OGH 4Ob128/08i

OGH4Ob128/08i23.9.2008

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Zechner als Vorsitzenden und durch die Hofrätin Dr. Schenk sowie die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik und Dr. Musger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ö*****, vertreten durch Dr. Heinz Peter Wachter, Rechtsanwalt in Wien, und des Nebenintervenienten Werner G*****, vertreten durch Neumayer, Walter & Haslinger Rechtsanwälte-Partnerschaft in Wien, wider die beklagte Partei D*****AG, *****, vertreten durch Themmer, Toth & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Unterlassung (Streitwert 30.000 EUR) und Urteilsveröffentlichung (Streitwert 5.000 EUR), infolge der ordentlichen Revisionen der klagenden Partei und ihres Nebenintervenienten gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 25. März 2008, GZ 30 R 34/07a-20, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 22. Februar 2007, GZ 19 Cg 185/06m-5, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Beide Revisionen werden zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.918,96 EUR (darin 653,16 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Der Kläger ist ein nach § 14 UWG klageberechtigter Verein. Zu seinem satzungsgemäßen Aufgabenbereich gehört unter anderem die Verfolgung von Unterlassungsansprüchen nach dem UWG.

Die von der beklagten Rechtsschutzversicherung verwendeten „Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung" (ARB 2000) enthalten für Massenschäden (Kumulschäden) folgende Bestimmung („Massenschadenklausel"):

„Art 6 Punkt 7.3.: Genießen mehrere Versicherungsnehmer zur Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen Versicherungsschutz aus einem oder mehreren Versicherungsverträgen und sind ihre Interessen aufgrund der gleichen oder einer gleichartigen Ursache gegen den/dieselben Gegner gerichtet, ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung vorerst auf die außergerichtliche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Versicherungsnehmer und die Führung notwendiger Musterprozesse durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter [Hervorhebungen durch den erkennenden Senat] zu beschränken.

Wenn oder sobald die Versicherungsnehmer durch diese Maßnahmen nicht ausreichend gegen einen Verlust ihrer Ansprüche, insbesondere durch drohende Verjährung, geschützt sind, übernimmt der Versicherer darüber hinaus die Kosten für Gemeinschaftsklagen oder sonstige gemeinschaftliche Formen außergerichtlicher und gerichtlicher Interessenswahrnehmungen durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter [Hervorhebungen durch den erkennenden Senat]. Sofern der Versicherungsschutz die Vertretung in allgemeinen Verwaltungsverfahren bzw vor dem Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtshof umfasst, können diese Bestimmungen sinngemäß angewandt werden."

Der Kläger machte einen auf die Verletzung des § 1 UWG idF vor der Novelle 2007 (Fallgruppe Rechtsbruch) gegründeten Unterlassungsanspruch geltend. Die Massenschadenklausel verstoße gegen das in §§ 158k Abs 1 iVm 158p VersVG zwingend angeordnete Recht des Versicherungsnehmers, seinen Rechtsanwalt frei wählen zu dürfen. § 158k VersVG setze die Richtlinie 87/344/EWG um; es liege daher auch ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vor. Die Beklagte verschaffe sich durch Anwendung der Klausel einen Vorsprung vor gesetzestreuen Mitbewerbern. Angesichts der eindeutigen Gesetzeslage und Rechtsprechung könne sie sich nicht auf die Vertretbarkeit ihrer Rechtsansicht berufen. Im Rechtsmittelverfahren trat ein Versicherungsnehmer der Beklagten, der sich durch Anwendung der Massenschadenklausel in seinem Recht auf freie Rechtsanwaltswahl verletzt sieht, dem Rechtsstreit auf Seite des Klägers bei.

Die Beklagte bestritt die Gesetzwidrigkeit der beanstandeten Klausel. Ihre Rechtsauffassung sei im Hinblick auf Veröffentlichungen namhafter Autoren nicht unvertretbar.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Auslegung der Beklagten finde im Gesetzeswortlaut keine Deckung und sei unvertretbar.

