Spruch:
Helmut E***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Text
Gründe:
Helmut E*****, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der B***** (nachfolgend B***** AG), wurde mit - zufolge erhobener Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung - nicht rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 4. Juli 2008, GZ 122 Hv 31/07h-1933, der Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB (Schaden zum Nachteil der B***** über 1,7 Mrd Euro) und des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB (Schaden zum Nachteil der B***** über 6,8 Mio Euro) sowie mehrerer Vergehen nach § 255 Abs 1 Z 1 AktienG und nach § 41 Abs 1 Z 1 PSG schuldig erkannt und unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB sowie unter Anrechnung der Übergabehaft (14. September 2006 bis 4. Oktober 2006) und der Vorhaft (13. Februar 2007 bis 4. Juli 2008) zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von neuneinhalb Jahren verurteilt.
Eine über den Genannten mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 21. Mai 2008, GZ 122 Hv 34/07z-42 (auf das im zuvor bezeichneten Verfahren gemäß § 31 StGB Bedacht zu nehmen sein wird) wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB verhängte zweieinhalbjährige Freiheitsstrafe ist durch Anrechnung der im gegenständlichen Strafverfahren in Übergabe- und Vorhaft zugebrachten Zeit vom 14. September 2006 bis 4. Oktober 2006 und vom 13. Februar 2007 bis 23. Juli 2009 bereits verbüßt (vgl ON 2260 und 2263).
Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 10. Juni 2010, GZ 122 Hv 31/07h-2321, wurde die über Helmut E***** am 14. Februar 2007 verhängte und wiederholt fortgesetzte Untersuchungshaft wegen Fortbestehens des Haftgrundes der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO fortgesetzt.
Einer dagegen erhobenen Beschwerde des Genannten gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 31. August 2010, AZ 19 Bs 197/10z (ON 2349), nicht Folge und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft aus dem vom Erstgericht angenommenen Haftgrund an.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde, die in Betreff des Haftgrundes fehlenden Fluchtanreiz zufolge des Gesundheitszustands des Angeklagten moniert, die Substituierbarkeit des Haftgrundes durch gelindere Mittel und angesichts der „maximalen Strafdrohung von zehn Jahren“, „wobei auf das Strafausmaß im Verfahren AZ 122 Hv 34/07z vom 25. August 2009 rechtskräftig seit 1. Dezember 2009 im Ausmaß von zweieinhalb Jahren gemäß §§ 31, 40 StGB Bedacht zu nehmen ist“, Unverhältnismäßigkeit der Haft behauptet sowie ferner eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§ 9 StPO) und in diesem Zusammenhang den Milderungsgrund des § 34 Abs 2 StGB sowie das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 43 Abs 1 StGB reklamiert, ist nicht berechtigt.
Im Grundrechtsbeschwerdeverfahren kann die rechtliche Annahme von Fluchtgefahr als eine der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren vom Obersten Gerichtshof nur dahin überprüft werden, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen (§ 174 Abs 3 Z 4 StPO; worunter das Gesetz die deutliche Bezeichnung der den Ausspruch über das Vorliegen entscheidender Tatsachen - hier einer hohen Wahrscheinlichkeit von Flucht - tragenden Gründe versteht) abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste (RIS-Justiz RS0118185, RS0117806). Denn § 173 Abs 2 StPO verlangt nur, dass die herangezogenen Haftgründe auf bestimmten Tatsachen beruhen, kennt als Vergleichsbasis des Willkürverbots mithin nur die in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen, weshalb auch eine bei dieser Prognose unterbliebene Erwähnung einzelner aus Sicht des Beschwerdeführers erörterungsbedürftiger Umstände nicht als Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden kann (RIS-Justiz RS0117806). Bestimmte Tatsachen können äußere und innere Umstände (wie Charaktereigenschaften und Wesenszüge) sein, die sich aus dem aktuellen Einzelfall ergeben müssen und nicht bloß allgemeine Erfahrungstatsachen darstellen dürfen (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 173 Rz 28; RIS-Justiz RS0117806).
