OGH 10ObS22/06t

OGH10ObS22/06t7.3.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Friedrich Stefan (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ulrike Kargl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Vitus E*****, vertreten durch Dr. Karl Heinz Kramer, Rechtsanwalt in Villach, gegen die beklagte Partei Kärntner Gebietskrankenkasse, 9021 Klagenfurt, Kempfstraße 8, vertreten durch Dr. Gerhard Fink und andere Rechtsanwälte in Klagenfurt, wegen Kostenübernahme, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Oktober 2005, GZ 8 Rs 71/05f-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 23. Juni 2005, GZ 30 Cgs 62/05t-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Revision des Klägers sind weitere Verfahrenskosten. Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung

Der am 10. 5. 1946 geborene Kläger leidet seit dem Jahr 1995 als Folge einer Pancreatektomie an Diabetes mellitus. Weiters litt er an einer Induratio penis plastica, die mittels Nesbit-Plastik im Jahr 2000 korrigiert wurde. Ebenfalls seit dem Jahr 2000 leidet der Kläger auch an einer erektilen Dysfunktion, die anfänglich mit „Alprostadil" und später mit „Caverject" therapiert wurde, wobei die Kosten zunächst von der beklagten Partei übernommen wurden. Mit dem Medikament „Caverject" wird eine chronische erektile Dysfunktion neurogener, vaskulärer, psychogener oder kombinierter Ätiologie therapiert, dh wenn eine ungenügende Gliedsteife auf Grund einer Nerven- oder Gefäßerkrankung oder einer psychischen Erkrankung oder einer Kombination vorgenannter Ursachen vorliegt, vermag das Medikament nach Injektion in den Schwellkörper des Gliedes eine für den Geschlechtsverkehr ausreichende Gliedsteife zu erzeugen. Der Heilungserfolg der „Caverject"-Injektion ist das Auftreten einer für den Geschlechtsverkehr ausreichenden Erektion (= Gliedsteife) durch einige Stunden (1-6) nach erfolgter Injektion in den Schwellkörper. Die Grunderkrankung des Klägers (insulinpflichtiger Diabetes mellitus seit mehr als zehn Jahren mit arteriosklerotischen Gefäßveränderungen mit Bluthochdruck sowie Zustand nach TUR-prostatae = Aushobelung der Prostata bei gutartiger Prostatavergrößerung) wird mit dieser Therapie nicht behandelt, wohl aber eine direkte Folge der Gefäßveränderungen, nämlich der daraus resultierenden erektilen Dysfunktion. Diese Therapie ermöglicht einem impotenten Mann das periodisch auftretende Bedürfnis der sexuellen Aktivität mit Vollzug des Geschlechtsverkehrs wahrzunehmen, was ihm sonst unmöglich wäre. Der Kläger ist seit zwölf Jahren mit einer um sechs Jahre jüngeren Frau verheiratet. Er steht wegen seines sexuellen Versagens unter psychischem Druck und hat Angst vor dem Scheitern seiner Beziehung. Mit Bescheid vom 14. 10. 2003 lehnte die beklagte Kärntner Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers auf Übernahme der Kosten des Medikamentes „Alprostadil" ab. In der Begründung dieses Bescheides wurde ausgeführt, dass das dem Kläger verordnete Medikament „Alprostadil 0,02 mg" im Heilmittelverzeichnis des Hauptverbandes nicht angeführt und daher chefarztpflichtig sei. Die Kosten für dieses Medikament würden mangels vergleichbarer registrierter Arzneimittelspezialitäten bezahlt, wenn die gesetzlich festgelegten Kriterien einer ausreichenden, zweckmäßigen und das Maß des Notwendigen nicht überschreitenden Krankenbehandlung erreicht würden. Mittlerweile gäbe es registrierte Arzneimittelspezialitäten mit gesicherter Wirksamkeit, die auf Kassenkosten bezogen werden könnten. Das Arzneimittel „Caverject 20 mg Ampullen" mit Lösungsmittel für eine einmal wöchentliche intracavernöse Anwendung könnte auf Kassenkosten bezogen werden. Dieser Bescheid wurde vom Kläger nicht angefochten und erwuchs daher in Rechtskraft. Mit weiterem Bescheid vom 18. 2. 2005 lehnte die beklagte Kärntner Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers auf Übernahme der Kosten des Medikamentes „Caverject" ab.

