OGH 10ObS193/94

OGH10ObS193/9418.10.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dipl.Ing.Dr.Hans Peter Bobek (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Klaus Hajek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Renate K*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Sylvia Groß-Stampfl, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Mai 1994, GZ 7 Rs 28/94-58, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 20. Oktober 1993, GZ 21 Cgs 250/92-53, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 21.6.1990 wies die Beklagte den auf eine Berufsunfähigkeitspension gerichteten Antrag der Klägerin vom 5.4.1990 mangels Berufsunfähigkeit ab.

Das auf eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.5.1990 gerichtete Klagebegehren stützt sich im wesentlichen darauf, daß die Klägerin infolge ihres körperlichen und geistigen Zustandes ihren erlernten und von 1971 bis 1989 ausgeübten Beruf als kaufmännische Angestellte nicht mehr ausüben könne.

Die Beklagte bestritt dies und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Im ersten Rechtsgang erkannte das Erstgericht das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Rechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Da der Klägerin zur Zeit Ortswechsel und Pendelverkehr nicht zumutbar seien, werde zu erheben sein, welche kaufmännischen Angestelltentätigkeiten der Beschäftigungsgruppen 2 und 3 sie noch ausüben könne und ob und wieviele passende Arbeitsplätze in ihrem Wohnort vorhanden seien. Sollte sich kein entsprechender Arbeitsmarkt feststellen lassen, wäre zu prüfen, ob die Klägerin ihre Pflicht zur Mitwirkung an einer antidepressiven Behandlung verletzt habe.

Im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.

Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Die am 5.9.1943 geborene Klägerin leidet an labilem Bluthochdruck, leichter Verkrümmung der Wirbelsäule, Streckhaltung der Lenden- und Brustwirbelsäule, geringer Abnützung des linken Schultergelenkes ohne Bewegungseinschränkung, jedoch mit Schmerzhaftigkeit der Bewegung, Epikondylitis lateralis links und deutlichem Senk-Spreiz-Fuß mit geringen Krampfadern. Weiters bestehen ein mäßiges Lumbalsyndrom, eine depressiv-weinerliche Verstimmung, die zum Teil auf den Tod des Ehegatten im Frühjahr 1990 zurückzuführen ist, neurotische Züge mit depressiven Einschlägen und eine Somatisierungstendenz. Eine antidepressive Behandlung ist dringend indiziert. Die Klägerin ist durchaus in der Lage, die Notwendigkeit dieser Behandlung zu erkennen, die mit 70 %iger Wahrscheinlichkeit innerhalb von sechs Monaten eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit bewirken würde. Dann wären auch Ortswechsel und Auspendeln möglich und eine vermehrte Belastungsfähigkeit bei Arbeiten unter Zeitdruck zu erwarten. Auch die Überlagerung und Fixierung, die an den orthopädisch-neurologischen Beschwerden mitbeteiligt ist, würde sich ausgleichen lassen. Eine kombinierte antidepressive Behandlung würde mit 80 %iger Wahrscheinlichkeit die depressive Verstimmung heilen. Die modernen antidepressiven Medikamente weisen kaum Nebenwirkungen auf, ihre Einnahme ist ohne weiteres zumutbar. Hätte sich die Klägerin einer antidepressiven Behandlung unterzogen, wäre innerhalb der ersten sechs Wochen ein einmaliger Krankenstand von vier Wochen zu erwarten gewesen. Sie hat sich jedoch bis zum Schluß der Verhandlung nicht in fachärztliche psychiatrische Behandlung begeben und wird weiterhin vom Hausarzt behandelt.

Die Klägerin kann nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen, Gehen und Stehen verrichten. Wenn sie ununterbrochen eine Stunde in einer Körperhaltung gearbeitet hat, muß sie fünf bis zehn Minuten eine andere Körperhaltung einnehmen, kann aber während dieser Zeit arbeiten. Insgesamt muß sie mindestens zwei Stunden täglich sitzen. Bei gleichmäßiger Verteilung kann sie in gebückter Körperhaltung insgesamt nur während eines Drittels, im Knien und Hocken insgesamt während zwei Dritteln und mit über dem Kopf erhobenen Händen während der Hälfte des Arbeitstages arbeiten. Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten, Akkordarbeiten und Tätigkeiten, die Anforderungen an die Konzentration stellen, scheiden aus. Gelegentliche Belastungsspitzen bis zu einem Drittel der Tagesarbeitszeit sind zumutbar. Verweisungsfähigkeit besteht (auch) im Rahmen von Tätigkeiten, die gute Anforderungen an die praktische Intelligenz stellen. Ab 30.10.1992 sind Tätigkeiten in der Zeit von 22.00 bis 6.00 Uhr nicht zumutbar.

Die Klägerin hat den Beruf einer Einzelhandelskauffrau erlernt und von 1971 bis 1989 ausgeübt. Bei Verkäuferinnen ist nicht gewährleistet, daß sie täglich mindestens zwei Stunden sitzen können. Die festgestellte Arbeitsfähigkeit reicht aber (ua) für die Tätigkeit einer Telefonistin aus. Die Einschulung dauert bei einer großen Telefonanlage etwa zwei Wochen. Im für die Klägerin in Frage kommenden Arbeitsmarkt im Bezirk Knittelfeld gibt es allerdings nur zwei Stellen für Telefonistinnen und eine Stelle für eine Bürohilfskraft, bei der die Belastungsspitzen unter einem Drittel der Arbeitszeit liegen.