Der vom Oberlandesgericht in seiner (demnach allein den Bezugspunkt der Grundrechtsbeschwerde bildenden; Ratz, Zur Bedeutung von Nichtigkeitsgründen im Grundrechtsbeschwerdeverfahren, ÖJZ 2005, 415 ff [416]) Entscheidung - methodisch einwandfrei (RIS-Justiz RS0115236) durch identifizierende Wiederholung von Erwägungen früherer Beschwerdeentscheidungen - ins Treffen geführte gewichtige Umstand (vgl Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 173 Rz 33) der Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe (vgl das gesetzliche Indiz der Z 1 des § 173 Abs 2 StPO: „wegen Art und Ausmaß der ihm voraussichtlich bevorstehenden Strafe“) im Zusammenhalt mit den unter anderem weiters angeführten Tatsachen, dass der Angeklagte, der einen Bezug zum Ausland hat, im Verfahrensverlauf bereits Anstrengungen unternommen hat, sich dem von ihm nicht akzeptierten Strafverfahren und dem Zugriff österreichischer Strafverfolgungsbehörden zu entziehen, und, dass ferner die Annahme eines (für eine Flucht mit Gründung einer neuen Existenz an sicherem Ort sowie die Finanzierung des Unterhalts ausreichenden) Fluchtfonds in Anbetracht der vom Angeklagten erzielten beträchtlichen Einkünfte (BS 25) und unter Berücksichtigung eines Berichts des Bundeskriminalamts vom 24. Juli 2007 (wonach die Auswertung geöffneter Konten „für den Zeitraum Mitte 1995 bis dato ungeklärte Zahlungsflüsse in beträchtlicher Höhe, viele Scheckabhebungen, Überweisungen an unbekannte Begünstigte sowie den Verkauf bzw die Ausbuchung von Wertpapieren ergab und das Wertpapierdepot auf null gestellt ist“), gerechtfertigt ist, lassen einen willkürfreien Schluss auf Fluchtgefahr zu.
Frühere Versuche, sich der Strafverfolgung zu entziehen, konnten auch nun in die Erwägungen einbezogen werden, weil die vom Oberlandesgericht thematisierte Sicherung der Strafvollstreckung (BS 35) gleichwertiger Zweck der Untersuchungshaft ist (Kirchbacher, Das neue Haftrecht, ÖJZ 2008/30, 268; Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vor §§ 170 bis 189 Rz 8).
Weiters sah das Oberlandesgericht den „besonders hohen Fluchtanreiz“ des Angeklagten - denklogisch einwandfrei - im voraussichtlichen „Verlust seiner bekannten Vermögenswerte“ durch drohende (im unmittelbaren Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verurteilung stehende) zivilrechtliche Verfolgung begründet (BS 31).
Soweit der Beschwerdeführer seine „mögliche Vollzugsuntauglichkeit“ moniert, hat das Oberlandesgericht mit Recht darauf verwiesen, dass eine solche nicht Gegenstand der Prüfung im Rahmen der Untersuchungshaft (14 Os 121/00, 14 Os 85/98) ist.
Unter Bezugnahme auf das Gutachten des medizinischen Sachverständigen vom 14. August 2010 - das entgegen der weiteren Beschwerdebehauptung den Patientenbrief des Wilhelminen-Spitals vom 28. Juli 2010 berücksichtigt hat - hat sich das Oberlandesgericht ferner damit auseinandergesetzt, dass der Beschwerdeführer wegen einer generellen Polymorbidität, seines schlechten Allgemeinzustands, seiner extrem reduzierten Leistungsfähigkeit und eines neu aufgetretenen, möglicherweise einer baldigen operativen Sanierung bedürftigen Wirbelsäulenproblems nur sehr eingeschränkt fluchtfähig ist. Ebenso hat es aber auch die Schlussfolgerungen des Sachverständigen mit einbezogen, wonach eine „hochgradige Gefährdung durch bösartige Kammerarrhythmien sowie eine solche durch das derzeit augenscheinlich sehr gut kontrollierte Vorhofflimmern ebenso wenig zu erkennen“ ist „wie ein körperlicher Verfall durch den Stress der U-Haft“ (BS 33; ON 2342, S 133).