Das Berufungsgericht wies in seiner nach Inkrafttreten der UWG-Novelle 2007 ergangenen Entscheidung das Klagebegehren ab; es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 20.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei, weil Rechtsprechung fehle, ob die Massenschadenklausel im Hinblick auf §§ 158k, 158p VersVG wirksam sei und ob deren Verwendung gegen § 1 UWG verstoße. Die Beklagte könne sich für ihre Auffassung, dass die Massenschadenklausel zulässig sei, mit guten Gründen auf den Gesetzeszweck berufen; ihre Auslegung werde auch in der Literatur mehrfach vertreten. Höchstgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage fehle, weshalb ein allfälliger Rechtsbruch der Beklagten nicht vorwerfbar und damit nicht lauterkeitswidrig sei.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionen des Klägers und seines Nebenintervenienten, die beide unzulässig sind. Entgegen dem - den Obersten Gerichtshof (OGH) nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) - Ausspruch des Berufungsgerichts hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab.

1.1. Die Vorinstanzen haben ihren Entscheidungen jeweils die Rechtsprechung des Senats zur Fallgruppe „Wettbewerbsvorsprung durch Rechtsbruch" des § 1 UWG idF vor der Novelle 2007 BGBl I 79 zugrunde gelegt. Insbesondere haben sie geprüft, ob die Rechtsansicht der Beklagten vertretbar und das beanstandete Verhalten geeignet war, den Wettbewerb zum Nachteil von Mitbewerbern nicht bloß unerheblich zu beeinflussen.

1.2. An dieser Rechtslage hat sich durch die UWG-Novelle 2007 im Kern nichts geändert (4 Ob 225/07b mwN; 4 Ob 34/08s): Ein Verstoß gegen eine nicht dem Lauterkeitsrecht im engeren Sinn zuzuordnende generelle Norm ist (nur) dann als unlautere Geschäftspraktik oder als sonstige unlautere Handlung iSv § 1 Abs 1 Z 1 UWG idgF zu werten, wenn die Norm nicht auch mit guten Gründen in einer Weise ausgelegt werden kann, dass sie dem beanstandeten Verhalten nicht entgegensteht (4 Ob 225/07b). Ist dies der Fall, so besteht im Wettbewerbsprozess kein Anlass zur Klärung der weiteren Frage, ob diese Auslegung einer vertieften Prüfung standhält (vgl 4 Ob 225/07b).

2. Dass Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu Bestimmungen fehlt, deren Verletzung einem Mitbewerber vorgeworfen wird, begründet für sich allein noch keine erhebliche Rechtsfrage (vgl 4 Ob 34/08s). Die im Lauterkeitsrecht maßgebende Vertretbarkeit einer Rechtsansicht ist aufgrund des Wortlauts und des offenkundigen Zwecks der angeblich verletzten Norm und der dazu ergangenen Entscheidungen der zuständigen Behörden und Gerichte zu beurteilen (4 Ob 225/07b mwN). Zieht ein Gericht zweiter Instanz insofern keine unvertretbaren Schlussfolgerungen für das konkret zu beurteilende Verhalten, so liegt im Regelfall eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht vor.

3.1. Letzteres ist hier der Fall. Das Berufungsgericht hat sich - mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung - ausführlich mit zur behaupteten Gesetzwidrigkeit der Massenschadenklausel veröffentlichten Literaturmeinungen auseinandergesetzt, nach denen die objektiv-teleologische Auslegung gegenüber der Wortauslegung im Vordergrund steht, und hat die am Gesetzeszweck orientierte Auslegung durch die Beklagte, dass die Klausel im Lichte der §§ 158k, 158p VersVG wirksam sei, für keinesfalls unvertretbar gehalten. Wenn es deshalb zu einer Abweisung des lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruchs gekommen ist, so hat es damit den ihm offenstehenden Ermessensspielraum in der Beurteilung der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung nicht in korrekturbedürftiger Weise überschritten.

