Spruch:
Dem Antrag des Generalprokurators auf Erneuerung des Strafverfahrens wird Folge gegeben, das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 23. Mai 1997, GZ 20 Vr 926/96-31, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch I sowie demzufolge auch in den Strafaussprüchen aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur Erneuerung des Verfahrens an das Landesgericht Feldkirch verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem am 11. Februar 1998 in Rechtskraft erwachsenen (ON 43), auch weitere Schuldsprüche sowie einen (Teil-)Freispruch enthaltenden Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 23. Mai 1997 (ON 31) wurden die Angeklagten Ilhan H*****, Mevlüt H*****, Rahime H***** und Mustafa H***** - soweit für das Erneuerungsverfahren von Bedeutung - des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB idF vor BGBl I 2001/130 schuldig erkannt (I).
Danach haben sie am 22. Juli 1996 in Vorarlberg im einverständlichen Zusammenwirken Fadime D***** auf im Urteilstenor detailliert angeführte Art und Weise mit schwerer, gegen sie gerichteter Gewalt, durch Entziehung der persönlichen Freiheit sowie durch gegen sie gerichtete Drohungen mit gegenwärtiger schwerer Gefahr für Leib oder Leben zur Vornahme des Beischlafs mit Ilhan H***** genötigt.
Rechtliche Beurteilung
Der diesem Schuldspruch zugrunde liegende Anklagevorwurf war auf das Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 2 StGB idF vor BGBl I 2001/130 gerichtet gewesen (ON 20), eine Anhörung der Parteien zu dem insoweit geänderten rechtlichen Gesichtspunkt (§ 262 erster Satz StPO) hat nicht stattgefunden (ON 30).
Mit Erkenntnis vom 20. April 2006 (Application no. 42780/98) stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine durch die Vorgangsweise des Landesgerichtes Feldkirch im Verfahren AZ 20 Vr 926/96 erfolgte Verletzung des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK iVm Art 6 Abs 1 MRK fest, weil das Gericht bei der Ausübung seines Rechts auf Umqualifizierung der inkriminierten Handlungen seiner Verpflichtung, den Angeklagten die Möglichkeit zur Wahrnehmung ihres Rechts auf diesbezügliche Verteidigung in einer praktikablen und wirksamen Weise sowie in angemessener Zeit zu gewähren, nicht nachgekommen ist. Aufgrund des Fehlens einer realen Möglichkeit, diesen Mangel zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt zu beseitigen, seien die Angeklagten an der wirksamen Ausübung ihrer Verteidigungsrechte behindert worden.
Der Gerichtshof wies insbesondere darauf hin, dass Art 6 Abs 3 lit a MRK dem Angeklagten das Recht zusichert, nicht nur über die ihm angelasteten Taten, sondern auch über deren rechtliche Charakteristik in Kenntnis gesetzt zu werden. Dies sei eine wesentliche Voraussetzung für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen dieser Informationspflicht und dem Recht des Angeklagten auf Vorbereitung seiner Verteidigung (Art 6 Abs 3 lit b MRK) müssen die erforderlichen Informationen entweder in der Anklageschrift oder zumindest im Zuge des Erkenntnisverfahrens konkret erteilt werden. Der bloße Hinweis auf die abstrakte Möglichkeit einer von der Anklage abweichenden rechtlichen Qualifikation durch das erkennende Gericht sei nicht ausreichend.
Aufgrund dieses Erkenntnisses beantragte der Generalprokurator die Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO.
Ausgehend von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind die Voraussetzungen für die Erneuerung des Strafverfahrens gegeben, weil nicht auszuschließen ist, dass die darin als konventionswidrig erachtete Vorgangsweise, die Parteien nicht über die geänderten rechtlichen Gesichtspunkte zu hören, einen für die Angeklagten nachteiligen Einfluss auf den Inhalt der sie betreffenden strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte (§ 363a Abs 1 StPO).
Wenngleich das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 23. Mai 1997 (ON 31) von den Rechtsmittelgerichten bestätigt worden ist (ON 38, 43), war die Sache gemäß § 363c Abs 2 StPO an das Erstgericht zu verweisen, weil die Grundrechtsverletzung ursprünglich vor diesem aufgetreten ist (Reindl, WK-StPO § 363c Rz 8).
Durch die Aufhebung des Schuldspruchs I des Ersturteils sowie der Strafaussprüche und die darauf bezogene Anordnung der Verfahrenserneuerung ist auch allen darauf basierenden Verfahrensschritten, insbesonders der Berufungsentscheidung des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 11. Februar 1998 (ON 43) und dem jenen Schuldspruch betreffenden Teil des Erkenntnisses des Obersten Gerichtshofes vom 2. Dezember 1997 (ON 38) der Boden entzogen (vgl 14 Os 82/05y, 15 Os 109/05a).
Das Begehren der Verurteilten, das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch zur Gänze aufzuheben, geht fehl, weil dieses nur hinsichtlich des Schuldspruchs I vom Erneuerungsantrag umfasst und solcherart auch lediglich in diesem Umfang Gegenstand der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ist.
Mit ihrem weiteren Vorbringen sind die Verurteilten auf das erneuerte Verfahren zu verweisen, wobei zur Problematik der Bindung an die Anträge des Anklägers auf § 262 StPO hingewiesen und in Bezug auf den Verjährungseinwand festgehalten wird, dass nach ständiger Judikatur ab Rechtskraft eines über die Tat gefällten verurteilenden Erkenntnisses für die Dauer dessen Bestandes der Fortlauf der Verfolgungs-Verjährungsfrist (schon begrifflich) ausgeschlossen ist (RIS-Justiz RS0091817 und RS0091834); dies gilt auch im Fall der Erneuerung des Strafverfahrens nach §§ 363a ff StPO. Im erneuerten Verfahren wird die mit dem StRÄG 2004, BGBl I 2004/15 erfolgte Neufassung des § 201 StGB zu beachten und iSd §§ 1, 61 StGB vorzugehen sein (Art VII StRÄG 2004); gegebenenfalls ist § 262 StPO Rechnung zu tragen. Allenfalls zu verhängende Strafen dürfen nicht strenger ausgemessen werden, als das frühere Urteil ausgesprochen hat (§ 363b Abs 3 letzter Satz StPO), wobei die Probezeit einer im erneuerten Verfahren bedingt nachgesehenen Sanktion gegebenenfalls nicht von neuem zu laufen beginnt (13 Os 106/03; Ratz, WK-StPO § 290 Rz 55).
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