OGH 3Ob78/06a

OGH3Ob78/06a27.6.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Zechner, Dr. Prückner, Dr. Sailer und Dr. Jensik als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Niklas F*****, geboren am 1. Dezember 2003, und Julian F*****, geboren am 20. Jänner 2005, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Anita F*****, vertreten durch Dr. Fritz Vierthaler, Rechtsanwalt in Gmunden als Verfahrenshelfer, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 8. Februar 2006, GZ 21 R 23/06s-26, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Bad Ischl vom 23. November 2005, GZ 1 P 61/05v-S14, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Aus Anlass des außerordentlichen Revisionsrekurses werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben.

Die Pflegschaftssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Text

Begründung

Das Land Oberösterreich, vertreten durch das Jugendamt der örtlichen Bezirkshauptmannschaft, beantragte mit einem am 24. Mai 2005 eingebrachten Schriftsatz, der Mutter die gesamte Obsorge über die im Zeitpunkt der zweitinstanzlichen Entscheidung ein- bzw. zweijährigen Kinder zu entziehen und dem Land als Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen. Nach dem Vorbringen stammten die „ursprünglich als ehelich geltenden" Kinder nicht vom Ehemann der Mutter, von dem sie getrennt lebe, sondern von einem anderen, namentlich genannten Mann. Unterlagen zum „Verfahren zur Vaterschaft" lägen beim Erstgericht auf.

Das Erstgericht gab dem Antrag statt. Feststellungen zur Abstammung der Kinder oder Erörterungen der bestehenden Obsorgeregelung enthält seine Entscheidung nicht.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Erst nach Einlangen des außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter erkannte das Erstgericht seinem Beschluss vorläufig Vollstreckbarkeit zu.

Aus Anlass des außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter erweist sich die Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen als notwendig. Während der Ehemann der Mutter von der ihm vom Obersten Gerichtshof gebotenen Möglichkeit, eine Rechtsmittelbeantwortung einzubringen, nicht Gebrauch machte, erstattete das Land eine solche.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Beschlüssen der Vorinstanzen geht zwar hervor, dass die Mutter in aufrechter Ehe lebt, jedoch nicht - auch nicht aus dem erstgerichtlichen Akt, nur im Pflegschaftsbogen wird ein anderer Mann als der Ehemann der Mutter als Vater bezeichnet -, ob der Mutter die Obsorge allein oder gemeinsam mit ihrem als ehelicher Vater geltenden Ehemann zusteht.

Die Verletzung des rechtlichen Gehörs iSd § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG ist ein Revisionsrekursgrund (§ 66 Abs 1 Z 1 AußStrG; in der Entscheidung 1 Ob 236/05w weiterhin als „Nichtigkeit" bezeichnet), der - analog § 55 Abs 3 AußStrG - auch von Amts wegen wahrzunehmen ist, es sei denn, der angefochtene Beschluss ließe sich ohne Eingriff in die Rechte des bisher im Verfahren nicht Vertretenen bestätigen (1 Ob 236/05w; aA 5 Ob 174/05g; 7 Ob 66/06s [ebenfalls für amtswegige Wahrnehmung], allerdings zu eng: Aufhebung nur dann „wenn der Nichtigkeitsgrund zum Nachteil des Rechtsmittelwerbers ausschlagen könnte"; zu 5 Ob 174/05g wurde die Verletzung seines Gehörs vom Rechtsmittelwerber releviert; zu 7 Ob 66/06s machte ein Antragsteller die Verletzung des Gehörs einer Amtspartei geltend, obwohl die Vorinstanzen den Antrag abgewiesen hatten).

