OGH 14Os75/09z (14Os96/09p, 14Os97/09k, 14Os98/09g, 14Os99/09d, 14Os100/09a, 14Os101/09y)

OGH14Os75/09z (14Os96/09p, 14Os97/09k, 14Os98/09g, 14Os99/09d, 14Os100/09a, 14Os101/09y)6.10.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 6. Oktober 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr. Kurz als Schriftführerin in der Strafsache gegen Leszek L***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 203 St 41/08z der Staatsanwaltschaft Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Dezember 2008, GZ 353 HR 194/08h-28, einen weiteren Beschluss dieses Gerichts, Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien und weitere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes sowie über den die kontradiktorische Vernehmung der Justyna M***** durch den Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien am 11. September 2008 (GZ 353 HR 194/08h-19) betreffenden Antrag des Leszek L***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Sperker, und des Verteidigers Dr. Graupner zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Es verletzen das Gesetz

A/1. die Verweigerung der Verlegung des Termins der kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin Justyna M***** und die Durchführung dieser Zeugenvernehmung am 11. September 2008 (ON 19),

2. der Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Dezember 2008, GZ 353 HR 194/08h-28, und

3. die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien vom 10. Dezember 2008, AZ 18 Bs 428/08k (ON 27), sowie vom 9. Februar 2009, AZ 18 Bs 24/09z (ON 31),

jeweils in Art 6 Abs 3 lit d iVm lit b und c MRK sowie iVm § 52 Abs 1 StPO;

B. der Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 2. Oktober 2008, GZ 353 HR 194/08h-22, in § 33 Abs 1 Z 1 StPO iVm § 88 Abs 3 StPO und

C. die im Beschwerdeverfahren zu AZ 18 Bs 24/09z des Oberlandesgerichts Wien unterlassene Zustellung der Äußerung der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft vom 15. Jänner 2009 an den Verteidiger in § 24 StPO.

Es wird festgestellt, dass aus der Vernehmung der im Verfahren AZ 203 St 41/08z der Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 353 HR 194/08h des Landesgerichts für Strafsachen Wien durchgeführten kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin Justyna M***** keine Aussagebefreiung nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO folgt.

Mit seinem Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wird Leszek L***** auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

In dem zum AZ 203 St 41/08z der Staatsanwaltschaft Wien gegen Leszek L***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen geführten Ermittlungsverfahren wurde diesem die Ladung des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu der für den 11. September 2008 anberaumten kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin Justyna M***** am 8. August 2008 zugestellt (RS zu ON 1 S 6). Am 28. August 2008 zeigte Rechtsanwalt Dr. G***** seine Bevollmächtigung als Verteidiger an und beantragte gleichzeitig, ihm gegen Gebühr eine Kopie des gesamten Akts zur Vorbereitung seiner Teilnahme an dieser Beweisaufnahme auszufolgen (§ 52 Abs 1 StPO, ON 11). Da dem Antrag bis um die Mittagszeit des 9. September 2008 nicht entsprochen worden war (obwohl die Aktenkopie ab 8. September 2008 „zur Abholung bereitgelegt" worden war [ON 1 S 8]), beantragte er - nach entsprechendem mündlichen Ersuchen anlässlich eines am 8. September 2008 mit dem Einzelrichter im Ermittlungsverfahren geführten Telefonats, welches dieser unter Hinweis auf die ausreichende Vorbereitungsfrist abgelehnt hatte (ON 1 S 8) - schriftlich die Verlegung des Vernehmungstermins (ON 14). Eine schriftliche Entscheidung darüber erging nicht.

Nach - schließlich abschlägig beschiedenem (vgl dazu unten) - Einspruch wegen Rechtsverletzung (ON 20, § 106 Abs 1 Z 1 StPO) wurde die (infolge Fehlens von Aktenübersicht sowie Anordnungs- und Bewilligungsbogen noch immer unvollständige) Kopie schließlich am 10. September 2008 um die Mittagszeit ausgefolgt (ON 15). Diesem Vorbringen des Leszek L***** in sachverhaltsmäßiger Hinsicht nicht zu folgen, sieht sich der Oberste Gerichtshof durch keine aktenkundigen Umstände veranlasst.

Die kontradiktorische Vernehmung der Justyna M***** wurde am 11. September 2008 zwischen 9:20 Uhr und 10:45 Uhr durchgeführt.

