Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichts wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung nach allfällig zu ergänzender Verhandlung aufgetragen.
Die Revisionskosten sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.
Text
Begründung
Am 6. September 2004 wurde der damals 53-jährige Kläger bei Ausübung seines Berufs als Zimmerer bei Schalungsarbeiten durch einen Nagel am linken Auge getroffen. Er erlitt eine perforierende Hornhautverletzung, die zu einer Erblindung des linken Auges führte. Es bestehen Narben nach Hornhautnähten, unfallbedingt ist das Auge chronische entzündet und daher sensibler gegenüber Staub, starker Hitze und extremer Kälte. Bei Arbeiten unter großer Hitze und extremer Kälte zeigt sich eine verstärkte Rötung mit Tränenfluss. Der Glaskörper weist eine zarte schlierige sowie punktförmige Trübung auf; der Augapfel steht etwa 18° nach außen. Für die weitere Zukunft ist eine Zunahme des Nach-Außen-Schielens wahrscheinlich.
Mit Bescheid vom 22. November 2005 erkannte die Beklagte dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls ab 1. August 2005 eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 30 % der Vollrente zu. Mit Bescheid vom 8. August 2006 gewährte sie dem Kläger ab 1. Oktober 2006 eine Dauerrente von 30 % der Vollrente anstelle der vorläufigen Versehrtenrente.
Der Kläger erhob gegen beide Bescheide Klagen und begehrte eine (vorläufige) Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % der Vollrente in der gesetzlichen Höhe.
Nach Verbindung der beiden Verfahren verpflichtete das Erstgericht im ersten Rechtsgang die Beklagte zur Zahlung einer 30%igen Versehrtenrente als Dauerrente im gesetzlichen Ausmaß ab 1. August 2005 unter Anrechnung der bisher gewährten Leistungen und wies das Mehrbegehren auf Zuerkennung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % ab.
Das Berufungsgericht gab der vom Kläger dagegen erhobenen Berufung Folge, hob das erstinstanzliche Urteil auf und verwies die Sache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zur Behebung von Verfahrensmängeln durch Einholung weiterer Gutachten zwecks Abklärung der vom Kläger behaupteten unfallskausalen neurologischen und psychiatrischen Beschwerden zurück. Zu der Augenverletzung führte das Berufungsgericht aus, dass dazu veröffentlichte Rententabellen vorhanden seien. Es stelle eine Tatsachen- und keine Rechtsfrage dar, ob zusätzlich zu der sich aus dem Verlust eines Auges ergebenden 25 bis 30%igen MdE weitere 5 % an MdE für die aus der Entstellung infolge des Nach-Außen-Schielens erfolgenden Nachteile am Arbeitsmarkt in Anschlag zu bringen seien. Das Erstgericht werde im fortgesetzten Verfahren mit dem augenfachärztlichen Sachverständigen eine mündliche Gutachtenserörterung durchzuführen haben, in welcher der Sachverständige seine offenbar von den allgemeinen Rententabellen abweichende Ansicht zu erläutern haben werde, aus welchen Gründen aus der vorliegenden Verletzung eine 35%ige MdE resultiere. Ein „besonderer Härtefall“ liege nicht vor.
Im zweiten Verfahrensgang sprach das Erstgericht die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 1. August 2005 eine Versehrtenrente in Höhe von 35 % der Vollrente als Dauerrente in der gesetzlichen Höhe unter Anrechnung der bisher gewährten Leistungen zu gewähren und wies das Mehrbegehren auf Zuerkennung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % ab. Das Erstgericht stellte aufgrund des augenfachärztlichen, des neurologischen und des psychiatrischen Gutachtens zur medizinischen MdE folgenden weiteren Sachverhalt fest:
„Aus der Erblindung des linken Auges und aus dessen weiterhin gegebenen chronischem Reizzustand resultiert eine seit 1. August 2005 vorgelegene Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von 30 %. Aus der ständigen Schielstellung des linken Augapfels nach links außen ergibt sich zusätzlich eine MdE am allgemeinen Arbeitsmarkt im Ausmaß von 5 %. Eine Unfallskausalität der vom Kläger angegebenen psychiatrischen und neurologischen Beschwerden war nicht nachweisbar. Aus neurologischer und psychiatrischer Sicht resultiert aus dem Unfall keine Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.“
Das Erstgericht führte unter Bezugnahme auf das augenärztliche Sachverständigengutachten aus, für den Verlust eines Auges werde üblicherweise eine Entschädigung von 25-30 % gewährt. Im konkreten Fall sei schon aufgrund des zusätzlichen chronischen Reizzustands eine Orientierung an der oberen Bandbreite angebracht, sodass von einer MdE von 30 % auszugehen sei. Die MdE bei einer Entstellung sei danach zu bewerten, inwieweit die mit der Erblindung einhergehende äußerliche Veränderung des Auges eine Entstellung bewirke, welche zu einer Erschwerung der Arbeitsmöglichkeiten und des Fortkommens führe. Eine Erschwerung sei dadurch gegeben, dass der Verletzte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit mit gesunden Personen in Wettbewerb treten müsse. Da der Kläger in Folge der Hornhautnähte, des Hornhauttransplantats und des Nach-Außen-Schielens entstellt sei, sei er im Vergleich zu gesunden Personen am Arbeitsmarkt in der Wahrnehmung von Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt. Bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt läge eine zusätzliche MdE in Höhe von 5 % vor, sodass eine Versehrtenrente von 35 % der Vollrente zuzuerkennen sei. Ein besonderer Härtefall liege nicht vor.
