OGH 10ObS96/11g

OGH10ObS96/11g4.10.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Irene Kienzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. KR Michaela Puhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*****, vertreten durch Friedl & Holler Rechtsanwalt-Partnerschaft in Gamlitz, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau, 1061 Wien, Linke Wienzeile 48-52, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Juli 2011, GZ 6 Rs 47/11w-25, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der Kläger ist seit 29 Jahren als Triebfahrzeugführer der Österreichischen Bundesbahnen tätig. Im Zuge dieser Tätigkeit erlebte er eine Reihe dramatischer Ereignisse und Unfälle, darunter mehrere vollendete Selbstmorde und Selbstmordversuche sowie Zusammenstöße mit Kraftfahrzeugen. Nach einem Selbstmord einer Frau im Jahr 2001, die sich in einem Bahnhof auf die Gleise gelegt hatte, befand sich der Kläger aufgrund des dabei erlittenen Traumas und der damit verbundenen posttraumatischen Belastungsstörung im Krankenstand; ebenso nachdem er 2004 und 2005 weitere Selbstmorde miterleben musste. Am 10. September 2009 kam es zu einem weiteren Vorfall. Der Kläger hatte mit einem Zug durch einen Bahnhof zu fahren ohne dort anzuhalten. Als er gerade dabei war, die Geschwindigkeit von 120 km/h auf 85 km/h zu reduzieren, stieg eine fünfköpfige Familie (zwei Erwachsene mit zwei Kleinkindern und einem Baby im Kinderwagen) aus einem in der Station stehenden Zug aus und begann, das vom Kläger befahrene Gleis zu überqueren. Der Kläger, der auf das Einhalten der reduzierten Geschwindigkeit konzentriert war, erblickte die Familie erst in einer Entfernung von fünf Metern und erschrak dermaßen, dass er in Erwartung einer Kollision keinerlei Handlungen oder unfallverhütende Maßnahmen wie die Betätigung der Betriebsbremse oder des Makrofons mehr setzen konnte. Die Familie schritt allerdings gerade noch rechtzeitig zurück und verließ die Gleise, sodass der Kläger die Fahrt kollisionsfrei fortsetzen konnte. Dieser Vorfall führte als Schlüsselreiz zur Aktualisierung der bei ihm bereits seit 2001 bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 30 %. Die posttraumatische Belastungsstörung äußert sich in immer wiederkehrenden Erinnerungen oder Albträumen im Zusammenhang mit den erlebten Unfällen und Ereignissen sowie Durchschlafstörungen. Es treten sogenannte Nachhallerlebnisse auf, wobei die Erinnerungen an die Unfälle und Ereignisse mit vegetativen Symptomen wie Schwitzen, Herzklopfen etc einhergehen. Der Kläger begann regelmäßig hochprozentigen Alkohol zu trinken und musste sich einer Entwöhnungskur unterziehen. Die psychische Beeinträchtigung in Form der Aktualisierung der posttraumatischen Belastungsstörung erreicht den Grad einer psychischen Beeinträchtigung mit Krankheitswert. Sie hätte nicht durch ein anderes alltägliches Ereignis herbeigeführt werden können. Ihre Ursachen liegen ausschließlich im beruflichen Bereich. Der Kläger ist nicht mehr nachtdiensttauglich (S 8 des Ersturteils) und kann forcierte Arbeiten nur mehr eingeschränkt durchführen. Seine Konzentration, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit ist beeinträchtigt. Er vermeidet in phobischer Weise Aktivitäten oder Situationen, die Erinnerungen an das Trauma bewirken. Bei konsequenter Behandlung und Betreuung ist mit einer Besserung des Zustands innerhalb von drei Jahren zu rechnen. Zur Führung eines Triebfahrzeugs wird der Kläger aber nie mehr in der Lage sein.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt und erkannte dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 10. September 2009 eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 30 % der Vollrente ab 11. September 2009 zu.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass es den Anspruch auf Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 10. September 2009 dem Grund nach im Ausmaß von 30 von 100 der Vollrente als zu Recht bestehend erkannte und der beklagten Partei auftrug, dem Kläger ab 11. September 2009 eine vorläufige Leistung von 200 EUR monatlich zu erbringen.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revision der beklagten Partei ist unzulässig.

