Spruch:
In der Strafsache gegen Bernd H***** wegen § 153c Abs 1 und 2 StGB, AZ 12 Hv 29/09x des Landesgerichts für Strafsachen Graz, verletzen
1. die Beschlussfassung über den Antrag auf Wiederaufnahme, ohne dem Freigesprochenen vorher Gelegenheit zur Gegenäußerung zu geben, § 357 Abs 2 StPO;
2. der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 29. Mai 2009 in der Unterlassung der Begründung und der Rechtsmittelbelehrung § 86 Abs 1 StPO;
3. die Unterlassung der Ausfertigung und Zustellung dieses Beschlusses § 86 Abs 2 StPO;
4. die ohne rechtskräftige Bewilligung der Wiederaufnahme und ohne neuerlichen Strafantrag erfolgte Anordnung und Durchführung einer Hauptverhandlung gegen Bernd H***** sowie die Urteilsfällung vom 19. Juni 2009
a. das in § 17 Abs 1 StPO verankerte Verbot der wiederholten Strafverfolgung;
- b. § 4 Abs 2 StPO iVm § 358 Abs 2 (§ 490) StPO;
- c. in der Bestimmung einer Leistungsfrist für das Adhäsionserkenntnis § 373 StPO.
Es werden der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 29. Mai 2009 und das Urteil dieses Gerichts vom 19. Juni 2009 aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Graz aufgetragen, über den Antrag der Staatsanwaltschaft Graz auf Bewilligung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens zum Nachteil des Freigesprochenen neuerlich zu entscheiden.
Text
Gründe:
Mit (gekürzt ausgefertigtem) unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 18. März 2009, GZ 12 Hv 29/09x-11, wurde Bernd H***** von der wider ihn mit Strafantrag vom 18. Februar 2009 erhobenen Anklage, er habe in der Zeit von April bis August 2008 in Stainz als verantwortlicher Geschäftsführer der B*****gesellschaft m.b.H, sohin als Organ einer juristischen Person, die die Pflicht zur Abführung der Beiträge von Dienstnehmern zur Sozialversicherung traf, Dienstnehmerbeiträge in Gesamthöhe von 63.945,32 Euro einbehalten und der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse als berechtigtem Sozialversicherungsträger vorenthalten, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Der Angeklagte hatte mit der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse eine mündliche Ratenvereinbarung getroffen und sich binnen Jahresfrist zur Begleichung der ausstehenden Beiträge verpflichtet. Nachdem die Ratenvereinbarung nicht eingehalten worden war, beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß „§ 352 Abs 1 Z 2 StPO" (ON 13) und stellte am 22. Mai 2009 für den Fall der Wiederaufnahme die Einbringung eines neuen Strafantrags in Aussicht (ON 15).
Am 29. Mai 2009 fasste der Einzelrichter den Beschluss „auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 352 Abs 1 Z 2 StPO" und ordnete die Durchführung der Hauptverhandlung für den 16. Juni 2009 an (ON 1/S 7 f). Eine Beschlussausfertigung (mit Begründung und Rechtsmittelbelehrung) oder eine Anordnung der Zustellung der Entscheidung über die Bewilligung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen Bernd H***** wegen § 153c Abs 1 und 2 StGB findet sich im Akt nicht, ebenso wenig ist ein Vorgehen nach § 357 Abs 2 StPO oder die Einbringung eines neuen Strafantrags aktenkundig. Das Protokoll über die Hauptverhandlung vom 16. Juni 2009 (ON 16) ist dem Akt nicht angeschlossen.
Mit rechtskräftigem Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 19. Juni 2009 (ON 19), wurde Bernd H***** nach Durchführung der Hauptverhandlung im Sinn des Strafantrags vom 18. Februar 2009 wegen § 153c Abs 1 und 2 StGB schuldig erkannt und zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt (sowie gemäß § 389 Abs 1 StPO zum Ersatz der Prozesskosten verpflichtet). Gemäß § 369 Abs 1 StPO wurde dem Angeklagten die Bezahlung von 63.945,32 Euro binnen vierzehn Tagen an die Privatbeteiligte Steiermärkische Gebietskrankenkasse auferlegt.
Rechtliche Beurteilung
Das Vorgehen des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Graz steht - wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt - in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht in Einklang:
1./ Im Fall der Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach (richtig:) § 355 StPO wegen einer Handlung, hinsichtlich der der Angeklagte rechtskräftig freigesprochen worden ist, ordnet § 357 Abs 2 StPO die - gegenständlich aber unterbliebene - kontradiktorische Führung des Wiederaufnahmeverfahrens an. Danach ist dem Gegner des Antragstellers vor einer Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung einzuräumen.
