OGH 10ObS113/08b

OGH10ObS113/08b27.1.2009

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hans K*****, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Mai 2008, GZ 7 Rs 57/08s-44, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 30. November 2007, GZ 8 Cgs 229/05f-41, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 20. 4. 1948 geborene Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Busfahrer tätig. Er lenkte die Busse sowohl im Inland als auch im europäischen Ausland. Er führte dabei auch die Zollvorbereitungen durch. Wartungsarbeiten an Bussen erledigte er selbstständig. Er half den Reisenden beim Ein- und Verladen des Gepäcks und kümmerte sich zudem darum, dass die Reisenden ihre Zimmer beziehen konnten, und fallweise auch um die Fuhren zu den Abendaktivitäten auf den Reisen.

Mit seinem eingeschränkten Leistungskalkül ist dem Kläger die Verrichtung einer Tätigkeit als Apothekenzusteller möglich. Für die Ausübung dieser Tätigkeit muss er zwei bis drei Tage im Ausfüllen von Übernahmescheinen angelernt werden. Die Fahrertätigkeit überwiegt die übrige Tätigkeit leicht. Apothekenzusteller sind vor allem im innerstädtischen Verkehr tätig. Die Zustellrouten bleiben gleich. Bei der Tätigkeit eines Apothekenzustellers besteht Kundenkontakt. In Österreich existieren 100 Arbeitsplätze in dieser Branche.

Mit Bescheid vom 20. 4. 2005 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 26. 11. 2004 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 5. 2005 gerichtete Klagebegehren des Klägers ab. Es traf die eingangs im Wesentlichen wiedergegebenen Feststellungen. Rechtlich führt es aus, die Tätigkeit eines Apothekenzustellers mit Kundenkontakt sei eine im Sinn des § 255 Abs 4 ASVG zumutbare Änderung der bisherigen Tätigkeit als Buschauffeur.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts. Der Rechtsrüge hielt es entgegen, auch ein Buschauffeur im Personenverkehr sei an Vorgaben wie Routen und Zeitpläne gebunden, wenn auch die Tätigkeit eines Zustellers im innerstädtischen Bereich geringere Entscheidungsspielräume offen lassen möge. Eine gewisse Einschränkung an Selbstständigkeit bzw eigenverantwortlicher Tätigkeit müsse der Versicherte aber auch beim Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG hinnehmen. Auch der Umstand, dass bei Verrichtung der der bisherigen Tätigkeit sehr ähnlichen Verweisungstätigkeit die Branche gewechselt werde, schließe für sich allein noch nicht die Zulässigkeit einer solchen Verweisung aus. Das soziale Ansehen von Kraftfahrern sei in der Öffentlichkeit nicht so differenziert, dass man beim objektiven Vergleich der Tätigkeit eines Buschauffeurs mit jener eines Apothekenzustellers von einem sozialen Abstieg sprechen könnte. Außerdem müsse ein Versicherter auch einen gewissen, hier keinesfalls unzumutbaren, Verlust an sozialem Prestige hinnehmen. Wie beim Buschauffeur sei die Tätigkeit eines Apothekenzustellers mit Kundenkontakt verbunden. Auch hier überwiege die Fahrtätigkeit. Dass Güter anstelle von Personen befördert würden, hindere die Verweisung nicht. Eine gravierende Lohneinbuße gegenüber der bisherigen Tätigkeit, wie sie auf dem Arbeitsmarkt entlohnt werde, könne ein Kriterium für die Unzumutbarkeit einer Verweisung im Sinn des § 255 Abs 4 ASVG darstellen. Die Prüfung der Frage der Zumutbarkeit einer Lohneinbuße habe jedoch grundsätzlich abstrakt zu erfolgen. Stelle man den Mindestbruttolohn für Kraftwagenlenker für PKW und LKW mit einem Gesamtgewicht bis 3,5 Tonnen nach dem Kollektivvertrag für Handelsarbeiter bzw für Kraftfahrer für Kraftfahrzeuge zur Beförderung von Gütern bis zu einem höchstzulässigen Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen nach dem Kollektivvertrag für Arbeiter des Kleintransportgewerbes jenem für Kraftfahrer (ohne Lehrabschlussprüfung) nach dem Bundeskollektivvertrag für Dienstnehmer in den privaten Autobusbetrieben gegenüber, so liege die Lohneinbuße noch im Rahmen dessen, was nach bisheriger Rechtsprechung von einem Pensionswerber hinzunehmen sei. Die mit dem Verweisungsberuf des Apothekenzustellers allenfalls verbundene Lohneinbuße hindere daher die Verweisung des Klägers nicht.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen dieses Urteil erhobene außerordentliche Revision des Klägers ist zulässig, weil das Berufungsgericht bei der Prüfung der Frage des Vorliegens einer gravierenden Lohneinbuße von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist. Sie ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die beklagte Partei beteiligte sich am Revisionsverfahren nicht.