Im vorliegenden Fall lässt sich der angefochtene Beschluss nicht bestätigen. Die mögliche Verletzung des rechtlichen Gehörs eines Obsorgeberechtigten lässt ein solches Vorgehen nicht zu. Eine Heilung durch Eintritt des Ehemanns der Mutter und allenfalls obsorgeberechtigten Vaters ins Verfahren (§ 58 Abs 2 AußStrG) erfolgte ja nicht (iglS Fucik/Kloiber, AußStrG § 58 Rz 1). Noch weniger kommt eine Abänderung ohne ergänzende Erhebungen (§ 58 Abs 3 AußStrG) in Betracht, weil ausgehend von den Feststellungen der Tatsacheninstanzen die sofortige Abweisung des Antrags auf keinen Fall angezeigt ist. Die Entscheidung, ob den Eltern nach § 176 Abs 1 ABGB die Obsorge zu entziehen und gemäß § 213 ABGB dem zuständigen Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen, setzt die Gefährdung des Kindeswohls voraus, der Wechsel in den Pflege- und Erziehungsverhältnissen muss im Interesse des Kindes dringend geboten ist; bei der Beurteilung der Frage ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (EvBl 1979/42; 7 Ob 79/05a uva; RIS-Justiz RS0048699, RS0047841). Die Änderung der Obsorgeverhältnisse darf nur als Notmaßnahme angeordnet werden (RIS-Justiz RS0047841 [T 10]). Der Obsorgeberechtigte muss seine elterlichen Befugnisse nicht missbrauchen, es genügt, dass er die elterlichen Pflichten subjektiv gröblich vernachlässigt oder objektiv nicht erfüllt bzw durch sein Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährdet (RIS-Justiz RS0048633). Bei der Entscheidung ist nicht nur von der momentanen Situation auszugehen, sondern es sind auch Zukunftsprognosen zu stellen (RIS-Justiz RS0048632; zuletzt 7 Ob 74/06t). Die Ausführungen im Revisionsrekurs lassen eine unrichtige rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen nicht erkennen.

Unter der Voraussetzung, dass die Vaterschaftsvermutung des § 138 ABGB weiterhin aufrecht ist, wovon auszugehen ist, so lange nicht die Nichtabstammung der Kinder von ihm iSd § 156 ABGB rechtskräftig festgestellt wird, wäre allerdings der Ehemann der Mutter - die Ehe soll nach dem Sachverständigengutachten seit 1999 bestehen - als Vater nach § 144 ABGB von Gesetzes wegen für die Kinder obsorgeberechtigt. Nach dem Entzug der mütterlichen Obsorge käme ihm diese nach § 145 ABGB allein zu. Dann bewirkte aber die bestätigte Entscheidung des Erstgerichts durch die Übertragung der Obsorge der Mutter an das Land entweder, dass er entgegen der zitierten Norm nur noch gemeinsam mit dem Land dazu berechtigt (und verpflichtet) wäre, oder es würde damit auch ihm die Obsorge ganz entzogen, selbst wenn dies nicht ausdrücklich ausgesprochen wird. Das wäre der Fall, wenn man die Entscheidung im Sinn der Übertragung der alleinigen Obsorge an das Land verstünde. In beiden Fällen würde durch die Entscheidungen der Vorinstanzen in seine rechtlich geschützte Stellung eingegriffen, weshalb er nach der Aktenlage gemäß § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG Partei des vorliegenden Verfahrens ist, in das er bis zur Zustellung des außerordentlichen Revisionsrekurses nicht einbezogen wurde. Dadurch wurde sein rechtliches Gehör verletzt. Wie sich nun aus § 58 Abs 3 AußStrG deutlich ergibt, ist es nicht Aufgabe des Rechtsmittelgerichts, ergänzende Erhebungen zu pflegen. Ungeachtet des in Abs 1 leg. cit. normierten Vorrangs der Sachentscheidung kommt daher nur eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen in Betracht, weil auch das Gericht zweiter Instanz nur nach Erhebungen eine neuerliche Sachentscheidung treffen könnte.

Das Erstgericht wird dem gemäß nach Ergänzung seiner Erhebungen im Hinblick auf die Obsorge des gesetzlich vermuteten Vaters, allenfalls nach dessen Einbeziehung in das Verfahren erneut über den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers und erforderlichenfalls auch über die Entziehung der Obsorge des Vaters zu entscheiden haben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher nach § 70 Abs 3 AußStrG aufzuheben, die Pflegschaftssache ist aber zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

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