Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Text
B e g r ü n d u n g :
Der Kläger nahm an einem Schulschikurs in St. Johann im Pongau teil. In der Nacht vom 5. auf den 6. 3. 2000 fiel er gegen 2:15 Uhr aus der oberen Etage eines Stockbetts. Dabei schlug er sich den mittleren linken Oberkieferschneidezahn zur Gänze aus; der mittlere rechte Oberkieferschneidezahn brach ab. Eine Lehrerin nahm wegen Behandlungsmaßnahmen telefonisch Kontakt mit dem Landeskrankenhaus Salzburg auf, wurde mit der dort untergebrachten Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie verbunden und erhielt von der diensthabenden Turnusärztin die - unzutreffende - Auskunft, man müsse in diesem Fall - Komplettverlust eines Zahns, teilweiser Abbruch eines weiteren Zahns - keine akute Behandlung durchführen. Im Hinblick auf diese Auskunft wurde kein Versuch zur Wiedereinsetzung (Replantation) des ausgeschlagenen Zahns unternommen. Im Fall einer lege artis erteilten Auskunft hätte man der Lehrkraft geraten, den ausgeschlagenen Zahn sicherzustellen und den Patienten im Landeskrankenhaus Salzburg (als zur Behandlung solcher Verletzungen geeignetem nächstgelegenem Krankenhaus) einer ärztlichen Untersuchung zuzuführen. Unter den gegebenen örtlichen Verhältnissen (Anreise vom Unfallort nach Salzburg) wäre der Versuch einer Replantation des ausgeschlagenen Zahns zwar nicht innerhalb der ersten Stunde nach dem Unfall, wohl aber innerhalb von etwa zwei Stunden möglich gewesen. Es ist im Nachhinein nicht feststellbar, ob diese Maßnahme zum Erfolg geführt hätte. Wieder eingesetzte Zähne oder durch den Sturz geschädigte Nachbarzähne hätten auch bei völlig korrekter Behandlung denselben Ereignisverlauf erleben können wie aufgrund der nicht erfolgten Behandlung. Die Erfolgsrate einer Replantation hängt in erster Linie von ihrem Zeitpunkt ab: Innerhalb einer halben Stunde ist die Chance für ein Anwachsen des Zahns sehr hoch, weil der Abbau der Zahnwurzel (Resorption) noch sehr gering ist. Innerhalb eines 30-minütigen Zeitintervalls zwischen Zahnverlust und Wiedereinbau kommt es bei etwa 30 % der Zähne zu einem Substanzverlust im Wurzelbereich. Beträgt dieser Zeitraum mehr als eine Stunde, erreicht die Resorptionsrate bereits 50 %, bei mehr als zwei Stunden etwa 95 %. Ein Substanzverlust im Wurzelbereich bewirkt, dass der Zahn, auch wenn er wieder anwächst, im Laufe der Zeit dennoch entfernt werden muss; dieser Zeitraum kann günstigstenfalls etwa zehn Jahre, in besonders günstigen Fällen auch 15 oder 20 Jahre betragen, ungünstigstenfalls nur etwa zwei bis drei Jahre. Neben dem Zeitfaktor spielt für die Erfolgsaussichten einer Replantation auch der Zustand des verlorenen Zahns und des Gewebes, in das er wieder eingesetzt werden muss, eine wesentliche Rolle. Wenn Knochenbrüche vorliegen oder Entzündungen gegeben sind, ist die Erfolgschance geringer.
Der Kläger macht Leistungs- und Feststellungsansprüche gegen seinen Rechtsvertreter mit dem Vorbringen geltend, der Beklagte habe die Arzthaftungsansprüche des Klägers aus Anlass des Sturzes aus dem Stockbett vom 6. 3. 2000 und der daran anschließenden telefonischen medizinischen Fehlbehandlung insbesondere gegen den Krankenhausträger verjähren lassen, ohne ein Feststellungsurteil oder eine Haftungsanerkenntniserklärung zu erwirken.
