OGH 6Ob184/06m

OGH6Ob184/06m31.8.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler und Univ. Doz. Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 24. Mai 1990 geborenen Minderjährigen Nina K***** über den Revisionsrekurs der Minderjährigen, vertreten durch das Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge, Bezirke 14, 15 und 16, 1150 Wien, Gasgasse 8-10, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. April 2006, GZ 43 R 245/06g, 43 R 246/06d-U49, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 17. März 2006, GZ 35 P 73/05m-U42, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die in Ansehung der ersatzlosen Aufhebung des Beschlusses U 25 durch das Rekursgericht als nicht in Beschwerde gezogen unberührt bleiben, werden dahingehend abgeändert, dass sie - einschließlich der unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen Abweisung des Herabsetzungsbegehrens für den Zeitraum 1.1. bis 30.6.2005 - zu lauten haben wie folgt:

„1. Die dem Kindesvater Karl K*****, gegenüber seiner minderjährigen Tochter Nina Maria Elisabeth K***** auferlegte Unterhaltsverpflichtung von zuletzt EUR 293 monatlich aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 9. 12. 2002, GZ 2 P 227/97a-265, wird beginnend mit 1. 7. 2005 auf den Betrag von EUR 140 monatlich herabgesetzt.

2. Das Mehrbegehren des Kindesvaters, seine Geldunterhaltsverpflichtung für den Zeitraum ab 1. 1. 2005 auf monatlich EUR 50 herabzusetzen, wird abgewiesen."

Text

Begründung

Der Kindesvater ist aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 9. 12. 2002 zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von EUR 293 für seine Tochter Nina verpflichtet. Diese Entscheidung beruhte auf dem Einverständnis der Parteien.

Über Antrag des Vaters setzte das Erstgericht die Unterhaltsverpflichtung beginnend mit 1. 7. 2005 auf monatlich EUR 50 herab und wies das Mehrbegehren, die Unterhaltsverpflichtung bereits ab 1. 1. 2005 auf monatlich EUR 50 herabzusetzen, ab. Dabei ging es von einem monatlichen Arbeitslosengeld des Vaters von rund EUR 628,20 aus. Im antragsabweisenden Teil erwuchs der Beschluss in Rechtskraft. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung im antragsstattgebenden Teil. Aus dem Umstand, dass der Kindesvater im gemeinsamen Haushalt mit seiner Ehegattin lebe, ergebe sich keine Erhöhung der Bemessungsgrundlage. Es sei demnach von einem Bezug des Vaters von monatlich rund EUR 630 auszugehen. Davon ausgehend bleibe für eine Unterhaltsbemessung in einem monatlich EUR 50 übersteigenden Ausmaß kein Raum.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil die Frage, inwieweit der Umstand, dass der Unterhaltspflichtige in häuslicher Gemeinschaft mit einem Ehegatten oder Lebensgefährten lebt, für den Geldunterhaltsanspruch von Bedeutung sei, von der Rechtsprechung bisher nicht beantwortet sei.

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig; er ist auch inhaltlich berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung ist die Unterhaltsbemessung nach der Prozentsatzkomponente für durchschnittliche Verhältnisse eine brauchbare Handhabe, um den Unterhaltsberechtigten an den Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen angemessen teilhaben zu lassen (RIS-Justiz RS0047427). Dabei handelt es sich jedoch um eine bloße Orientierungshilfe. Nach ständiger Rechtsprechung können die Prozentsätze bei überdurchschnittlichem Einkommen unterschritten, bei unterdurchschnittlichem Einkommen aber überschritten werden (4 Ob 2253/96v; 6 Ob 114/99b ua).

Bei Anwendung der Prozentkomponente ergibt sich hier ein monatlicher Unterhaltsbetrag von EUR 140.