Der Kläger begehrt mit der vorliegenden Klage, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, die Kosten für das Arzneimittel Caverject 20 mg Ampullen mit Lösungsmittel für eine einmalige wöchentliche intracavernöse Anwendung ab Antragstellung zu übernehmen. Die beklagte Partei habe zunächst die Kosten für das Heilmittel „Alprostadil" übernommen. Mit Bescheid vom 14. 10. 2003 habe die beklagte Partei eine weitere Kostenübernahme mit der Begründung abgelehnt, dass es mittlerweile das Arzneimittel „Caverject" gebe, welches auf Kosten der beklagten Partei bezogen werden könne. Eine einmalige wöchentliche intracavernöse Anwendung werde somit von der beklagten Partei übernommen. Dieser Bescheid der beklagten Partei vom 14. 10. 2003 sei als individueller Hoheitsakt für die beklagte Partei bindend und könne nicht durch Akte der Selbstverwaltung (Änderung in der Satzung, in den Richtlinien oder in Gesamtverträgen) beschränkt oder aufgehoben werden. Bei der erektilen Dysfunktion des Klägers handle es sich um einen regelwidrigen Zustand, der eine Krankenbehandlung erforderlich mache. Die erektile Dysfunktion habe auch bedeutende negative Auswirkungen auf die Psyche des Klägers. Derartige psychische Krankheiten seien auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinn behandlungsbedürftige Krankheiten. Das Arzneimittel „Caverject" diene daher auch erfolgreich der Behandlung des psychischen Leidens des Klägers. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Wie der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung 10 ObS 227/03k ausgeführt habe, sei die Erektionsfähigkeit des Mannes nach herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen kein lebenswichtiges persönliches Bedürfnis, welches für einen Anspruch auf Heilmittelgewährung nach § 133 Abs 2 ASVG erforderlich wäre. Die Grenze der Leistungspflicht des gesetzlichen Sozialversicherungsträgers, dessen Aufgabe es nicht sei, dem Versicherten durch eine Behandlung maximale Bedürfnisbefriedigung zu ermöglichen, würde bei Gewährung des Heilmittels überschritten. Im Übrigen habe der Hauptverband der Sozialversicherungsträger gemäß § 351c Abs 2 ASVG eine Liste derjenigen Arzneimittelkategorien erstellt, die im Allgemeinen nicht zur Krankenbehandlung iSd § 133 Abs 2 ASVG geeignet seien. In Entsprechung dieser Bestimmung habe der Hauptverband in der Arzneimittelkategorie 5 Arzneimittel zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs mit zwei Spezifizierungen angeführt, nämlich Arzneimittel zur Anreizung bzw Verstärkung des Sexualtriebes und Arzneimittel, die bei vorhandenem Sexualtrieb die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ermöglichten. Die Begründung für die Nichterstattungsfähigkeit für das offensichtlich der zweiten Art der Spezifizierung unterliegende Arzneimittel „Caverject" sei, dass zwar durch dieses die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ermöglicht werde, ohne jedoch im Sinne einer Krankenbehandlung die zugrundeliegende Störung körperlicher und/oder psychischer Natur zu beheben. Das Erstgericht wies ausgehend vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt das Klagebegehren ab. Es vertrat unter Hinweis auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 27. 7. 2004, 10 ObS 227/03k, im Wesentlichen die Auffassung, es handle sich nach den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen in den Bereichen, in denen Bedürfnisse aus der höchstpersönlichen Lebenssphäre des einzelnen Versicherten prägend in den Vordergrund träten - hier bei der Erektionsfähigkeit des Mannes - nicht um „lebenswichtige persönliche Bedürfnisse", deren Ermöglichung § 133 Abs 2 ASVG für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Heilmittelgewährung voraussetze. Soweit ein Versicherter für sich persönlich mit diesen gesellschaftlichen Werten nicht konform gehe, müsse er eine Beseitigung oder Besserung des von ihm persönlich nicht tolerierten Zustandes auf seine eigenen Kosten veranlassen. Eine Bindungswirkung an die im Bescheid der beklagten Partei vom 14. 