Das Berufungsgericht hat das Klagebegehren abgewiesen, den Entscheidungsgegenstand mit mehr als 5.000 EUR, jedoch weniger als 30.000 EUR bewertet und auf Antrag des Klägers gemäß § 508 Abs 1 ZPO ausgesprochen, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil die Möglichkeit einer Schadensteilung im Fall einer Verursachungskonkurrenz von schuldhaftem Verhalten und in die Sphäre des Geschädigten fallendem Umstand bzw Zufall nicht bedacht worden sei. Eine Haftung des Beklagten setze voraus, dass tatsächlich Arzthaftungsansprüche bestanden hätten, die sich (bei rechtzeitigem Handeln) durchsetzen hätten lassen. Dazu müsse die unrichtige Telefonauskunft einen Schaden verursacht haben, was wiederum voraussetze, dass eine Replantation des ausgeschlagenen Zahns, die im Falle eines richtigen ärztlichen Ratschlags versucht werden hätte können, möglich gewesen und erfolgreich verlaufen wäre. Es sei aber nach den Feststellungen im Nachhinein nicht feststellbar, ob eine Replantation des ausgeschlagenen Zahns zu einem Erfolg geführt hätte, und es hätte derselbe Ereignisverlauf (endgültiger Verlust von Zahn 21 mit der Folge eines Kieferknochenabbaus und der Notwendigkeit eines zunächst provisorischen und später dauerhaften Zahnersatzes) auch bei Auskunft und Behandlung lege artis eintreten können. Unbekannt geblieben sei, ob der Zustand des ausgeschlagenen Zahns und des umgebenden Zahngewebes überhaupt eine Replantation zugelassen hätte. Hingegen stehe fest, dass ein (nachhaltiger) Behandlungserfolg fraglich sei, weil die Chancen auf einen erfolgreichen Ausgang einer Zahnreplantation nach mehr als einer Stunde signifikant abnähmen. Der geschädigte Kläger habe zwar das Vorliegen eines ärztlichen Beratungsfehlers, nicht aber dessen Ursächlichkeit für den geltend gemachten Schaden bewiesen. Selbst wenn man an den Kausalitätsbeweis wegen seiner Schwierigkeit geringere Anforderungen stelle und keine (sehr) hohe Wahrscheinlichkeit verlange und einen Anscheinsbeweis für ausreichend erachte, sei doch zumindest eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit zu verlangen, die hier mangels stichhältiger und plausibler Anhaltspunkte für das Gelingen einer Replantation nicht gegeben sei. Vor allem der besonders wichtige Zeitfaktor spreche gegen eine überwiegende Erfolgschance. Damit sei einer Haftung des Beklagten von vornherein jede Grundlage entzogen und das Klagebegehren unbegründet.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist unzulässig. Entgegen dem - den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) - Ausspruch des Berufungsgerichts hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab.
1.1. Erfolgt die (behauptete) Schädigung durch ein Unterlassen, so ist Kausalität dann anzunehmen, wenn die Vornahme einer bestimmten aktiven Handlung das Eintreten des Erfolgs verhindert hätte (RIS-Justiz RS0022913; zuletzt etwa 4 Ob 71/10k mwN). Es muss daher versucht werden, den hypothetischen Ablauf bei Vermeiden der Unterlassung durch Setzen des gebotenen Verhaltens herauszufinden. Das gebotene Verhalten ist hinzuzudenken. Die Anforderungen an den Beweis des bloß hypothetischen Kausalverlaufs sind geringer als die Anforderungen an den Nachweis der Verursachung bei einer Schadenszufügung durch positives Tun. Denn die Frage, wie sich die Geschehnisse entwickelt hätten, wenn der Schädiger pflichtgemäß gehandelt hätte, lässt sich naturgemäß nie mit letzter Sicherheit beantworten, weil dieses Geschehen eben nicht stattgefunden hat (RIS-Justiz RS0022900 [T14]; 4 Ob 71/10k).
1.2. Für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers und seine Kausalität in Bezug auf den eingetretenen Schaden ist der Patient beweispflichtig, wobei hier wegen der besonderen Schwierigkeiten eines exakten Beweises an den Kausalitätsbeweis geringere Anforderungen zu stellen sind, zumal ein festgestellter schuldhafter Behandlungsfehler auf einen nachteiligen Kausalverlauf geradezu hinweist. Aus diesem Grund wird in diesem Fall der Anscheinsbeweis als ausreichend angesehen (RIS-Justiz RS0038222), der darauf beruht, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (RIS-Justiz RS0040266). Es genügt, dass „überwiegende Gründe“ für die Verursachung des Schadens sprechen (RIS-Justiz RS0022782; 7 Ob 255/07m).
