (vgl Moos, SbgK § 4 Rz 140; zur grundsätzlichen Vereinbarkeit diversioneller Maßnahmen mit Art 6 Abs 2 MRK vgl Grabenwarter, WK‑StPO § 8 Rz 15) von der „aktuellen Aktenlage“ (BS 16) aus und gab bereits durch diese einleitende Bemerkung deutlich genug zu erkennen, keine abschließenden Feststellungen über die Schuld der Angeklagten zu treffen. Dieser Befund wird außerdem durch die weiteren Begründungspassagen im angefochtenen Beschluss erhärtet, in denen das Beschwerdegericht in Ansehung der Angeklagten Dr. Ludwig B*****, Dr. Christian B***** und Mag. Stephan B***** auf den ‑ nach rechtskräftigem Teilfreispruch ‑ verbliebenen Tatvorwurf (BS 16) und hinsichtlich Mag. Christian A***** auf erlangte Vermögensvorteile laut Strafantrag (BS 17) abstellt. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung (Art 6 Abs 2 MRK) ist daher nicht auszumachen.
Die Anträge auf Erneuerung waren daher schon bei der nichtöffentlichen Beratung gemäß § 363b Abs 1 und Abs 2 Z 3 StPO als offenbar unbegründet zurückzuweisen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)