1. Den Ausführungen unter Punkt II.2. der Revisionsschrift ist zu erwidern, dass mit diesen kein Feststellungsmangel aufgrund unrichtiger rechtlicher Beurteilung geltend gemacht wird, sondern in Wahrheit die nicht revisible Beweiswürdigung der Vorinstanzen bekämpft wird.

Unstrittig ist, dass der Kläger nicht im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG invalid ist und seine Tätigkeit als Buschauffeur keine Tätigkeit in einem erlernten (angelernten) Beruf war.

2. Nach § 255 Abs 4 ASVG gilt als invalid ein Versicherter, der das 57. Lebensjahr vollendet hat, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen. Dabei sind zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen.

Nach den Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Kläger im 15-jährigen Beobachtungszeitraum auch vor dem für die Gewährung einer Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG maßgebenden Stichtag (1. 5. 2005) mindestens 120 Kalendermonate hindurch „eine" Tätigkeit als Buschauffeur ausgeübt hat. Es ist ferner nicht strittig, dass er aufgrund seines eingeschränkten medizinischen Leistungskalküls die Tätigkeit eines Buschauffeurs nicht mehr ausüben kann.

3. Zu prüfen ist, ob die Tätigkeit eines Apothekenzustellers im innerstädtischen Bereich eine „zumutbare Änderung" der bisherigen Tätigkeit des Klägers als Buschauffeur ist.

3.1. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs muss eine Verweisung nach § 255 Abs 4 ASVG dann als zumutbar angesehen werden, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als eine Teiltätigkeit ausgeübt wurde und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich ist. Kriterien sind dabei neben dem technischen Umfeld unter anderem auch die Kontakte mit Mitarbeitern und Kunden sowie die räumliche Situation, etwa ob die Arbeiten im Freien oder am Fließband auszuüben sind. Der Branche kann keine allein ausschlaggebende Bedeutung zukommen; sie kann aber bei der Konkretisierung des Umfelds eine Rolle spielen (RIS-Justiz RS0100022). Ein anderer Tätigkeitsbereich als der bisherige ist jedenfalls unzumutbar, wenn dies eine wesentliche Änderung des beruflichen Umfelds des Versicherten bedeuten würde, wie zum Beispiel das Anlernen gänzlich neuer Tätigkeiten oder der Verweis auf eine Tätigkeit, die in einem anderen arbeitskulturellen Umfeld erbracht werden muss. Unter dem „Erlernen gänzlich neuer Tätigkeiten" ist der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten zu verstehen, die der Anspruchswerber bisher in seinem Berufsleben nicht anwenden und nicht nutzen musste. Dabei ist auch von Bedeutung, welchen Zeitraum eine für die Ausübung eines Verweisungsberufs notwendige Anlernung voraussichtlich in Anspruch nehmen wird (10 ObS 12/04v mwN).

Unter Zugrundelegung dieser Leitlinien hat der erkennende Senat in der Entscheidung 10 ObS 186/03f in der Tätigkeit als Fahrer eines Klein-LKW oder eines Zustellers keine unzumutbare Änderung der bisherigen Tätigkeit als Lastkraftwagenfahrer gesehen. Es handle sich um sehr ähnliche Tätigkeiten, die das Lenken von Kraftfahrzeugen zum wesentlichen Tätigkeitsinhalt hätten. Auch vom technischen und persönlichen Umfeld sowie vom räumlichen Arbeitsbereich betrachtet ähnelten die Verweisungstätigkeiten der bisher ausgeübten Tätigkeit.

Zutreffend hat das Berufungsgericht gestützt auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, insbesondere auf die letztgenannte Entscheidung, eine Unzumutbarkeit der Tätigkeit des Klägers als Apothekenzusteller im innerstädtischen Bereich unter dem Blickwinkel des Inhalts der bisherigen und der Verweisungstätigkeit verneint. Insoweit genügt es auf diese Ausführungen zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Der Revisionswerber meint hingegen, die Tätigkeit als Berufskraftfahrer in der Personenbeförderung in ganz Europa könne nicht mit jener eines Zustellers von Medikamenten im „kleinsten" inländischen Bereich verglichen werden.

Dem ist zu erwidern, dass als arbeitskulturelles Umfeld der weite Bereich von Verkehr und Transport auf öffentlichen Straßen in Betracht kommt, der keine wesentliche Änderung erfährt. Der Kläger hat zwar bislang nur Personen mit Bussen befördert, doch kommt im Anlassfall einem Branchenwechsel im Hinblick auf den gleichbleibenden Kern der Tätigkeit (Lenken von Kraftfahrzeugen) keine ausschlaggebende Bedeutung zu.