Der gegen die Verweigerung der Verlegung der gerichtlichen Beweisaufnahme rechtzeitig eingebrachten Beschwerde (ON 18) wurde - nachdem der Einzelrichter diese vorerst im Wesentlichen mit der Begründung, mangels Fassung eines schriftlichen Beschlusses sei eine Beschwerde „rechtlich und tatsächlich nicht möglich", mit Beschluss vom 2. Oktober 2008 zurückgewiesen (ON 22), dann aber aufgrund einer gegen die (allerdings ohnehin unwirksame und daher einer darauf bezogenen Beschwerde gar nicht bedürftige; vgl den Praxishinweis der EvBl-Redaktion zu 11 Os 10/09v, EvBl 2009/70) Zurückweisung eingebrachten weiteren „Beschwerde" (ON 24) dem Rechtsmittelgericht vorgelegt hatte - mit Beschluss vom 10. Dezember 2008 (AZ 18 Bs 428/08k, ON 27) nicht Folge gegeben.

Den oben angesprochenen Einspruch des Verteidigers wegen Rechtsverletzung vom 9. September 2008 (ON 20) wies der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 16. Dezember 2008, GZ 353 HR 194/08h-28 ab, führte begründend aus, dass dem Verteidiger die begehrten Aktenkopien seit 26. September 2008 auch in vollständiger Form zur Verfügung standen und verwies im Übrigen im Wesentlichen auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 10. Dezember 2008 (ON 27), wonach auch das Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK durch die kurz vor der kontradiktorischen Vernehmung erfolgte Ausfolgung der Aktenabschrift nicht verletzt sei, weil das Gesetz keine Vorbereitungsfrist für eine kontradiktorische Vernehmung oder sonstige Akte des Ermittlungsverfahrens vorsehe, auch der Oberste Gerichtshof dazu ausdrücklich erklärt habe, dass dem Beschuldigten eine fixe Vorbereitungsfrist gesetzlich nicht eingeräumt sei (RIS-Justiz RS0097570), und der mit den Tatvorwürfen bereits Ende Jänner 2008 konfrontierte Beschuldigte diese einerseits kannte und andererseits früher Akteneinsicht hätte nehmen können.

Einer dagegen erhobenen Beschwerde (ON 29) wurde vom Oberlandesgericht mit Beschluss vom 9. Februar 2009, AZ 18 Bs 24/09z (ON 31) nicht Folge gegeben, davor eine von der Oberstaatsanwaltschaft beim Rechtsmittelgericht erstattete Stellungnahme dem Verteidiger (§ 83 Abs 4 erster Satz StPO) nicht zur Äußerung zugestellt (§ 24 StPO).

Am 22. Juni 2009 wurde das Ermittlungsverfahren nach Vernehmung des Beschuldigten (§ 193 Abs 2 Z 1 StPO) gemäß § 190 Z 1 und 2 StPO eingestellt (ON 1 S 14).

Rechtliche Beurteilung

Die beschriebene Vorgangsweise steht, wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht in Einklang:

A. Billigt nämlich § 221 Abs 2 erster Satz StPO sowohl dem Angeklagten als auch seinem Verteidiger eine unter ausdrücklicher Nichtigkeitssanktion stehende Vorbereitungsfrist zu, um dem von Art 6 Abs 3 lit d iVm lit b und c MRK garantierten Recht, durch einen ausreichend vorbereiteten Verteidiger Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, Genüge zu tun, geht es nicht an, den (auch) in dieser Vorbereitungsfrist zum Ausdruck kommenden Schutzzweck dort zu unterlaufen, wo gerichtliche Beweisaufnahmen im Ermittlungsverfahren (ersatzweise) vorweggenommen werden (vgl auch Ratz, WK-StPO § 281 Rz 158). Da sachgerechte Zeugenbefragung vorangegangene Akteneinsicht erfordert, ist dies der Fall, wenn - wie hier - einem 14 Tage vor der kontradiktorischen Vernehmung einer Zeugin gestellten Antrag auf Ausfolgung einer Kopie des Akteninhalts erst am Vortag der Vernehmung entsprochen wurde.