3.2. Zwar steht am Beginn aller Interpretationsbemühungen die Wortauslegung. Die Auslegung von Gesetzesbestimmungen ist aber ein komplexer Vorgang, der mehrere grundsätzlich gleichwertige Schritte erfordert; bei der anzustellenden Gesamtwürdigung entscheidet das Gewicht der bei jedem Schritt zutage geförderten Argumente (1 Ob 374/97z = SZ 71/57; RIS-Justiz RS0109735 [T11]; P. Bydlinski in KBB² § 6 Rz 2 mwN).

3.3. Zutreffend verweist die Beklagte in ihren Revisionsbeantwortungen ferner auf das mittlerweile vom siebenten Senat eingeleitete Vorabentscheidungsverfahren (7 Ob 26/08m = ecolex 2008, 737), mit dem die Vereinbarkeit der Massenschadenklausel mit der Richtlinie 87/344/EWG geklärt werden soll. Aus der Tatsache der Vorlage und aus deren Begründung ergibt sich, dass der siebente Senat nicht von einer jeden Zweifel ausschließenden Rechtslage ausgeht, führt er doch aus teleologischer Sicht Gründe an, die - entgegen dem reinen Wortlaut der auszulegenden Bestimmung des Gemeinschaftsrechts - für die Ansicht der hier Beklagten sprechen.

4.1. Der Kläger hat sein Begehren schon in erster Instanz auch auf eine behauptete lauterkeitswidrige Intransparenz der relevanten Massenschadenklausel gestützt und seine Ansicht, die Klausel verstoße gegen § 6 Abs 3 KSchG, in der Revision aufrecht erhalten. Bei unternehmerfeindlichster Auslegung sei für den Konsumenten bei Vertragsabschluss nicht klar und deutlich erkennbar, ob und welche Risiken in Zukunft gedeckt seien; es könne nämlich niemand wissen, ob in einem künftigen Schadensfall auch noch andere Versicherungsnehmer betroffen sein werden und damit ein Massenschaden vorliege. Damit sei der Leistungsgegenstand nicht in einer im Vorhinein objektiv feststellbaren Form festgelegt. Werde aber bei Massenschäden die freie Auswahl eines Rechtsanwalts durch die Versicherungsnehmer gesetzwidrig verhindert, und trete in solchen Fällen nur die Beklagte als Nachfragerin von Rechtsanwaltsleistungen auf, könne sie - anders als gesetzestreue Mitbewerber - für sich günstige Konditionen durchsetzen und so mit unlauteren Mitteln einen Wettbewerbsvorsprung erzielen.

Da feststeht, dass die Beklagte gegenüber einer Versicherungsnehmerin erklärt hat, die Massenschadenklausel anzuwenden, besteht - sollte die Berufung auf diese Klausel den Tatbestand einer sittenwidrigen Wettbewerbshandlung nach altem Recht oder unlauteren Geschäftspraktik oder einer sonstigen unlauteren Handlung iSv § 1 Abs 1 Z 1 UWG idgF erfüllen - Wiederholungsgefahr. Es ist demnach weiters zu prüfen, ob die Beklagte in vertretbarer Weise davon ausgehen konnte, die Klausel habe auch unter dem Aspekt des § 6 Abs 3 KSchG Bestand.

4.2. Das Transparenzgebot soll dem Kunden im Rahmen des Möglichen und Überschaubaren ermöglichen, sich aus den allgemeinen Geschäftsbedingungen zuverlässig über seine Rechte und Pflichten bei der Vertragsabwicklung zu informieren, damit er nicht von der Durchsetzung seiner Rechte abgehalten werden kann und ihm nicht die Erfüllung unberechtigter Pflichten abverlangt wird (4 Ob 28/01y = SZ 74/52). Der Verbraucher muss bis zu einem gewissen Grad die wirtschaftlichen Folgen einer Regelung abschätzen können. Ziel des Transparenzgebots ist es, eine durchschaubare, möglichst klare und verständliche Formulierung allgemeiner Vertragsbestimmungen sicherzustellen, um zu verhindern, dass der für die jeweilige Vertragsart typische Durchschnittsverbraucher - wie bereits erwähnt - von der Durchsetzung seiner Rechte abgehalten oder ihm die Erfüllung unberechtigter Pflichten abverlangt wird, ohne dass er sich zur Wehr setzt oder er über Rechtsfolgen getäuscht oder ihm ein unzutreffendes oder unklares Bild seiner vertraglichen Position vermittelt wird (RIS-Justiz RS0115219 [T9]).