10. 2003 enthaltene Begründung entbehre jeglicher Rechtsgrundlage.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers keine Folge und billigte die auf die zitierte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gestützte rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes. Soweit in der Berufung geltend gemacht werde, der vorliegende Sachverhalt unterscheide sich schon insofern von dem der Entscheidung 10 ObS 227/03k zugrundeliegenden Sachverhalt, als mit dem vom Kläger begehrten Medikament auch dessen psychische Erkrankungen erfolgreich behandelt werden könnten, sei darauf hinzuweisen, dass der Oberste Gerichtshof bereits im Zusammenhang mit Kosten einer In-vitro-Fertilisation dargelegt habe, dass die Behandlung einer Depression bzw die Behandlung bei auftretender depressiver Reaktion Sache des Psychiaters und nicht des - hier: Urologen - sei. Nur Ersterem sei daher - jedenfalls aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht - die Krankenbehandlung (§ 133 Abs 2 ASVG) zur Herstellung, Festigung oder Besserung der Gesundheit eines psychisch Erkrankten aus dem Sozialversicherungsfall der Krankheit iSd § 120 Abs 1 Z 1 ASVG übertragen und es könne daher auch nur für eine solche Behandlung ein Leistungsbegehren aus dem Titel der Krankenversicherung mit Erfolg erhoben werden. Auch eine Bindungswirkung der Begründung des Bescheides vom 14. 10. 2003 sei vom Erstgericht im Ergebnis schon deshalb mit Recht verneint worden, weil die Begründung einer abweisenden Entscheidung über ein anderes Begehren von Vornherein eine Rechtskraftwirkung nicht entfalten könne und die beklagte Partei über den nunmehr erhobenen Anspruch überdies aufgrund einer geänderten Rechtslage entschieden habe. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nach § 502 Abs 1 ZPO im Hinblick auf die hier auch zu beurteilende Frage, ob die aus den Akten hervorgehende depressive Verstimmung des Klägers einen Kostenübernahmeanspruch allenfalls begründen könnte, zulässig sei.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteiles im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen bzw ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, weil der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung 10 ObS 227/03k die angesprochene Frage inhaltlich nicht behandeln musste. Sie ist im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt. Der Kläger wiederholt in seinen Revisionsausführungen die Ansicht, dem Bescheid der beklagten Partei vom 14. 10. 2003, mit dem eine Kostenübernahme für das Medikament „Alprostadil" unter Hinweis auf das auf Kosten der beklagten Partei beziehbare Medikament „Caverject" rechtskräftig abgelehnt worden sei, komme Bindungswirkung für das vorliegende Verfahren zu, weil der ablehnende Spruch ausschließlich durch seine Begründung getragen werde, weshalb man diese nicht losgelöst vom Spruch betrachten könne. Es könne aber dadurch, dass die bescheiderlassende Behörde ihren Arzneimittelkatalog abändere, ein verbindlicher Bescheid nicht außer Kraft gesetzt werden. Diesen Ausführungen ist entgegenzuhalten, dass die Frage, wie weit die Rechtskraftwirkung eines Bescheides reicht, vom Gericht selbst zu beurteilen ist. Nach ständiger Rechtsprechung entfaltet nur der Spruch des Bescheides einer Verwaltungsbehörde die Bindungswirkung, nicht aber die Begründung der Entscheidung (Schragel in Fasching/Konecny² II/2 § 190 ZPO Rz 14; Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 442; SSV-NF 5/49 ua; RIS-Justiz RS0036948, RS0037015). Nach zutreffender Rechtsansicht der Vorinstanzen kommt daher der bloß in der Begründung des ablehnenden Bescheides vom Versicherungsträger geäußerten Ansicht, der Versicherte habe Anspruch auf Kostenübernahme für ein anderes Medikament, keine derartige Bindungswirkung für das gegenständliche Sozialrechtsverfahren zu.

