OGH 13Os36/11k (13Os37/11g)

OGH13Os36/11k (13Os37/11g)12.5.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. Mai 2011 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Resch als Schriftführerin in der Strafsache gegen Marija W***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 15. April 2010, GZ 19 Hv 32/09k-38, und einen anderen Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache AZ 19 Hv 32/09k des Landesgerichts Klagenfurt verletzen das Gesetz

1. der Beschluss dieses Gerichts vom 15. April 2010, GZ 19 Hv 32/09k-38, in den Bestimmungen der §§ 285a, 294 Abs 3 und Abs 4 StPO;

2. der Vorgang, dass die Gebühren des Sachverständigen Dr. Wolfgang R***** bestimmt wurden, ohne der Angeklagten Gelegenheit zur Äußerung zum Gebührenantrag zu geben, in der Bestimmung des § 39 Abs 1a GebAG.

Text

Gründe:

Marija W***** wurde mit Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Schöffengericht vom 28. September 2009, GZ 19 Hv 32/09k-34, je einer Mehrzahl von Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB sowie von Vergehen der Blutschande nach § 211 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Unmittelbar nach Urteilsverkündung meldete die Angeklagte Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an (ON 33 S 10). Außerdem brachte der Verfahrenshilfeverteidiger Rechtsanwalt Dr. Günther F***** (ON 1 S 7, ON 12) am 30. September 2009 einen Schriftsatz ein, der auf der ersten Seite mit „I. Berufungsanmeldung“ und „Erhebung der Nichtigkeitsbeschwerde“ sowie „II. Verfahrenshilfeantrag“ bezeichnet war und in dem er mitteilte, die Angeklagte „wende“ das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und die Berufung wegen der Schuld und der Strafe „an das OLG Graz“ und stelle außerdem den Antrag auf Gewährung der Verfahrenshilfe zur Ausführung der angemeldeten Rechtsmittel (ON 35).

Am 3. Dezember 2009 wurden Rechtsanwalt Dr. Günther F***** eine Abschrift des Protokolls der Hauptverhandlung und eine Urteilsausfertigung zugestellt (Zustellnachweis ON 34 S 2).

Am 30. Dezember 2009 langte beim Erstgericht ein - nicht unterfertigter - „Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe“ samt Vermögensbekenntnis betreffend die Angeklagte ein (ZPOForm 1; ON 36). Dieser wurde mit Beschluss vom 5. Jänner 2010 bewilligt, verbunden mit der Verfügung „VH2 an RAK (samt Note: VHV Dr. F***** bisher im als Vtdg tätig)“ (ON 1 S 13), obwohl nach § 61 Abs 4 StPO schon die - hier am 19. März 2009 beschlossene (ON 1 S 7) - Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers für das gesamte weitere Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss gilt, wenn das Gericht nicht im Einzelnen etwas anderes anordnet.

Am 8. April 2010 brachte Dr. F***** als Verfahrenshilfeverteidiger der Marija W***** beim Landesgericht Klagenfurt eine Ausführung der Berufung „wegen Schuld und Strafe“ gegen das Urteil vom 28. September 2009 ein (ON 37).

Der Vorsitzende wies die Berufung mit Beschluss vom 15. April 2010 unter Heranziehung des § 285a Z 2 StPO zurück, weil die Frist zur Ausführung des angemeldeten Rechtsmittels bereits mit 4. Jänner 2010 abgelaufen sei (ON 38). Dieser Beschluss blieb unangefochten.

In der Endverfügung ordnete der Vorsitzende am 12. Mai 2010, ausgehend von Urteilsrechtskraft seit 10. Mai 2010, den Vollzug der Freiheitsstrafe an (ON 39).

Aufgrund eines Antrags der Marija W***** auf Aufschub des Strafvollzugs wegen angegriffenen Gesundheitszustands bestellte der Vorsitzende Dr. Wolfgang R***** zum Sachverständigen (ON 40, 41). Die von diesem mit Honorarnote vom 26. August 2010 verzeichnete Gebühr (ON 43) bestimmte der Vorsitzende, ohne der Angeklagten Gelegenheit zur Äußerung zum Gebührenantrag zu geben. Der Beschluss wurde ihr bisher nicht zugestellt (ON 45).

Rechtliche Beurteilung

Der Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 15. April 2010, GZ 19 Hv 32/09k-38, und der Vorgang der Gebührenbestimmung stehen, wie die Generalprokuratur in der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, mit dem Gesetz nicht im Einklang.

1. Zur Zurückweisung einer Berufung fehlt dem Erstgericht die Kompetenz (§§ 285a, 294 Abs 3 und Abs 4, 296 Abs 2 StPO). Der Beschluss ist insoweit wirkungslos, sodass es mit der Feststellung der Gesetzesverletzung sein Bewenden hat (Ratz, WK-StPO § 285b Rz 6, § 292 Rz 45; jüngst 13 Os 144/10s mwN).

Anzumerken bleibt, dass nach dem Inhalt des Beschlusses die weiters angemeldete, aber nicht ausgeführte Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten - rechtskräftig - zurückgewiesen wurde (vgl RIS-Justiz RS0106264).

Über die Berufung wird das Oberlandesgericht Graz zu entscheiden haben (RIS-Justiz RS0100545).

2. Seitens des Erstgerichts blieb unbeachtet, dass nach § 39 Abs 1a GebAG in Strafsachen jenen Personen, gegen die sich das Verfahren richtet, Gelegenheit zur Äußerung zum Gebührenantrag zu geben ist.

Die Feststellung dieser Gesetzesverletzung mit konkreter Wirkung zu verbinden war schon angesichts der noch ausständigen Zustellung des Beschlusses über die Gebühren des Sachverständigen an den Verteidiger (ON 45; § 40 Abs 1 Z 2 GebAG) nicht erforderlich.

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