Spruch:
Die Beschlüsse des Landesgerichts St. Pölten vom 1. Juli 2008, GZ 15 BE 168/08s-5, und vom 31. Juli 2008, GZ 15 BE 224/08a-6, verletzen § 16 Abs 1 erster Satz, Abs 2 Z 12 StVG iVm § 46 StGB und § 265 Abs 1 StPO.
Der Beschluss vom 31. Juli 2008, GZ 15 BE 224/08a-6, wird aufgehoben.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Schöffengericht vom 8. Mai 2008, GZ 9 Hv 32/08a-125, wurde der ungarische Staatsangehörige Ödön O***** des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch im Rahmen einer kriminellen Vereinigung nach §§ 127, 129 Z 1, 130 zweiter und vierter Fall StGB schuldig erkannt und hiefür zu 15 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Während der Angeklagte auf Rechtsmittel verzichtete, meldete die Staatsanwaltschaft fristgerecht Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe an und führte diese aus.
Eine Anordnung des Strafvollzugs (§ 3 Abs 1 StVG) erfolgte nach der Aktenlage nicht, zumal auch keine Erklärung des Angeklagten vorlag, die Strafe einstweilen antreten zu wollen (§ 294 Abs 1 zweiter Satz StPO). Ungeachtet dessen übermittelte die Justizanstalt St. Pölten dem Erstgericht am 9. Mai 2008 einen „Strafantrittsbericht“ (S 7 in ON 128) und legte mit Schreiben vom 14. Mai 2008 dem Landesgericht St. Pölten als Vollzugsgericht zu AZ 15 BE 168/08s Vollzugsunterlagen zur Entscheidung über die bedingte Entlassung des nicht rechtskräftig Verurteilten O***** gemäß § 46 StGB iVm § 152 Abs 1 Z 1 StVG vor, wobei sowohl im Merkblatt über die bedingte Entlassung eines Strafgefangenen (S 5 in ON 2) als auch in der Vollzugsinformation (S 7 in ON 2) das Fehlen der Urteilsrechtskraft vermerkt war. Trotz Hinweises der Staatsanwaltschaft in der Äußerung vom 4. Juni 2008 auf die der Urteilsrechtskraft entgegenstehende Berufung fasste das Landesgericht St. Pölten als Vollzugsgericht am 1. Juli 2008 den Beschluss auf Ablehnung der bedingten Entlassung des „Strafgefangenen“ O***** gemäß § 46 Abs 1 StGB iVm § 152 Abs 1 Z 1 StVG (ON 5). Der Beschluss blieb unangefochten.
Die Justizanstalt St. Pölten übermittelte mit Schreiben vom 10. Juli 2008 dem Landesgericht St. Pölten als Vollzugsgericht zu AZ 15 BE 224/08a neuerlich Vollzugsunterlagen zur Entscheidung über die bedingte Entlassung O*****s gemäß § 46 StGB iVm § 152 Abs 1 Z 2 StVG (ON 2). Sowohl im Merkblatt für die bedingte Entlassung eines Strafgefangenen (S 5 in ON 2) als auch in der Vollzugsinformation (S 7 in ON 2) war wiederum die Anmerkung „Urteil nicht rechtskräftig“ enthalten. Mit unangefochtenem Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Vollzugsgericht vom 31. Juli 2008, GZ 15 BE 224/08a-6, wurde O***** nach Verbüßung von zehn Monaten der zu AZ 9 Hv 32/08a des Landesgerichts St. Pölten (noch nicht rechtskräftig) verhängten Freiheitsstrafe von 15 Monaten der Strafrest im Ausmaß von fünf Monaten gemäß § 46 Abs 2 StGB unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen und seine bedingte Entlassung für den 28. September 2008 angeordnet.
Nach telefonischem Hinweis der Justizanstalt St. Pölten auf das Fehlen der Urteilsrechtskraft vermerkte der Vorsitzende des Drei-Richter-Senats am 21. August 2008, dass „§ 265 StPO analog auch auf nicht rechtskräftige Strafen anwendbar sei“ (ON 9).