1. Von einem „Unfall“ wird nach ständiger Rechtsprechung nur dann gesprochen, wenn die Gesundheitsschädigung durch ein plötzliches, dh zeitlich begrenztes Ereignis bewirkt wurde, wobei „plötzlich“ allerdings nicht Einmaligkeit heißen muss. Auch kurz aufeinander folgende Einwirkungen, die nur in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, sind noch als plötzlich anzusehen, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht oder eines sich auch auf mehrere Tage erstreckenden Dienstauftrags ereignet haben (RIS-Justiz RS0084348 [T3 und T4]). Der entscheidende Unterschied zu den sonstigen Krankheiten liegt in der zeitlichen Begrenztheit des Ereignisses. Der Unfall muss gegenüber anderen Gründen einer Gesundheitsstörung, zB der schicksalshaften Entwicklung eines Leidens, begrifflich abgegrenzt werden, da die Unfallversicherung grundsätzlich nur für die Folgen bestimmter Unfälle, nicht jedoch für Gesundheitsstörungen aus anderen Gründen leistungspflichtig ist. Nicht als Unfall gelten daher gesundheitliche Folgen von Dauereinwirkungen, die in der Unfallversicherung nur geschützt werden, wenn sie als Berufskrankheiten anerkannt sind. Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, stellen keinen Arbeitsunfall dar, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten. Die letzte körperliche oder seelische Belastung stellt dann nur das Endglied einer Kette von Ereignissen dar, die allmählich eingewirkt haben, ohne dass einem die Bedeutung eines Arbeitsunfalls beigemessen werden kann (RIS-Justiz RS0110322). Liegt das Ergebnis einer längeren krankheitsbedingten, möglicherweise auch berufsbedingten Entwicklung vor, kann nicht von einem Unfall gesprochen werden (RIS-Justiz RS0110323).

2. Für den Unfallbegriff nicht relevant ist, ob die Körperschädigung durch eine physische oder psychische Wirkung (zB einen Nervenschock) hervorgerufen wird (RIS-Justiz RS0110320). Auch ein psychisches Trauma kann ursächlich für einen Arbeitsunfall sein, wenn spezielle berufsbedingte Umstände beim Versicherten zB einen Schock, das heißt eine schlagartig auftretende schwere psychische Erschütterung bewirken (RIS-Justiz RS0110322). Es sind daher Schockzustände oder psychische Beeinträchtigungen, wie sie beispielsweise bei einem Lokführer von dem Miterleben eines Unfalls herrühren, einer körperlichen Schädigung gleichgestellt. Belanglos ist auch, ob die gesundheitsschädigenden Folgen sogleich oder erst später eintreten (RIS-Justiz RS0110320).

3. Von dieser Rechtsprechung weicht die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht ab. Wenn die Revisionswerberin vermeint, die MdE von 30 % sei auf die Summe aller beruflichen Ereignisse zurückzuführen und das letzte Ereignis allein habe nicht ausgereicht, um eine MdE in diesem Ausmaß hervorzurufen, entfernt sie sich von den - den Obersten Gerichtshof bindenden - Feststellungen der Vorinstanzen. Nach diesen war die Aktualisierung der beim Kläger bereits bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung die Folge des Vorfalls vom 10. September 2009; erst dieses Ereignis führte zu einer MdE im Ausmaß von 30 %. Insofern ist die Rechtsrüge daher nicht gesetzmäßig ausgeführt (RIS-Justiz RS0043312). Als Gesundheitsschädigung gilt auch die schnellere Entwicklung oder Verschlechterung einer schon früher vorhanden gewesenen krankhaften Veranlagung (10 ObS 89/08y, SSV-NF 22/46), hier die Aktualisierung der bereits beim Kläger vorbestehenden posttraumatischen Belastungsstörung. Für diese war der Vorfall vom 10. September 2009 wesentliche Ursache. Es liegt daher ein Arbeitsunfall iSd § 175 Abs 1 ASVG vor.

Da die beklagte Partei keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist ihr Rechtsmittel zurückzuweisen.

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