OGH 7Ob208/11f

OGH7Ob208/11f30.11.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr.

Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verein für Konsumenteninformation, 1060 Wien, Linke Wienzeile 18, vertreten durch Brauneis Klauser Prändl Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch MUSEY rechtsanwalt gmbh in Salzburg, wegen 12.600 EUR (sA), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 30. Juni 2011, GZ 4 R 29/11f‑16, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 19. November 2010, GZ 15 Cg 42/10k‑12, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 838,44 EUR (darin enthalten 139,74 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

R***** B***** erlitt bei einem Unfall am 19. 12. 2007 eine Muskelverletzung, die eine Bewegungseinschränkung der linken Schulter zur Folge hatte. Er war bei der Beklagten unfallversichert. Dem Versicherungsvertrag wurden die „Klipp & Klar“ Bedingungen für die Unfallversicherung Fassung I/2005 (U 500) zugrundegelegt, deren hier maßgebliche Bestimmung lautet:

Taggeld ‑ Artikel 10 Taggeld bezahlen wir bei dauernder oder vorübergehender Invalidität. Die Leistung erfolgt für die Dauer der vollständigen Arbeitsunfähigkeit im Beruf oder in der Beschäftigung der versicherten Person für längstens 365 Tage innerhalb von 4 Jahren ab dem Unfalltag. [...]“

Die Beklagte hat den Unfall vom 19. 12. 2007 als Versicherungsfall der Invalidität anerkannt und R***** B***** (im Folgenden Versicherungsnehmer) für drei Monate, in denen er unstrittig vollständig arbeitsunfähig war, ein Taggeld von 5.758,90 EUR gezahlt. Der Versicherungsnehmer hat seine darüber hinausgehenden Ansprüche auf Versicherungsleistungen an den Kläger, ein in § 29 KSchG genannter Verein, zum Inkasso abgetreten.

Der Kläger begehrte von der Beklagten zuletzt (nach Klagseinschränkung) weiteres Taggeld für die Zeit vom 1. 12. 2008 bis 19. 4. 2009 in Höhe von 12.600 EUR. Die Wiener Gebietskrankenkasse habe dem Versicherungsnehmer eine vom 1. 9. 2008 bis 19. 4. 2009 andauernde Arbeitsunfähigkeit bestätigt. Der Begriff „Arbeitsunfähigkeit“ in der Taggeld‑Klausel könne von einem Versicherungsnehmer nicht anders verstanden werden wie im Bereich der ASVG‑Versicherung. Die Dauer der für den Taggeldanspruch maßgebenden Arbeitsunfähigkeit entspreche also der von der Krankenkasse bescheinigten Dauer. Einem Versicherungsnehmer stehe (schon) dann Taggeld zu, wenn er nicht imstande sei, seinen Beruf im vollen Ausmaß (zu 100 %) auszuüben.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung. Neben dem im Revisionsverfahren nicht mehr wesentlichen Einwand der mangelnden Fälligkeit der Klagsforderung wegen Fehlens einer Entscheidung der Ärztekommission machte sie geltend, die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit durch die gesetzliche Krankenversicherung sei nicht maßgebend. Taggeld sei nur bei einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit zu gewähren. Nach dem von ihr eingeholten Gutachten eines arbeitsmedizinischen Sachverständigen sei der Versicherungsnehmer nur drei Monate lang (vom 1. 9. bis 30. 11. 2008) vollständig arbeitsunfähig gewesen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Da die Beklagte auf die Anrufung der Ärztekommission nicht verzichtet habe, sei der geltend gemachte Anspruch nicht fällig.

Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts. Es teilte zwar dessen Rechtsansicht nicht; im Ergebnis sei die erstinstanzliche Entscheidung aber richtig. Der Kläger halte auch in der Berufung an seiner Rechtsmeinung betreffend die Auslegung des Begriffs der „vollständigen Arbeitsunfähigkeit“ in der Taggeld‑Klausel fest. Er behaupte nicht die Unrichtigkeit des von der Beklagten eingeholten Sachverständigengutachtens, wonach der Versicherungsnehmer nicht über den 30. 11. 2008 hinaus zu 100 % arbeitsunfähig gewesen und bis Mitte April 2009 nur mehr eine teilweise Arbeitsunfähigkeit vorgelegen sei. Dass der Versicherungsnehmer trotz teilweiser Arbeitsfähigkeit in keiner Weise zur Ausübung seines Berufs in der Lage gewesen wäre, behaupte der Kläger in der Berufung nicht. Soweit er einen sekundären Feststellungsmangel betreffend die Arbeitsunfähigkeit über November 2008 hinaus geltend mache, stelle er nur auf die Bestätigung der Wiener Gebietskrankenkasse ab. Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit sei nicht aus der gesetzlichen Sozialversicherung zu übernehmen. Nach dem Wortlaut des Art 10 der vereinbarten Bedingungen hänge die Versicherungsleistung des Taggelds ausdrücklich vom Vorliegen einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit ab. Den Nachweis einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit im fraglichen Zeitraum vom 1. 12. 2008 bis 1. 4. 2009 habe der Kläger durch die Krankenstandsbestätigung der Wiener Gebietskrankenkasse nicht erbracht. Im Ergebnis habe es daher bei der Klagsabweisung zu bleiben.

Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, da der Auslegung des Art 10 der „U 500“ über den Einzelfall hinausgehende, erhebliche Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zukomme und ‑ soweit überblickbar ‑ keine (österreichische) Rechtsprechung dazu vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen diesem, den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden, Ausspruch des Berufungsgerichts ist die vom Kläger erhobene Revision mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO gegeben sind, ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs maßgebend (RIS‑Justiz RS0112921; RS0112769). Wie der Revisionswerber selbst einräumt, liegt der vom Berufungsgericht angenommene Zulassungsgrund nicht mehr vor, weil der Oberste Gerichtshof mittlerweile in der Entscheidung 7 Ob 82/11a die Frage der Auslegung der betreffenden Taggeld‑Klausel beantwortet und die Ansicht des Klägers, der Begriff der Arbeitsunfähigkeit sei im Sinn der Definition nach dem ASVG zu interpretieren, ausdrücklich abgelehnt hat. Nach der genannten Entscheidung setzt das in der zu beurteilenden Klausel geregelte Leistungsversprechen eines Taggelds neben einem die (dauernde oder vorübergehende) Invalidität des Versicherten bewirkenden Unfall voraus, dass der Versicherte unfallskausal vollständig arbeitsunfähig ist. Wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, muss der Versicherte vollständig unfähig sein, irgendwelche Tätigkeiten seines beruflichen Aufgabenbereichs zu verrichten. Im Sinn der weiteren Erläuterungen des Obersten Gerichtshofs kommt es ‑ entgegen der vom Kläger in erster und zweiter Instanz vertretenen Ansicht ‑ nicht darauf an, ob der Versicherte in einem ihm möglichen, eingeschränkten Umfang tatsächlich gearbeitet hat oder ob ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ im Hinblick auf seine eingeschränkte Einsatzfähigkeit eine als unzumutbar angesehene und vom Arbeitgeber daher auch nicht geforderte teilweise Berufsausübung ganz unterblieb.

Der Revisionswerber widerspricht dem nicht (mehr), meint aber, dass sein Rechtsmittel dessen ungeachtet zulässig sei, weil das Berufungsgericht tragende Grundsätze des Verfahrensrechts verletzt habe. Auch habe es die Frage der Beweislastverteilung hinsichtlich des Vorliegens einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit falsch gelöst und die Rüge eines sekundären Feststellungsmangels mit einer Scheinbegründung abgetan.

Diese Vorwürfe sind unberechtigt. Der Revisionswerber zeigt damit keinen vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmenden Rechts- oder Verfahrensfehler und damit auch keinen tauglichen Grund für die Zulässigkeit seines Rechtsmittels auf:

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, der Kläger hätte zu behaupten (und zu beweisen) gehabt, dass der Versicherungsnehmer auch noch im Zeitraum vom 1. 12. 2008 bis 1. 4. 2009 vollständig arbeitsunfähig gewesen sei, folgt der ständigen Rechtsprechung, wonach der Versicherungsnehmer, der eine Versicherungsleistung beansprucht, die anspruchsbegründende Voraussetzung des Eintritts des Versicherungsfalls behaupten und beweisen muss (RIS‑Justiz RS0080003; RS0043563; RS0043438). Im vorliegenden Fall steht unstrittig fest, dass der Versicherungsnehmer einen ihn zumindest vorübergehend invalid machenden Unfall gehabt hat. Der Versicherungsfall der Invalidität mit Anspruch auf Taggeld setzt, wie bereits erwähnt, aber auch voraus, dass der Versicherte unfallskausal vollständig arbeitsunfähig war. Der Kläger hätte daher zu behaupten und zu beweisen gehabt, dass der Versicherungsnehmer im fraglichen Zeitraum nicht in der Lage war, irgendeine berufliche Tätigkeit zu verrichten. Nach Ansicht des Revisionswerbers wäre es an der Beklagten gelegen zu beweisen, dass es ab November (soll heißen Dezember) 2008 zu einer (teilweisen) Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und damit zum Entfall der Versicherungsleistung gekommen sei, da der Versicherungsnehmer unstrittig vom 1. 9. bis 30. 11. 2008 vollständig arbeitsunfähig gewesen sei. Dem wäre nur dann beizupflichten, wenn eine vollständige Arbeitsunfähigkeit erfahrungsgemäß in der Regel länger als drei Monate andauern würde. Da von einem solchen generellen Erfahrungswert nicht ausgegangen werden kann und dies der Kläger auch gar nicht behauptet hat, kann seiner Auffassung über die Beweispflicht nicht beigepflichtet werden. Entgegen seiner Meinung hat das Berufungsgericht demnach die Behauptungs‑ und Beweislastproblematik nicht verkannt.