2. Nach neuerer Rechtsprechung ist bei der Unterhaltsbemessung jedoch eine absolute Leistungsgrenze zu berücksichtigen, die nicht zu Lasten des Unterhaltsschuldners überschritten werden darf. Ihm hat jener Betrag zu verbleiben, der zur Erhaltung seiner Körperkräfte und seiner geistigen Persönlichkeit unbedingt notwendig ist (3 Ob 5/94 = SZ 67/47; 5 Ob 48/04a; 6 Ob 52/06z).

3. Hilfestellung für die Ermittlung dieser Leistungsgrenze im Einzelfall bieten die Bestimmungen über das Existenzminimum nach §§ 291a, 292b EO (5 Ob 48/04a). Dabei ist der erhöhte allgemeine Grundbetrag nach § 291a Abs 2 Z 1 EO maßgeblich, weil im Unterhaltsrecht grundsätzlich sämtliche Jahreseinkünfte auf zwölf Monate umgelegt werden (vgl Gitschthaler, Zur finanziellen Belastbarkeit eines Unterhaltspflichtigen, JBl 1995, 808; Kolmasch,

Die aktuellen variablen Werte im Kindesunterhaltsrecht, ZAK 2006/8; 6 Ob 52/06z).

Nach § 291a Abs 2 Z 1 EO erhöht sich der Betrag nach § 291a Abs 1 EO iVm § 293 Abs 1 lit a ASVG um ein Sechstel, wenn der Verpflichtete keine Leistungen nach § 290b EO erhält. Der Ausgleichszulagenrichtsatz für alleinstehende Personen nach § 293 Abs 1 lit a ASVG beträgt derzeit EUR 690. Unter Hinzurechnung von einem Sechstel (§ 291a Abs 2 Z 1 EO) ergibt dies einen erhöhten allgemeinen Grundbetrag von EUR 805 zwölf Mal im Jahr. Bei der Exekution wegen eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs haben jedoch nach § 291b Abs 2 EO dem Verpflichteten lediglich 75 % des unpfändbaren Freibetrags nach § 291a EO zu verbleiben. Dies ergibt im vorliegenden Fall einen Betrag von EUR 603,75.

4. Nach § 292b Z 1 EO kann das Exekutionsgericht jedoch auf Antrag den für Forderungen nach § 291b Abs 1 EO geltenden unpfändbaren Freibetrag angemessen herabsetzen, wenn laufende gesetzliche Unterhaltsforderungen durch die Exekution nicht zur Gänze hereingebracht werden können. Diese Möglichkeit ist auch bei der Festlegung der absoluten Leistungsgrenze des Unterhaltspflichtigen zu berücksichtigen. Der Verweis des Gesetzes auf die „angemessene" Herabsetzung bedeutet nach den Gesetzesmaterialien (181 BlgNR 18. GP 34), dass die Interessen aller Unterhaltsgläubiger zu berücksichtigen sind. Es ist ein Betrag zu wählen, der alle Unterhaltsansprüche anteilsmäßig gleich abdeckt (vgl RIS-Justiz RS0013458). Da die vom Gesetzgeber angestrebte Verteilung der vorhandenen Mittel die jeweiligen Umstände der Betroffenen berücksichtigen muss, scheidet eine genaue Berechnung des Herabsetzungsbetrages bzw des dem Unterhaltsschuldner zu verbleibenden Betrages in der Regel aus. Es ist vielmehr eine dem konkreten Einzelfall gerecht werdende Lösung zu suchen (8 Ob 605/93 = ÖA 1995, 160; 10 Ob 83/00b; 5 Ob 48/04a ua). Wenngleich es sich bei der Frage, inwieweit das Existenzminimum nach § 291b EO herabgesetzt werden kann, in der Regel um keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG handelt, gilt dies nur für die Ausmittlung im Einzelfall, nicht aber für die hier zu beantwortende Frage nach den dabei zu beachtenden Kriterien.