1.3. Steht - wie hier - fest, dass ein Behandlungsfehler (dem die Erteilung einer unrichtigen ärztlichen Auskunft über die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung als potentiell schädigendes Verhalten durchaus gleich zu halten ist) vorliegt, genügt für den dem Kläger obliegenden Beweis der Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden der Nachweis, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den Fehler der Ärzte nicht bloß unwesentlich erhöht wurde. Dem Beklagten obliegt in diesem Fall der volle Beweis, dass die erwiesene Vertragsverletzung im konkreten Fall für die nachteiligen Folgen mit größter Wahrscheinlichkeit unwesentlich geblieben ist (RIS-Justiz RS0026768 [T6]; 8 Ob 103/09v).
2.1. Das Berufungsgericht ist von diesen Grundsätzen höchstgerichtlicher Rechtsprechung nicht abgewichen und hat aus zutreffenden rechtlichen Erwägungen in nach den konkreten Umständen des Einzelfalls vertretbarer Weise die Kausalität zwischen dem ärztlichen Beratungsfehler und einem Schaden des Klägers verneint.
2.2. Der Rechtsmittelwerber macht als erhebliche Rechtsfrage das Verkennen einer Haftungskonkurrenz zwischen ärztlichem Fehlverhalten und einer in die Sphäre des Patienten fallenden weiteren Schadensursache (hier in Form der Zeitspanne zwischen Zahnverlust und ärztlicher Behandlung) geltend und begehrt „aufgrund der Haftung nach Wahrscheinlichkeitsquoten“ den Zuspruch mindestens der Hälfte des Klagebegehrens. Von dieser Frage hängt die Entscheidung jedoch nicht ab.
2.3. Eine Schadensteilung zwischen mehreren schadensbegründenden Umständen „nach Wahrscheinlichkeitsquoten“ ist dem österreichischen Schadenersatzrecht fremd.
2.4. Möglicherweise steht dem Kläger bei seiner Argumentation das Zusammentreffen eines haftbar machenden Ereignisses mit einem vom Geschädigten zu vertretenden Zufall vor Augen. Diese Konstellation führt nach Teilen des Schrifttums zu einer Haftung des neben einem Zufall alternativ kausalen Schädigers, wenn dieser durch einen erheblichen Kausalitätsverdacht und grobes Verschulden belastet wird; der starke Kausalitätsverdacht bildet zusammen mit dem schweren Verschulden einen gewichtigen Haftungsgrund. Entsprechend dem Grundgedanken des § 1304 ABGB hat es nach dieser Ansicht zu einer Schadensteilung zwischen dem verantwortlichen Täter und dem Geschädigten zu kommen (4 Ob 75/08w mwN).
2.5. Eine Schadensteilung nach diesen Grundsätzen setzt aber eine Konkurrenz zwischen Zufall einerseits und Handlungen oder Unterlassungen eines Schädigers andererseits, die für sich als voller Haftungsgrund geeignet sind, als Schadensursache voraus, wobei nicht feststellbar sein darf, auf welche der beiden Ursachen der Schaden zurückzuführen ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im Anlassfall schon deshalb, weil auf Tatsachenebene nicht feststeht, dass die unrichtige Telefonauskunft (die zur Unterlassung sofortiger ärztlicher Behandlung geführt hat) konkret gefährlich für den eingetretenen Schaden des Klägers war.
2.6. Soweit der Revisionswerber unterstellt, er hätte bei Annahme der besten Bedingungen in weniger als einer Stunde behandelt werden können, weicht er von den Tatsachenfeststellungen ab und führt die Rechtsrüge insoweit nicht gesetzmäßig aus (Kodek in Rechberger, ZPO³ § 471 Rz 9; RIS-Justiz RS0043312 mwN).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 40 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO. Der Beklagte hat in seiner Revisionsbeantwortung nicht auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen, weshalb sein Schriftsatz nicht der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung diente.
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