Nach der Rechtsansicht des Erstgerichtes ist die Klägerin nicht berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG, weil ihr "die sozial gleichwertigen Tätigkeiten einer Bürohilfskraft aufgrund ihres Leistungskalküls" noch zugemutet werden könnten. Sie hätte die Notwendigkeit der antidepressiven Behandlung erkennen können, die innerhalb von sechs Monaten mit 70 %iger, im Falle einer kombinierten Therapie mit 80 %iger Wahrscheinlichkeit zur Zumutbarkeit des Ortswechsels und Auspendelns geführt hätte. Da sich die Klägerin auch durch das vorliegende Verfahren nicht zu einer fachärztlichen psychiatrischen Behandlung veranlaßt gesehen habe, habe sie ihre Mitwirkungspflicht verletzt und sei so zu behandeln, als wenn sie dieser Verpflichtung nachgekommen wäre.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit bestehe nicht.

Zur Mitwirkungspflicht habe der neurologisch-psychiatrische Sachverständige ausgeführt, daß die Klägerin auch zum Stichtag in der Lage gewesen sei, die dringend indizierte antidepressive Behandlung zu erkennen. Sie könne durchaus erfassen, daß eine derartige Medikation eine Besserung ihres Zustandes bringen würde, lehne sie aber offenbar ab, weil sie fürchte, allenfalls wieder arbeitsfähig zu werden. Sie stehe ja auf dem Standpunkt, daß sie absolut arbeitsunfähig sei und diesbezüglich keine Behandlung brauche, weil sie durch die Maßnahmen ihres praktischen Arztes ohnehin alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe. Damit habe sie seit 1.5.1990 ihre Mitwirkungspflicht, sich einer erfolgversprechenden (Chance von 70 bis 80 %) antidepressiven Behandlung zu unterziehen, schuldhaft verletzt und könne nicht anders beurteilt werden, als wenn sie dieser Verpflichtung nachgekommen wäre. Die Ansicht der Klägerin, die beklagte Partei hätte beweisen müssen, daß die antidepressive Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt hätte, sei unrichtig.

In der Revision macht die Klägerin inhaltlich nur unrichtige rechtliche Beurteilung geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern, oder es, allenfalls auch das Urteil der ersten Instanz, aufzuheben.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG zulässige Revision ist nicht berechtigt.

Der erkennende Senat hat wiederholt ausgesprochen, daß die Invaliditätspension bei vorübergehender Invalidität nach § 256 ASVG bis zu jenem Zeitpunkt zuzuerkennen ist, für den mit Sicherheit oder mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der Invalidität vorhergesagt werden kann (zB SSV-NF 7/8 mwN).

Was unter "hoher Wahrscheinlichkeit" zu verstehen ist, erhellt aus mehreren E dieses Senates zur voraussichtlichen Dauer künftiger Krankenstände. Danach darf zwar nicht übersehen werden, daß eine absolut sichere Aussage über künftige Krankenstände medizinisch oft nicht möglich ist, doch muß ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit gefordert werden. Wenn der (medizinische) Sachverständige auf bestehende Zweifel hinweise, müsse er diese mit hoher naturwissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit beseitigen (SSV-NF 3/120; 4/40; 5/70 und 82; 7/76 ["großeWahrscheinlichkeit"]). Da auch bei der Frage der Besserungsfähigkeit eines die Invalidität oder Berufsunfähigkeit bewirkenden körperlichen oder geistigen Zustandes eine Prognose erforderlich ist, treten in diesem Zusammenhang ähnliche Beweisprobleme auf wie bei der Voraussage zukünftiger Krankenstände.

Entgegen der Meinung der Revisionswerberin ist daher vorübergehende Invalidität oder Berufsunfähigkeit nicht erst dann anzunehmen, wenn ihr Wegfall in absehbarer Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Es genügt vielmehr, daß eine diesbezügliche hohe (große) Wahrscheinlichkeit bewiesen, die wesentliche Besserung des die Invalidität oder Berufsunfähigkeit verursachenden Zustandes in absehbarer Zeit also sehr wahrscheinlich ist.

Dies ist im vorliegenden Fall zu bejahen, weil die Klägerin bei Durchführung einer rein medikamentösen antidepressiven Behandlung in höchstens sechs Monaten mit einer 70 %igen Wahrscheinlichkeit, bei Durchführung einer kombinierten antidepressiven Behandlung sogar mit einer 80 %igen Wahrscheinlichkeit wieder auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden und deshalb nicht mehr als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG angesehen werden könnte.

Da die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes auch im übrigen, also insbesondere hinsichtlich der Zumutbarkeit dieser Behandlungen und der Verletzung der diesbezüglichen Mitwirkungspflicht der Klägerin mit der stRsp des erkennenden Senates übereinstimmt (zB SSV-NF 2/33; 3/99; 4/23 und 136; 5/17, 29, 42 und 63; 6/13 und 14; 7/8), ist die Rechtsrüge nicht gerechtfertigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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