Das Berufungsgericht gab der gegen diese Entscheidung gerichteten Berufung der Beklagten Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahingehend ab, dass es dem Kläger eine Versehrtenrente im Ausmaß von 30 % ab 1. August 2005 zusprach und das auf Zuerkennung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % der Vollrente gerichtete Mehrbegehren abwies. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass ein besonderer Härtefall nicht vorliege. Nach der deutschen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit8, 293) betrage die MdE bei einseitiger Erblindung 25 %; 30 % nur dann, wenn sowohl Komplikationen als auch eine zumindest wahrscheinliche Beeinträchtigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorlägen. Komplikationen in diesem Sinn stellten etwa chronische Eiterungen dar, eine Gesichtsentstellung sowie die Unverträglichkeit, eine Prothese zu tragen. Der Kläger sei evidentermaßen durch die Entstellung im Vergleich zu gesunden Personen auf dem Arbeitsmarkt in seinen Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt. Da diese Entstellung jedoch eine Komplikation der Erblindung sei und nach dem Schrifttum und den einschlägigen Richtlinien bereits bei der MdE für die Erblindung mitberücksichtigt sei, sei lediglich von einer MdE an der oberen Grenze von 30 % auszugehen. Die vom augenfachärztlichen Sachverständigen vorgenommene Einschätzung der medizinischen MdE mit einem zusätzlichem Wert von 5 % sei im Hinblick auf das aktuelle Schrifttum nicht nachvollziehbar.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil eine eindeutige höchstgerichtliche Judikatur zu der Frage fehle, ob das Berufungsgericht in Wahrnehmung seiner Pflicht zur Überprüfung der ärztlichen Einschätzung der MdE allein aus rechtlichen Erwägungen eine im erstinstanzlichen Urteil festgestellte medizinische MdE im Rahmen der Beurteilung der rechtlichen MdE korrigieren dürfe oder ob eine derartige Korrektur eine Neufeststellung der medizinischen MdE nach Beweiswiederholung voraussetze.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die ordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung.
Die beklagte Partei beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Der Revisionswerber macht ausschließlich den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und bringt zusammengefasst vor, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sei die aus der Entstellung resultierende 5%ige (medizinische) MdE zusätzlich zu berücksichtigen. Die medizinische MdE sei regelmäßig die Grundlage für die rechtliche Enschätzung der MdE; nur in Ausnahmefällen könnte ein Abweichen geboten sein. Ein solcher Ausnahmefall sei nicht gegeben. Das Berufungsgericht hätte von der Feststellung, aus der Entstellung ergebe sich eine weitere 5%ige MdE, nur nach Vornahme einer Beweiswiederholung (durch Ergänzung des Sachverständigengutachtens) abgehen dürfen. Die dennoch vom Berufungsgericht vorgenommene „Korrektur“ sei deshalb jedenfalls rechtswidrig.
Dazu ist auszuführen:
1. Unter dem Begriff der Erwerbsfähigkeit iSd § 203 ASVG ist die Fähigkeit zu verstehen, sich im Erwerbsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbstständige oder unselbstständige Arbeit zu verschaffen (RIS-Justiz RS0084243 [T2]). Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist deshalb grundsätzlich abstrakt nach dem Umfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen (RIS-Justiz RS0088972).