Der Revisionswerber macht weiters geltend, dass der Versicherungsnehmer im fraglichen Zeitraum vollständig arbeitsunfähig gewesen sei, habe er schon in erster Instanz wiederholt behauptet und auch in der Berufung einen diesbezüglichen sekundären Feststellungsmangel gerügt. Zu Unrecht sei das Berufungsgericht daher davon ausgegangen, er habe sich ausschließlich darauf gestützt, dass der Versicherungsnehmer im fraglichen Zeitraum nur zum Teil arbeitsfähig gewesen sei.

Ob im Hinblick auf den Inhalt der Prozessbehauptungen eine bestimmte Tatsache als vorgebracht anzusehen ist, ist eine Frage des Einzelfalls, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung keine erhebliche Bedeutung zukommt (RIS‑Justiz RS0042828), es sei denn, dem Berufungsgericht wäre eine Fehlbeurteilung unterlaufen, die aus Gründen der Rechtssicherheit vom Obersten Gerichtshof korrigiert werden müsste. Davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein. Der Kläger hat dem Vorbringen der Beklagten, der Versicherungsnehmer sei über den 30. 11. 2008 hinaus nicht vollständig, sondern nur teilweise arbeitsunfähig gewesen, weshalb das Begehren auf weiteres Taggeld unberechtigt sei, nicht in tatsächlicher, sondern nur in rechtlicher Hinsicht widersprochen. Seine betreffenden Ausführungen in erster und in zweiter Instanz können nicht dahin verstanden werden, dass der Versicherungsnehmer auch über November 2008 hinaus vollständig arbeitsunfähig gewesen sei. Hätte der Kläger bereits im erst‑ und zweitinstanzlichen Verfahren vertreten, dass der Versicherungsnehmer auch im Zeitraum vom 1. 12. 2008 bis 1. 4. 2009 vollständig außer Stande gewesen sei, irgendwelche beruflichen Tätigkeiten zu verrichten, hätte kein Anlass bestanden, der zutreffenden Interpretation der Taggeld‑Klausel durch die Beklagte ‑ wiederholt und vehement ‑ zu widersprechen. Die Ansicht des Berufungsgerichts, das Vorbringen des Klägers in erster und zweiter Instanz habe nicht dahin verstanden werden können, der Versicherungsnehmer sei im fraglichen Zeitraum vollständig arbeitsunfähig gewesen; vielmehr sei eine (nur) teilweise Arbeitsunfähigkeit als vom Kläger zugestanden anzusehen; begegnet daher keinerlei Bedenken.

Davon ausgehend, dass der Kläger auch selbst keine vollständige, sondern nur eine teilweise Arbeitsunfähigkeit des Versicherungsnehmers im fraglichen Zeitraum angenommen hat, wurden vom Berufungsgericht entgegen dem betreffenden Vorwurf des Revisionswerbers nicht „neue Feststellungen ohne Verfahrensergänzung getroffen“. Auch die Rüge eines sekundären Feststellungsmangels wurde vom Berufungsgericht zutreffend dahin verstanden, dass der Kläger nicht das Fehlen einer Feststellung der vollständigen Arbeitsunfähigkeit des Versicherungsnehmers bemängelte, sondern von ihm ‑ auch wenn er dies nun nicht mehr wahrhaben will ‑ die Feststellung des Vorliegens einer lediglich teilweisen Arbeitsunfähigkeit vermisst wurde. Richtig hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass aus der vom Kläger vermissten Feststellung des unstrittigen Umstands einer teilweisen Arbeitsunfähigkeit für dessen Prozessstandpunkt nichts zu gewinnen sei.

Die vom Kläger erstmals in der Revision erhobene Behauptung, der Versicherungsnehmer sei auch vom 1. 12. 2008 bis 19. 4. 2009 unfallskausal vollständig arbeitsunfähig gewesen, verstößt gegen das Neuerungsverbot. Darauf kann daher nicht weiter eingegangen werden. In erster Instanz hat der Kläger seiner Behauptungspflicht nicht entsprochen und den ihm obliegenden Beweis, dass der Versicherungsnehmer im fraglichen Zeitraum vollständig arbeitsunfähig gewesen sei, gar nicht angetreten.

Da das Berufungsgericht die Rechtslage weder in materiell‑rechtlicher noch in verfahrensrechtlicher Hinsicht verkannt, sondern im Einklang mit oberstgerichtlicher Judikatur entschieden hat, sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht gegeben. Die Revision des Klägers ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO. Die Beklagte hat in der Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels ihres Prozessgegners hingewiesen.

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