Der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien hätte daher mangels rechtzeitig ermöglichter Akteneinsicht dem Antrag auf Verlegung der von der Staatsanwaltschaft beantragten kontradiktorischen Vernehmung nachkommen, dem Einspruch wegen Rechtsverletzung Folge geben, das Oberlandesgericht Wien hinwieder der gegen die Verweigerung der Verlegung (§ 35 Abs 2 zweiter Fall StPO) eingebrachten, nach § 87 Abs 2 zweiter Satz StPO zulässigen Beschwerde sowie jener gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Dezember 2008 (ON 28) stattgeben und zum Ausgleich der bereits grundrechtsverletzend durchgeführten (vgl § 87 Abs 3 StPO) kontradiktorischen Vernehmung deren Ergänzung samt Feststellung anordnen müssen, dass der Zeugin dabei keine auf § 156 Abs 1 Z 2 StPO gegründete Befreiung von der Aussagepflicht zukommt.

Ein solcher Vorrang des Verteidigungsinteresses des Beschuldigten gegenüber dem Zeugenschutz des § 156 Abs 1 Z 2 StPO ist Ergebnis der in der fehlenden Nichtigkeitssanktion zum Ausdruck kommenden, ihrerseits unbedenklichen Wertentscheidung des einfachen Gesetzgebers, welche auch dazu führen kann, dass dem in der Hauptverhandlung gestellten Antrag des im Zeitpunkt der kontradiktorischen Vernehmung noch nicht durch einen Verteidiger vertreten gewesenen Angeklagten auf ergänzende Befragung eines sonst nach § 156 Abs 1 Z 2 (§ 248 Abs 1 erster Satz) StPO von der Pflicht zur Aussage befreiten Zeugen bei sonstiger Nichtigkeit aus Z 4 des § 281 Abs 1 StPO Folge zu geben ist (eingehend: Ratz, WK-StPO § 281 Rz 233).

B. Soweit der Einzelrichter des Landesgerichts über die - seiner Meinung nach unzulässige - Beschwerde des Beschuldigten (ON 18) selbst entschieden hat, verstieß er nicht nur - wie das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 10. Dezember 2008, AZ 18 Bs 428/08k (ON 27), richtig ausführt - gegen § 87 Abs 2 zweiter Satz StPO, sondern darüber hinaus auch gegen § 33 Abs 1 Z 1 StPO iVm § 88 Abs 3 StPO.

C. Letztlich unterblieb im Beschwerdeverfahren zu AZ 18 Bs 24/09z des Oberlandesgerichts Wien die Zustellung der Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft vom 15. Jänner 2009, in der diese beantragte, der Beschwerde des Leszek L***** gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Dezember 2008, GZ 353 HR 194/08h-28, nicht Folge zu geben, an den Verteidiger. Damit verstieß das Oberlandesgericht gegen § 24 StPO.

Da die von § 252 Abs 1 Z 2a StPO erteilte Erlaubnis zur Verlesung von Aussagen kontradiktorisch vernommener Personen nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht voraussetzt, dass die kontradiktorische Vernehmung im selben Verfahren erfolgt ist (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 233), womit die in diesem Zusammenhang aufgezeigten Gesetzesverletzungen insoweit geeignet sind, zum Nachteil des Leszek L***** zu wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verknüpfen und (auch zum Ausgleich der Grundrechtsverletzung) auszusprechen, dass aus der zum AZ 353 HR 194/08h am 11. September 2008 durchgeführten kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin Justyna M***** keine Aussagebefreiung nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO resultiert, womit eine auf § 252 Abs 1 Z 2a StPO gestützte Verlesung dieser Aussage nicht in Betracht kommt.

Mit Blick auf den Erfolg der von der Generalprokuratur aus Anlass des - auch bloß mit dem Ziel einer Erneuerung ohne erneuertes Verfahren zulässigen (vgl den Praxishinweis zu 14 Os 25/09x, EvBl-LS 2009/104, 618) - Erneuerungsantrags erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes kann der Erneuerungswerber auf deren Erledigung verwiesen werden, weil sich die Nichtigkeitsbeschwerde im Umfang der reklamierten Grundrechtsverletzungen zur Gänze mit dem Erneuerungsantrag deckt und die nach § 292 letzter Satz StPO verfügte konkrete Wirkung einen angemessenen Ausgleich für die Grundrechtsverletzungen darstellt.

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