Eine gewisse Einschränkung an selbstständiger bzw eigenverantwortlicher Tätigkeit muss der Versicherte auch beim Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG hinnehmen (10 ObS 105/06y ua). Wurde die bisherige Tätigkeit selbstständig und eigenverantwortlich ausgeführt, wäre nur eine Änderung auf eine deutlich untergeordnete, nur nach Weisungen und Vorgaben zu verrichtende Tätigkeit nicht zumutbar (10 ObS 134/04k). Dass im Anlassfall davon nicht die Rede sein kann, hat das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt.

Dem Berufungsgericht ist auch nicht in der Beurteilung der Rechtsfrage entgegen zu treten, dass ein allfälliger Verlust des Klägers an sozialem Prestige, wenn er als Apothekenzusteller tätig werden würde, noch keine Unzumutbarkeit dieser Tätigkeit begründen würde. Soweit der Revisionswerber darauf verweist, dass der internationale Personenbeförderungsverkehr durch die Berufskraftfahrer/ Beruftskraftfahrerin-Ausbildungsordnung, BGBl II 2007/190, eine Aufwertung erfahren habe, ist festzuhalten, dass nicht behauptet wurde, der Kläger habe jene Kenntnisse und Fähigkeiten durch praktische Tätigkeit erworben, die zur erfolgreichen Absolvierung dieses Lehrberufs notwendig sind.

3.2. Der erkennende Senat hat ausgesprochen, dass merkbare Lohneinbußen von der bisherigen Tätigkeit, wie sie auf dem Arbeitsmarkt entlohnt wird, auf eine Verweisungstätigkeit einen Einfluss auf die Beurteilung der Zumutbarkeit der Änderung der Tätigkeit (bzw Verweisung) in der Form haben können, dass eine gravierende Lohneinbuße ein Kriterium für die Unzumutbarkeit einer Verweisung darstellen kann (10 ObS 90/06t mwN).

Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 10 ObS 90/06t ausführlich begründet, dass die Prüfung der Frage der Zumutbarkeit einer Lohneinbuße grundsätzlich abstrakt zu erfolgen hat. Dies bedeutet, dass nicht vom individuellen früheren Verdienst des Versicherten bei einem konkreten Dienstgeber, sondern vom Durchschnittsverdienst gleichartig Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt auszugehen ist. Nur diese Betrachtungsweise entspricht der in der Pensionsversicherung herrschenden abstrakten Ermittlung der Minderung der Arbeitsfähigkeit und ermöglicht eine weitgehend gleiche Beurteilung vergleichbarer Fälle (vgl 10 ObS 105/06y).

Die Ausführungen in der Revision geben keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Der Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG stellt nicht auf die konkret vom Versicherten am jeweiligen Arbeitsplatz ausgeübten Tätigkeiten ab, sondern auf die „abstrakte Tätigkeit" mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt (RIS-Justiz RS0100022). § 255 Abs 4 ASVG gewährt keinen Arbeitsplatzschutz (10 ObS 56/03p = SZ 2003/53 = SSV-NF 17/56). Die vom Kläger für seinen Rechtsstandpunkt ins Treffen geführten Gesetzesmaterialien bieten keinen Anhaltspunkt für ein Abgehen vom Grundsatz der abstrakten Betrachtungsweise (10 ObS 90/06t).

Da vom Durchschnittsverdienst gleichartig Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt auszugehen ist, ist der vom Berufungsgericht angestellte Vergleich anhand kollektivvertraglicher Mindestbruttolöhne nur dann für die Beurteilung der Frage, ob eine gravierende Lohneinbuße gegeben ist, geeignet, wenn die Mindestbruttolöhne dem Durchschnittsverdienst in den relevanten Beschäftigungen entsprechen. Dies steht aber nicht fest. Der Revisionswerber zeigt im Ergebnis zutreffend auf, dass die Feststellung der Mindestbruttolöhne für die Lösung der Rechtsfrage des Vorliegens einer gravierenden Lohneinbuße, die eine Verweisung unzumutbar erscheinen ließe, im Anlassfall nicht ausreicht. Dies muss zur Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen führen.

Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren mit den Parteien die Höhe des Durchschnittsverdiensts von Busfahrern in einer der bisherigen des Klägers gleichartigen Beschäftigung und von Apothekenzustellern zu erörtern, über strittige Tatsachenbehauptungen Beweise aufzunehmen und sodann neuerlich zu entscheiden haben.

4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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