Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung
Der mj Ferdinand ist der eheliche Sohn von Silvia Luise E***** und Ernst Dieter K*****. Die Ehe der Kindeseltern wurde Ende 2003 einvernehmlich geschieden; die Obsorge steht dem Kindesvater zu. Am 7. 4. 2005 beantragte der Kindesvater, die Kindesmutter rückwirkend ab 1. 2. 2005 zur Zahlung eines monatlichen Unterhalts von EUR 200 zu verpflichten. Die Kindesmutter sei gesund und arbeitsfähig und könnte in ihrem erlernten Beruf als Arzthelferin monatlich rund EUR 1.300 verdienen.
Das Erstgericht wies diesen Antrag ab. Nach dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen liege bei der Kindesmutter eine bipolare Störung (früher als „manisch-depressives Kranksein" bezeichnet) vor. Eine schulmedizinisch adäquate Behandlung durch Verabreichung entsprechender Medikamente sei mangels Einsicht der Mutter bislang nicht in Anspruch genommen worden. Die Kindesmutter sei wegen verminderter emotionaler Belastbarkeit und krankhafter Antriebsstörung derzeit nicht in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Bei entsprechender Medikation sei eine Berufsausübung jedenfalls möglich.
Rechtlich würdigte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahingehend, dass die Anspannungstheorie nicht anzuwenden sei, weil die Kindesmutter nicht zu einer medikamentösen Behandlung ihrer Erkrankung gezwungen werden könnte.
Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss im antragsstattgebenden Sinn ab. Nach einhelliger Rechtsprechung habe jeder Unterhaltspflichtige alle ihm vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um ein Einkommen zu erzielen (RIS-Justiz RS0113751, RS0047686; EFSlg 77.061; EFSlg 92.235). Von der Mutter sei daher zu verlangen, dass sie zur Behandlung ihrer bipolaren Störung auch auf Medikamente zurückgreife. Subjekte Vorbehalte gegen eine Medikation hätten gegenüber der Verpflichtung, alle persönlichen Fähigkeiten zur Erfüllung einer Unterhaltsschuld einzusetzen, zurückzutreten.
Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Verpflichtung des Unterhaltsschuldners zur Inanspruchnahme einer (bestimmten) Heilbehandlung keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig; er ist im Sinne des in jedem Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrages berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Nach herrschender Auffassung muss der Unterhaltsschuldner alle Kräfte anspannen, um seiner Unterhaltsverpflichtung nachkommen zu können; er muss alle persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einsetzen. Tut er dies nicht, so wird er im Rahmen der sogenannten „Anspannungstheorie" so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (SZ 63/74 = EvBl 1990/128; RIS-Justiz RS0047686). Je umfangreicher die Sorgepflichten sind, desto strengere Anforderungen sind an die Anspannung des Unterhaltspflichtigen zu stellen (RIS-Justiz RS0047568). Allerdings darf eine Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen nur dann erfolgen, wenn den Unterhaltsschuldner ein Verschulden daran trifft, dass er keine Erwerbstätigkeit ausübt (RIS-Justiz RS0047495); Maßstab hiefür ist stets das Verhalten eines pflichtgemäßen rechtschaffenen Familienvaters (10 Ob 2184/96s; RIS-Justiz RS0047495).
2. Wenngleich die Anwendung der Anspannungstheorie grundsätzlich eine Frage des Einzelfalles darstellt (RIS-Justiz RS0007096), betrifft der vorliegende Fall doch die Grundsatzfrage, ob im Rahmen der Anspannungstheorie den Unterhaltsschuldner eine Obliegenheit trifft, sich einer Behandlung einer der Ausübung von Erwerbstätigkeit entgegenstehenden Erkrankung zu unterziehen.
3.1. In der österreichischen Lehre und Rechtsprechung wurde - soweit ersichtlich - diese Frage noch nicht näher behandelt. Zum Sozialversicherungsrecht judiziert der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass der Versicherte die Interessen der Sozialversicherungsanstalt und damit auch der anderen Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren hat, will er seine Ansprüche nicht verlieren. Zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit ist dem Versicherten etwa die Durchführung von - allenfalls auch mehrmaligen - Operationen zumutbar (10 ObS 331/92 = SSV-NF 7/8; 10 ObS 5/00h; RIS-Justiz RS0084876; vgl auch RS0087360 und RS0085035). Gleiches wurde auch für eine unterlassene psychotherapeutische (10 ObS 253/94) oder antidepressive (10 ObS 193/94) Behandlung ausgesprochen.
3.2. In diesem Sinne würde auch eine unterlassene Heilbehandlung von beherrschbarem Alkoholismus eine Obliegenheitsverletzung darstellen (SZ 61/84 = JBl 1988, 601 = SSV-NF 2/33; RIS-Justiz RS0084912). Dies gilt freilich dann nicht, wenn die notwendige Krankenbehandlung mit unzumutbaren Gefahren verbunden ist (SZ 69/66). Außerdem betont der Oberste Gerichtshof in diesem Zusammenhang in ständiger Rechtsprechung, dass eine Obliegenheitsverletzung nur dann vorliege,
wenn der Alkoholismus noch beherrschbar sei (so bereits SZ 61/84 =
JBl 1988, 601 = SSV-NF 2/33; RIS-Justiz RS0084912). In diesem Sinne
kann eine Alkoholentziehungskur nur beim noch beherrschbaren Fall von Alkoholabusus verlangt werden, wenn also dem Versicherten noch die erforderliche Willenskraft zur Alkoholabstinenz psychisch möglich und zumutbar ist (10 ObS 27/03y).
4. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt die herrschende Lehre und Rechtsprechung in Deutschland auch im Unterhaltsrecht. Demnach ist ein suchtkranker Unterhaltspflichtiger zwar aufgrund seiner Erwerbsobliegenheit gehalten, seine Sucht mit allen Kräften zu bekämpfen und sich der notwendigen Entziehungsbehandlung zu unterziehen. Eine Verletzung dieser Obliegenheit kann dem Unterhaltspflichtigen aber nur dann zugerechnet werden, wenn er die Notwendigkeit der Behandlung erkennt und die Fähigkeit besitzt, nach dieser Einsicht zu handeln (Engler/Kaiser in Staudinger [2000] § 1603 BGB Rz 208 mwN).
5. Diese Überlegungen sind nach Auffassung des erkennenden Senates auch auf geistige Störungen und Erkrankungen zu übertragen. Damit erweist sich aber der Fall als noch nicht spruchreif, ist doch nicht geklärt, ob die Weigerung der Kindesmutter, sich einer - nach Ansicht des Sachverständigen jedenfalls möglichen und nicht die Gefahr einer Sucht bewirkenden - medikamentösen Therapie zu unterziehen, Folge einer gerade durch die Krankheit bzw geistige Störung bedingten zumindest insoweit fehlenden oder verminderten Einsichtsfähigkeit ist, oder ob die Kindesmutter in der Lage wäre, die Notwendigkeit der Behandlung zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht daher Feststellungen im aufgezeigten Sinn zu treffen haben.
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