Mit Beschluss vom 6. August 2008, GZ 16 HR 236/08g-9, ordnete das Landesgericht St. Pölten wegen des vom Städtischen Gericht Veszprem/Ungarn erlassenen Europäischen Haftbefehls vom 28. Mai 2008, GZ 1.B.153/2008/12 (ON 5), gemäß § 20 Abs 2 EU-JZG die vereinfachte Übergabe O*****s zur Strafverfolgung nach Ungarn an, schob die Übergabe jedoch gemäß § 25 Abs 1 Z 6 EU-JZG bis zum Ende des Strafvollzugs der mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten zu AZ 9 Hv 32/08a verhängten Freiheitsstrafe, demnach bis zum 28. September 2008 auf. Mit Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 26. September 2008 wurde über O***** gemäß § 18 EU-JZG iVm § 29 Abs 1 ARHG und § 173 Abs 2 Z 1 StPO die Übergabehaft verhängt und deren Vollzug bis zur bedingten Entlassung des Genannten am 28. September 2008 gehemmt (ON 19).
Das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht erhöhte mit Urteil vom 26. September 2008, AZ 21 Bs 305/08v (ON 162 in 9 Hv 32/08a des Landesgerichts St. Pölten) die über O***** verhängte Freiheitsstrafe auf zweieinhalb Jahre.
Mit am 13. Oktober 2008 abgefertigter Verfügung vom 8. Oktober 2008 ordnete der Vorsitzende des Schöffensenats den Vollzug der Freiheitsstrafe an (ON 163/Pkt 5).
Aufgrund des Übergabebriefs vom 6. Oktober 2008 wurde O***** jedoch am 10. Oktober 2008 beim Grenzübergang Nickelsdorf den ungarischen Behörden übergeben.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen die Beschlüsse des Landesgerichts St. Pölten als Vollzugsgericht vom 1. Juli 2008 und vom 31. Juli 2008 mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Gemäß § 16 Abs 2 Z 12 StVG entscheidet das Vollzugsgericht ua über die bedingte Entlassung (aus einer Freiheitsstrafe) und die damit zusammenhängenden Anordnungen (§§ 46, 48 bis 53 und 56 des Strafgesetzbuches). Vollzugsgericht ist nach § 16 Abs 1 erster Satz StVG das in Strafsachen tätige Landesgericht, in dessen Sprengel die Freiheitsstrafe vollzogen wird. Die Zuständigkeit des Vollzugsgerichts beginnt nicht mit der Anordnung des Strafvollzugs, sondern erst mit dem tatsächlichen Strafantritt (vgl Drexler, StVG § 16 Rz 1; SSt 41/29; RIS-Justiz RS0087254). Der Strafhaft hat wiederum die Anordnung des Vollzugs gemäß § 3 Abs 1 StVG vorauszugehen (vgl Drexler, aaO § 3 Rz 1).
§ 265 Abs 1 erster Satz StPO überträgt die an sich dem Vollzugsgericht betreffend bereits in Vollzug gesetzter Freiheitsstrafen zustehende Befugnis zur bedingten Entlassung dem erkennenden Gericht, wenn die zeitlichen Voraussetzungen sowie die übrigen (materiellen) Bedingungen des § 46 StGB schon im Urteilszeitpunkt vorliegen. Ziel dieser Regelung ist es, durch entsprechende Verfügung des erkennenden Gerichts den - sinnlosen - Umweg zu vermeiden, dass der Verurteilte die Strafe nur deshalb antreten muss, um sogleich vom Vollzugsgericht bedingt entlassen zu werden (vgl Lewisch, WK-StPO § 265 Rz 2; RIS-Justiz RS0116527). Der - idR gemeinsam mit dem Urteil gefasste - Beschluss entfaltet Wirksamkeit nur für den Fall der Rechtskraft des Urteils; bei Anfechtung ist der Beschluss gegenstandslos (Lewisch, WK-StPO § 265 Rz 5; RIS-Justiz RS0116527). Treten die Voraussetzungen einer bedingten Entlassung erst nach dem Urteil erster Instanz - aber noch vor dem Strafantritt - ein, so verbleibt die Zuständigkeit zur Entscheidung über die bedingte Entlassung beim erkennenden Gericht (RIS-Justiz RS0116527). § 265 Abs 1 zweiter Satz StPO statuiert die Kompetenz des Rechtsmittelgerichts für die bedingte Entlassung, wenn die dort genannten Voraussetzungen im Zeitpunkt der - verfahrensbeendenden - Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerde oder die Berufung vorliegen (vgl Jerabek in WK2 § 46 Rz 26 aE).