5. Die Möglichkeit der Herabsetzung des unpfändbaren Freibetrags nach § 292b Abs 1 EO verbietet es, generell ein Unterhaltsexistenzminimum (absolute Leistungsgrenze) in Höhe von EUR 600 (zwölf Mal jährlich) anzusetzen. Vielmehr ermöglicht der klare Gesetzeswortlaut auch in den Fällen, in denen der Verpflichtete bloß Einkünfte in Höhe des (allgemeinen oder erhöhten) Grundbetrages nach § 291a EO erzielt, eine Herabsetzung, wenn laufende Unterhaltsforderungen nicht hereingebracht werden können. Dabei ist auch zu beachten, dass dann, wenn das Gesetz eine absolute Untergrenze für den dem Verpflichteten zur Deckung seines Geldbedarfs jedenfalls zu verbleibenden Betrag aufstellt, diese wesentlich niedriger gezogen ist. So hat nach § 292 Abs 4 letzter Satz EO bei der Zusammenrechnung von beschränkt pfändbaren Geldforderungen mit Ansprüchen auf Sachleistungen dem Verpflichteten nur der halbe allgemeine Grundbetrag nach § 291a Abs 1 bzw § 291b Abs 2 EO zu verbleiben.

6. Der Oberste Gerichtshof verkennt nicht, dass im Fall des § 292 Abs 4 EO dem Verpflichteten auch Sachleistungen zukommen. Die Überlegung, dass der absolute Geldunterhaltsbedarf geringer ist, wenn üblicherweise aus dem Existenzminimum abgedeckte Bedürfnisse wie Verpflegung oder Unterkunft vom Dienstgeber beigestellt werden, gilt jedoch in gleicher Weise für den hier vorliegenden Fall, dass der Unterhaltspflichtige mit einem über eigene Einkünfte verfügenden Ehegatten oder Lebensgefährten zusammenlebt, sodass nach der allgemeinen Lebenserfahrung davon auszugehen ist, dass sich dieser an den Lebenshaltungskosten beteiligt. Im Rahmen der vom Gericht nach § 291b EO zu treffenden Ermessensentscheidung ist daher auch zu berücksichtigen, ob der Verpflichtete allein lebt oder nicht, mindert doch, wenn sein Ehepartner oder Lebensgefährte sich an den regelmäßigen Fixkosten beteiligt, dies die eigene finanzielle Belastung des Unterhaltspflichtigen doch deutlich.

Die Argumentation des Rekursgerichts, die Bemessungsgrundlage erfahre durch den Umstand, dass sich der Ehegatte des Unterhaltsschuldners an der Tragung der Wohnungskosten beteiligt, keine Erhöhung, trifft zweifellos zu. Ebenso trifft zu, dass das Existenzminimum nach § 291a EO grundsätzlich unabhängig davon zusteht, ob der Verpflichtete allein lebt oder nicht. Anderes gilt allerdings im Rahmen der hier - wenngleich nur im Wege der Vorfragebeurteilung bei der Unterhaltsbemessung - vorzunehmenden Prüfung der Möglichkeit der angemessenen Herabsetzung nach § 292b EO. Eine Differenzierung danach, ob der Verpflichtete die Wohnungskosten allein zu tragen hat oder sich daran jemand anderer beteiligt, findet sich im Gesetz auch in anderem Zusammenhang. So unterscheidet § 293 Abs 1 lit a ASVG hinsichtlich des Richtsatzes für Pensionsberechtigte, die mit dem Ehegatten im gemeinsamen Haushalt leben und solchen, bei denen dies nicht zutrifft. Im letzteren Fall, auf den § 291a Abs 1 EO verweist, beträgt der Richtsatz EUR 690, im ersteren Fall hingegen nicht etwa das Doppelte dieses Betrages, sondern bloß EUR 1.055,99. Wenngleich im Sinne der vorstehenden Ausführungen die Angemessenheitsgrenze iSd § 292b EO einer exakten ziffernmäßigen Berechnung nicht zugänglich ist, kann doch zur Verdeutlichung des dem Gesetzgeber vorschwebenden Ausmaßes der Ersparnis bei gemeinsamer Haushaltsführung auf folgende Überlegungen verwiesen werden:

Die Hälfte von EUR 1.055,99 beträgt EUR 527,99. Unter Hinzurechnung von einem Sechstel (vgl § 291a Abs 2 Z 1 EO) ergibt dies EUR 615,99. Davon 75 % (vgl § 291b Abs 2 EO) ergibt EUR 461,99 als Anhaltspunkt für die absolute Untergrenze des Geldunterhaltsbedarfs eines Unterhaltspflichtigen, der nicht für seine gesamten Wohnungskosten selbst aufzukommen hat. Dies bedeutet aber, dass der sich bei Anwendung der Prozentkomponente von im vorliegenden Fall 22 % rein rechnerisch ergebende Unterhalt von EUR 140 monatlich dem Verpflichteten ohne Weiters zumutbar ist. Die von der bisherigen Rechtsprechung zutreffend betonte Erhaltung der Körperkräfte und der geistigen Persönlichkeit des Unterhaltsschuldners ist dadurch nicht gefährdet, weil nach der allgemeinen Lebenserfahrung davon auszugehen ist, dass die Ehegattin oder Lebensgefährtin, die im vorliegenden Fall über eigenes - wenn auch nach der Aktenlage nicht allzu hohes - Einkommen (Notstandshilfe) verfügt, angemessen zur Deckung der monatlichen Fixkosten beiträgt.

Die Differenzierung zwischen allein und im gemeinsamen Haushalt mit einem Ehepartner oder Lebensgefährten wohnenden Unterhaltsschuldnern ist somit im Gesetz selbst angelegt, sodass es im vorliegenden Fall keines Eingehens auf den von der Rechtsprechung entwickelten und von der Lehre gebilligten Grundsatz bedarf, wonach im Regelfall ein Unterschreiten der Grenze des § 291b Abs 2 EO nur dann notwendig ist, wenn dem Kind kein subsidiär zur Abdeckung des Fehlbetrages verpflichteter betreuender Elternteil zur Verfügung steht (in diesem Sinne 6 Ob 211/00y; vgl auch Schwimann, Unterhaltsrecht² 41; Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht³ 28; Gitschthaler, Unterhaltsrecht Rz 268 E 5 und 6).

Die Entscheidung des Rekursgerichts liefe demgegenüber darauf hinaus, dass dem Verpflichteten das Unterhaltsexistenzminimum nach § 291b Abs 2 EO zur Gänze verbliebe, obwohl der Unterhalt nur zu etwas mehr als einem Drittel bezahlt wird. Dass eine derartige Interessenabwägung dem Gebot des Gesetzes, die Interessen aller Beteiligten ausgewogen zu berücksichtigen, nicht entspricht, liegt auf der Hand.

7. Da sich somit im vorliegenden Fall auch bei Orientierung der Unterhaltsbemessung an den Grundsätzen des Exekutionsrechts keine Reduktion des nach der Prozentkomponente ermittelten Unterhaltsbetrages ergibt, bedurfte es auch keines Eingehens auf die - bereits in der Vorentscheidung des erkennenden Senates 6 Ob 52/06z offen gelassene - Frage, ob aufgrund des Konkurses des Kindesvaters die in der Entscheidung 1 Ob 191/01x (= SZ 74/138) entwickelte sogenannte Differenzmethode anzuwenden ist, wonach der Unterhalt nur in Höhe der Differenz zwischen dem Existenzminimum nach § 291a EO und jenem nach § 291b EO festgesetzt werden könnte (ablehnend dazu im Schrifttum neuerdings Kodek, Zur Unterhaltsbemessung im Konkurs, ZAK 2006, 146).

Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher in Stattgebung des Revisionsrekurses spruchgemäß abzuändern.

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