4.3. Maßstab für die Transparenz ist das Verständnis des für die jeweilige Vertragsart typischen „Durchschnittskunden". Einzelwirkungen des Transparenzgebots sind das Gebot der Erkennbarkeit und Verständlichkeit, das Gebot, den anderen Vertragsteil auf bestimmte Rechtsfolgen hinzuweisen, das Bestimmtheitsgebot, das Gebot der Differenzierung, das Richtigkeitsgebot, und das Gebot der Vollständigkeit (4 Ob 28/01y; RIS-Justiz RS0115219 [T12]). Das Transparenzgebot begnügt sich nicht mit formeller Textverständlichkeit, sondern verlangt, dass Inhalt und Tragweite vorverfasster Vertragsklauseln für den Verbraucher „durchschaubar" sind (10 Ob 67/06k).

4.4. Im Lichte dieser Rechtsprechung ist die Auffassung des Berufungsgerichts, der geltend gemachte Unterlassungsanspruch könne auch nicht auf Verstöße gegen § 6 Abs 3 KSchG, §§ 864a, 879 Abs 3 ABGB iVm § 1 UWG gestützt werden, im Ergebnis zutreffend.

Die strittige Klausel findet nach ihrem Wortlaut bereits Anwendung, wenn die Interessen von zumindest drei (arg: „mehrere") Versicherungsnehmern aufgrund der gleichen oder einer gleichartigen Ursache gegen den/dieselben Gegner gerichtet sind; insoweit sind Inhalt und Tragweite der Klausel für den typischen Durchschnittsverbraucher verständlich und durchschaubar, und die Leistungspflicht des Versicherers im Fall eines Massenschadens ist ex ante hinreichend deutlich festgelegt. Mag nun auch bei Vertragsabschluss für den Versicherungsnehmer noch nicht abschätzbar sein, in wie vielen künftigen Schadensfällen die Klausel einmal zum Tragen kommen kann, so ist diese wirtschaftliche - nicht hingegen: rechtliche - Ungewissheit bei Versicherungsverträgen typisch, kann doch ein Versicherungsnehmer im Vorhinein immer nur abstrakt beurteilen, in welchen Fällen und in welchem Umfang in einem künftigen Schadensfall Deckung nach dem Vertrag bestehen wird. Angesichts der auch im Interesse der Versicherungsnehmer liegenden Motive der Versicherungsunternehmen für die Einfügung der Massenschadenklausel in die ARB, den Versicherungsschutz in solchen Fällen nicht gänzlich auszuschließen, sondern ihn im Interesse der Versicherungsgemeinschaft zwar in eingeschränktem, dafür aber finanzierbarem Leistungsumfang aufrecht zu erhalten, ist die Klausel auch nicht gröblich benachteiligend. Insofern liegt daher auf dem Boden einer vertretbaren Anwendung höchstgerichtlicher Leitlinien auch in der Verwendung dieser Klausel gegenüber Verbrauchern kein nach dem Lauterkeitsrecht zu sanktionierendes Verhalten.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte in ihren Revisionsbeantwortungen auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen bzw beantragt hat, es als unzulässig zurückzuweisen, dienten ihre Schriftsätze der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung. Weil der unterlegene Nebenintervenient nicht zum Kostenersatz herangezogen werden kann (RIS-Justiz RS0035816), ist der Kläger, dem auch die Disposition über die Revision des Nebenintervenienten offengestanden wäre, zum Kostenersatz verpflichtet (RIS-Justiz RS0036057; M. Bydlinski in Fasching/Konecny² II/1 § 41 ZPO Rz 12).

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