§ 265 Abs 1 StPO ist nach seiner Konzeption eine Ausnahmeregelung (vgl dazu JAB 1257 BlgNR XIII. GP , 8), derzufolge dem erkennenden Gericht die Entscheidung über die bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 46 StGB nur für den Zeitraum ab Urteilsfällung bis zum Beginn des Strafvollzugs bzw dem Rechtsmittelgericht im Zeitpunkt seiner verfahrensbeendenden Entscheidung zukommen soll. Mit dem Vollzug der rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe, also ab dem tatsächlichen Strafantritt, hat gemäß §§ 16 Abs 1 erster Satz, Abs 2 Z 12 StVG ausschließlich das Vollzugsgericht über die bedingte Entlassung nach § 46 StGB zu entscheiden.
Angesichts dieser klaren und überschneidungsfreien Kompetenzabgrenzung zwischen erkennendem Gericht bzw Rechtsmittelgericht nach § 265 Abs 1 StPO und Vollzugsgericht nach § 16 Abs 2 Z 12 StVG besteht - entgegen der vom Vorsitzenden des Drei-Richter-Senats im Vermerk vom 21. August 2008 vertretenen Ansicht (ON 9 in 15 BE 224/08a des Landesgerichts St. Pölten) - für eine analoge Anwendung des § 265 Abs 1 StPO durch das Vollzugsgericht mangels Vorliegens einer planwidrigen Lücke keine gesetzliche Grundlage. Demnach hat das Landesgericht St. Pölten als Vollzugsgericht bei den Entscheidungen vom 1. Juli 2008 und 31. Juli 2008 über die bedingte Entlassung des damals noch gar nicht im Strafvollzug Befindlichen jeweils eine ihm nicht zustehende Kompetenz in Anspruch genommen und damit gegen § 16 Abs 1 und Abs 2 Z 12 StVG iVm §§ 46 StGB und 265 Abs 1 StPO verstoßen. Diese Gesetzesverletzungen waren festzustellen.
Für ein Vorgehen nach § 292 letzter Satz StPO bestand kein Anlass, weil die Gesetzesverletzungen dem Verurteilten nicht zum Nachteil gereichten (vgl RIS-Justiz RS0053573). Denn auf Basis der mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 26. September 2008 verhängten Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren waren die zeitlichen Voraussetzungen für seine bedingte Entlassung nach § 46 Abs 1 bzw Abs 2 StGB im Zeitpunkt der Beschlüsse noch nicht gegeben.
Der zuletzt bezeichnete Beschluss des - unzuständigen - Vollzugsgerichts auf bedingte Entlassung O*****s nach Verbüßung eines Teils von zehn Monaten der (lediglich) in erster Instanz verhängten Strafe entfaltet freilich - entgegen der von der Generalprokuratur vertretenen Ansicht - keine Rechtswirkungen zu dessen Gunsten mehr, war seine Wirksamkeit doch mit der Rechtskraft der erstinstanzlichen Sanktion „bedingt“ und ist ihm durch die danach im Rechtsmittelweg erfolgte Sanktionserhöhung die Grundlage entzogen (vgl Lewisch, WK-StPO § 265 Rz 5; RIS-Justiz RS0116527 [T2]).
Der somit wirkungslose verfehlte Beschluss vom 31. Juli 2008 war zur Klarstellung zu beseitigen (vgl 14 Os 8/02; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 45).
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