2. Grundlage zur Annahme der MdE ist regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen oder die Folgen der Berufskrankheit und deren Auswirkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dem medizinischen Gutachter kommt somit neben der Beschreibung der gesundheitlichen Folgen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit auch die (schwierige) Aufgabe zu, einzuschätzen, wie sich die Unfallfolgen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auswirken (Tomandl, SV-System 8. Erg-Lfg 334 f). Maßgebliche Grundlagen der ärztlichen Begutachtung bilden dabei die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und -medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze bzw Richtlinien über die Bewertung der MdE bei Unfallverletzten. Diese Richtlinien nehmen nicht nur auf die fortschreitende medizinische Entwicklung Bedacht, sondern auch auf die Verhältnisse auf dem Gebiet des allgemeinen Arbeitsmarktes (RIS-Justiz RS0088964; RS0088972 [T14]), sodass den veränderten Anforderungen des Arbeitsmarkts an Arbeitnehmer Rechnung getragen wird. Auf diese Weise berücksichtigt die medizinische Einschätzung, die sich dieser Richtlinien bedient, auch die Auswirkung einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
3. Die Frage, inwieweit die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten aus medizinischer Sicht, also allein aufgrund der durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit bedingten Leiden, gemindert ist, gehört zum Tatsachenbereich (10 ObS 265/92 = SSV-NF 6/130). Bei der im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung vom Erstgericht wiedergegebenen Einschätzung der durch den Arbeitsunfall des Klägers bedingten (medizinischen) Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund der Gutachten der medizinischen Sachverständigen mit insgesamt 35 vH handelt es sich daher nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats um eine Tatsachenfeststellung, deren Richtigkeit vom Berufungsgericht im Rahmen einer diesbezüglichen Tatsachen- und Beweisrüge zu überprüfen ist (vgl 10 ObS 6/09v = SSV-NF 23/13; 10 ObS 208/02i mwN uva).
4. Allen Tabellen und sonstigen Grundsätzen zur Beurteilung der MdE ist gemeinsam, dass die angegebenen Werte dem medizinischen Sachverständigen lediglich Anhaltspunkte für die erste summarische Schätzung der individuellen MdE bieten sollen; sie entheben ihn nicht von der nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls vorzunehmenden Bewertung der unfallbedingten MdE (Lauterbach, Unfallversicherung VII4, § 56 Rz 28). Da der Sachverständige einen individuellen Fall zu beurteilen hat, darf er sich nicht sklavisch an solche nur generell gehaltene Richtlinien gebunden erachten, können diese doch nicht alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, sondern stellen immer nur ein Hilfsmittel im Sinn einer zusätzlichen Entscheidungsgrundlage dar (10 ObS 19/89 = SSV-NF 3/19).
Wie sich aus der Aktenlage ergibt, bezog sich im vorliegenden Fall der augenfachärztliche Sachverständige auf ein ihm 2009 von der Beklagten übermitteltes Schreiben vom 1. Juli 1980, „Beurteilung der MdE durch Schäden des Sehvermögens“ (Beilage ./I). In diesem ist bei Erblindung eines Auges ohne äußerlich in Erscheinung tretende Veränderungen eine MdE von 30 % genannt; bei ins Gewicht fallenden Komplikationen oder kosmetischen Entstellungen, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben können, wie Störungen der Beweglichkeit von Lidern und Auge, entstellende Narbenbildung und Defekte am Augapfel selbst ist eine Erhöhung der MdE auf 35 % vorgesehen.
5. Ausnahmsweise bedarf es zur Einschätzung des Grades der MdE der Heranziehung eines „dreistufigen Verfahrens“, wenn die Auswirkungen einer Berufskrankheit (bzw eines Arbeitsunfalls) auf die Einsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht offenkundig sind (10 ObS 122/00i = SSV-NF 14/57; 10 ObS 26/04b = SSV-NF 19/26). Dabei sind zunächst die Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Berufskrankheit (bzw den Arbeitsunfall) festzustellen, weiters der Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens und schließlich der Grad der MdE. Das dreistufige Verfahren ist aber nur in Ausnahmefällen dann notwendig, wenn mangels eines schon durch längere Zeit erprobten Bewertungsschemas eine Nachprüfbarkeit der medizinischen Einschätzung in Bezug auf die Auswirkungen der konkret bei einem Versehrten gegebenen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht gewährleistet wäre. Es dient dazu, die Grundlagen für die Einschätzung der MdE zu schaffen.
Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht das Erfordernis eines dreistufigen Verfahrens schon in seinem Aufhebungsbeschluss nach dem ersten Rechtsgang verneint und darauf hingewiesen, dass für Augenverletzungen veröffentlichte Rententabellen vorhanden seien (etwa die MdE Tabelle in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit8, 293 oder Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung12 144 [in denen jeweils auch auf mit dem Verlust des Sehvermögens einhergehende äußere Verletzungen am Auge und daraus sich ergebende Entstellungen eingegangen wird]; siehe auch die in der Publikation des Verbands der deutschen Rentenversicherungsträger, Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung6, 459 ff veröffentlichten Richtlinien).
6. Die medizinische MdE ist im Allgemeinen zugleich die Grundlage für die rechtliche Einschätzung der MdE (stRsp seit 9 ObS 23/87 = SSV-NF 1/64; 10 ObS 78/93 = SSV-NF 7/52 uva). Die ärztliche Einschätzung bildet freilich nicht die alleinige Basis der gerichtlichen Entscheidung. Dem Gericht bleibt die Aufgabe, aufgrund des Befunds, der Beurteilung und der Antworten auf die an den medizinischen Sachverständigen gestellten Fragen nach dem Ausmaß der MdE nachzuprüfen, ob dessen Schätzung zutreffen kann oder ob dabei wichtige Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden und ein Abweichen von der ärztlichen Schätzung zur Vermeidung unbilliger Härten geboten ist (RIS-Justiz RS0043587; näher etwa Mosler, Die Verweisung im Recht der Unfallversicherung, in Tomandl [Hrsg], Die Verweisung im Sozialrecht [2002] 27 [37 ff]; kritisch zu der die medizinische Beurteilung in den Vordergrund rückenden Judikatur etwa Wachter, Die Berücksichtigung von Vorschädigungen bei der Bemessung von Versehrtenrenten, DRdA 1992, 8 ff [10 ff] und Ackerl, Was heißt 'Erwerbsfähigkeit'? DRdA 1989, 85 [90 ff]). So werden die Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile ausnahmsweise dann bejaht, wenn unter Wahrung des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde. Nur in diesen Fällen kommt ein Abweichen von der medizinischen MdE in Frage (10 ObS 208/02i, 10 ObS 15/98y = SSV-NF 12/14 ua). Dass ein besonderer „Härtefall“ im Sinne der Judikatur vorliegt, wurde bereits von den Vorinstanzen übereinstimmend verneint; dagegen wendet sich der Kläger in seiner Revisionsschrift nicht mehr.
7. Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht demnach nicht vor die Aufgabe gestellt, die - eine rechtliche Beurteilung darstellende - Frage zu lösen, ob in einem „besonderen Härtefall“ von der festgestellten medizinischen Einschätzung abzuweichen ist. Vielmehr hat es eine Beweiswürdigung vorzunehmen, ob es jene Feststellungen des Erstgerichts übernimmt, denen die vom Sachverständigen vorgenommene Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zugrunde liegt, oder ob es von diesen Feststellungen abgeht. Dabei sollen die Aussagen des medizinischen Sachverständigen über bestehende Funktionseinschränkungen und Behinderungen die Begründung für die Beurteilung bilden, wie weit die Erwerbsfähigkeit durch die Folgen eines Unfalls oder einer Berufskrankheit gemindert ist. Sie sollen diese Beurteilung für das Gericht nachvollziehbar machen, um eine entsprechende Würdigung des Sachverständigengutachtens zu ermöglichen. Im Revisionsverfahren ist die Feststellung, in welchem Ausmaß beim Kläger aus medizinischer Sicht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit gegeben ist, nicht mehr überprüfbar (10 ObS 15/98y = SSV-NF 12/14; 10 ObS 19/89 = SSV-NF 3/19).
8. Hat das Erstgericht die Feststellung getroffen, die medizinische MdE betrage 35 %, hätte das Berufungsgericht demnach nicht ohne Beweiswiederholung von dieser Feststellung abgehen und die medizinische MdE mit nur 30 % feststellen dürfen. Infolge Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes liegt darin ein dem Berufungsgericht unterlaufener Verfahrensmangel (RIS-Justiz RS0043057).
Dass der Revisionswerber sein Vorbringen, das Abweichen von den Feststellungen des Erstgerichts sei rechtswidrig, dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung zugeordnet hat, ist nicht maßgeblich, weil die unrichtige Bezeichnung des Rechtsmittelgrundes nicht schadet (RIS-Justiz RS0041851).
Aus diesen Gründen erweist sich die Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts als unumgänglich.
Der Kostenvorbehalt beruht auf den §§ 50, 52 Abs 1 ZPO.
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