2./ § 86 Abs 1 StPO legt neben dem Spruch auch die Begründung und Rechtsmittelbelehrung als unabdingbares Inhaltserfordernis eines Beschlusses fest. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 29. Mai 2009, die sich zu Punkt I./ in der Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 352 Abs 1 Z 2 StPO erschöpft, nicht gerecht.
3./ Gemäß § 86 Abs 2 StPO ist jeder - nach dem Gesetz nicht mündlich zu verkündende - Beschluss schriftlich auszufertigen und den zur Beschwerde Berechtigten (§ 87 StPO) zuzustellen. Die Ausfertigung (und demnach auch die Zustellung) des Beschlusses auf Bewilligung der Wiederaufnahme des Verfahrens ist nach der Aktenlage unterblieben. 4./ Gemäß § 358 Abs 2 iVm § 490 StPO tritt das Verfahren durch die Wiederaufnahme - von den Fällen des § 360 StPO abgesehen - in den Stand des Ermittlungsverfahrens. Da das Verfahren nach Wiederaufnahme in ein Verfahrensstadium vor Erhebung des Strafantrags tritt, bedarf es zum Verfahrensfortgang eines (neuerlichen) förmlichen Antrags des Anklägers auf Strafverfolgung. Die Anordnung und Durchführung der Hauptverhandlung nach Bewilligung der Wiederaufnahme ohne weitere Antragstellung seitens der Staatsanwaltschaft verstößt daher einerseits gegen den Anklagegrundsatz (§ 4 StPO) und macht andererseits dem Angeklagten eine gezielte Vorbereitung auf die Hauptverhandlung unmöglich und verhindert ebenso die Effektuierung seines Rechts auf Prüfung des Strafantrags durch den Einzelrichter vor Anordnung der Hauptverhandlung iSd § 485 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO (vgl 14 Os 84/08x).
5./ § 17 Abs 1 StPO verbietet nach einer rechtswirksamen Beendigung des Strafverfahrens die wiederholte Strafverfolgung des Beschuldigten wegen derselben Tat („ne bis in idem"; Art 4 des 7. ZPMRK). Das schuldig sprechende Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 19. Juni 2009 umfasst denselben Lebenssachverhalt wie das zuvor Bernd H***** vom Vorwurf freisprechende Urteil vom 18. März 2009. Der Beschluss des Einzelrichters vom 29. Mai 2009, mit welchem die Wiederaufnahme des Verfahrens bewilligt wurde, konnte bereits mangels Ausfertigung und Zustellung der Entscheidung an die Beschwerdeberechtigten (§ 87 Abs 1 StPO) nicht in Rechtskraft erwachsen. (Überdies stünde im Falle einer Zustellung der Entscheidung der rechtlichen Annahme einer die Rechtsmittelfrist auslösenden Bekanntmachung das Fehlen der Rechtsmittelbelehrung entgegen [RIS-Justiz RS0123942].)
Die an das abgeschlossene Aufhebungsverfahren geknüpfte Rechtsfolge der Durchbrechung der Rechtskraft iSd § 358 Abs 1 StPO konnte mangels Rechtskraft des Wiederaufnahmebeschlusses somit nicht eintreten. Aufgrund der daher nach wie vor aufrechten Sperrwirkung war die neuerliche Entscheidung über denselben Sachverhalt somit unzulässig. 6./ Der Zuspruch eines Entschädigungsbetrags hat den Berechtigten und den Verpflichteten zu bestimmen. Die Setzung einer Leistungsfrist ist unzulässig, weil rechtskräftige Erkenntnisse der Strafgerichte, welche über die privatrechtlichen Ansprüche ergehen, einen Exekutionstitel nach § 1 Z 8 EO bilden, der mit Rechtskraft des Erkenntnisses sofort fällig und vollstreckbar ist (Spenling, WK-StPO § 373 Rz 2).
Die zu Punkt 1. bis 5. aufgezeigten Gesetzesverletzungen gereichen dem Verurteilten zum Nachteil, weshalb sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah, den Beschluss vom 29. Mai 2009 und das Urteil vom 19. Juni 2009 aufzuheben (§ 292 letzter Satz StPO) und dem Landesgericht für Strafsachen Graz aufzutragen, über den Antrag der Staatsanwaltschaft Graz auf Bewilligung der Wiederaufnahme neuerlich zu entscheiden.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)