Die „begrenzte Fluchttauglichkeit“ hat das Oberlandesgericht willkürfrei durch die weiterhin bestehende Möglichkeit, entsprechende organisatorische Maßnahmen unter Mithilfe außenstehender Personen zu ergreifen, relativiert. Dieser Annahme steht auch nicht entgegen, dass eine solche Mithilfe dritter Personen für diese mit allfälligen strafrechtlichen Konsequenzen (§ 299 StGB) verbunden wäre.
Das Oberlandesgericht hat weiters ausgeführt, weshalb eine Kaution oder Sicherheitsleistung nach § 180 Abs 1 StPO von dritter Seite auch in Verbindung mit weiteren gelinderen Mitteln (§ 173 Abs 5 StPO) ungeeignet ist, den Haftzweck zu erreichen. Dabei hat es sich auf die aus den mutmaßlichen Malversationen erhellende massiv gegen Treu und Glauben gerichtete Einstellung des Angeklagten und darauf bezogen, dass „dessen naheliegende Skrupellosigkeit und Unverfrorenheit“ in der Verfolgung eigener Interessen durch bestimmte Umstände indiziert ist. Auch die Beurteilung, wonach eine Hinterlegung des Reisepasses der Ehefrau des Angeklagten sowie seine „Überwachung im Wege eines peilbaren Mobiltelefons“ eine Flucht nur erschwere, sie aber nicht verhindern könnte, ist nicht unlogisch. Unberücksichtigt gebliebene (aktenmäßig belegte) Tatumstände werden in der Beschwerde im Übrigen nicht deutlich und bestimmt bezeichnet (vgl Ratz, Zur Bedeutung von Nichtigkeitsgründen im Grundrechtsbeschwerdeverfahren, ÖJZ 2005, 415 ff [419]).
Unverhältnismäßigkeit der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts etwas mehr als dreieinhalb Jahre dauernden und im Ausmaß von zweieinhalb Jahren im Verfahren GZ 122 Hv 34/07z-52 des Landesgerichts für Strafsachen Wien angerechneten Haft ist angesichts der Höhe der in erster Instanz verhängten Freiheitsstrafe nicht gegeben. Eine allfällige Aussicht auf bedingte Strafnachsicht ist für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit bedeutungslos (RIS-Justiz RS0123343, RS0061308).
Die Reklamation eines Verstoßes gegen Art 3 MRK hat das Oberlandesgericht zutreffend unter Hinweis auf die Rechtsansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach bei Gefahren für die Gesundheit von Gefangenen in Strafanstalten die notwendige medizinische Betreuung gewährleistet sein muss, andernfalls eine Verlegung in ein Krankenhaus zu erfolgen hat (Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar3 Art 3 RN 15), erledigt.
Soweit die Beschwerde eine Verletzung des Beschleunigungsgebots im Übrigen ohne konkreten Vorwurf von Säumigkeit iSd §§ 9, 177 Abs 1 StPO, sondern bloß unter Hinweis auf eine Dauer des Verfahrens von „weit mehr als vier Jahren“ behauptet, scheitert sie am Unterlassen einer entsprechenden Bekämpfung in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Beschluss und daher an der Erschöpfung des Instanzenzugs (RIS-Justiz RS0114487).
Helmut E***** wurde demnach im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb die Grundrechtsbeschwerde in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur (erneut; vgl zuletzt 14 Os 69/09t vom 23. Juni 2009) ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen war.
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