Weiters macht der Kläger wiederum geltend, der gegenständliche Fall unterscheide sich von dem der Entscheidung 10 ObS 227/03k zugrundeliegenden Sachverhalt insofern entscheidend, als er auch unter erheblichen psychischen Beschwerden, die Ausfluss der erektilen Dysfunktion seien, leide. Psychische Leidenszustände seien zweifellos Krankheiten im sozialversicherungsrechtlichen Sinn und behandelbar. Im Falle des Klägers würden mit dem Medikament „Caverject" erfolgreich auch dessen psychische Beschwerden - insbesondere die depressive Verstimmung - behandelt. Dieses Medikament diene somit zur Beseitigung bzw Linderung einer Krankheit, die auch nach dem sozialversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff eine Krankheit darstelle und behandelbar sei.

Diesen Ausführungen kommt im Sinne der beschlossenen Aufhebung Berechtigung zu.

Nach § 116 Abs 1 Z 2 ASVG trifft die gesetzliche Krankenversicherung unter anderem Vorsorge für den Versicherungsfall der Krankheit. Aus diesem Versicherungsfall nennt § 117 Z 2 ASVG als zu erbringende Leistung der Krankenversicherung unter anderem die Krankenbehandlung. Nach der Definition in § 120 Abs 1 Z 1 ASVG ist Krankheit ein „regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der der Krankenhandlung bedarf". Ziel der Krankenbehandlung ist es nach § 133 Abs 2 ASVG, die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederherzustellen, zu festigen oder zu bessern. Die Krankenbehandlung soll ausreichend und zweckmäßig sein, darf aber das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Während in der Medizin die Krankheit als Störung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens, somit als eine Abweichung von der Norm „Gesundheit" definiert wird, wird in der Krankenversicherung ein Leiden nur bei Behandlungsbedürftigkeit als Krankheit anerkannt (Binder in Tomandl, SV-System 17. ErgLfg 202 f mwN; SSV-NF 3/69 ua; RIS-Justiz RS0084692). Auf die Ursache der Krankheit kommt es nicht an (Tomandl, Grundriss des österr. Sozialrechts5 Rz 161). Da das Gesetz weder die „Regelwidrigkeit" noch die „Behandlungsbedürftigkeit" näher definiert, wurden in der Lehre verschiedene Versuche unternommen, den Krankheitsbegriff zu definieren. Nach Schrammel, Veränderung des Krankenbehandlungsanspruchs durch Vertragspartnerrecht, ZAS 1986, 145 ff [149] ist ein Zustand regelwidrig, wenn aus der Sicht des Versicherten aufgrund störender Symptome das Bedürfnis nach ärztlicher Behandlung besteht, aus der Sicht des Arztes ärztliches Tätigwerden in Form von Diagnose und Therapie erforderlich ist und er nach allgemeiner Auffassung auf Kosten der Versichertengemeinschaft behandelt werden soll. Auch nach Mazal, Krankheitsbegriff und Risikoabgrenzung [1992], 64, 122 ff und 213 ff liegt eine Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn vor, wenn das Krankenversicherungsrecht eine entsprechende Leistung zur Behebung des Zustandes vorsieht und der Zustand unter Bedachtnahme auf die Ziele der Krankenbehandlung und im Hinblick auf ihre Notwendigkeit nach einem sozialen Konsens auch behandelt werden soll. Nach diesen in der Lehre heraus gearbeiteten Kriterien, auf die sich auch die Rechtsprechung - zum Teil mit unterschiedlicher Gewichtung - immer wieder berufen hat (vgl ZAS 1994/18, 203 [Tomandl]; ZAS 2002/10, 84 [K. Posch]), beeinflusst daher auch das gesellschaftliche Grundverständnis das krankenversicherungsrechtliche Leistungsrecht. Unter Berücksichtigung dieses Kriteriums gelangte der erkennende Senat in der bereits mehrfach zitierten Entscheidung 10 ObS 227/03k vom 27. 7. 2004 (= JBl 2005, 527) zu dem Ergebnis, dass die gesetzliche Krankenversicherung dem damaligen Kläger bei wertender Betrachtung des Begriffs der „Krankheit" keine Erstattung der Kosten für Medikamente zur Behandlung einer erektilen Dysfunktion, die die Folge einer behandlungsbedürftigen Grunderkrankung (Diabetes) war, schulde. Der Oberste Gerichtshof begründete diese Auffassung im Wesentlichen damit, dass es sich nach den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen in den Bereichen, in denen Bedürfnisse aus der höchstpersönlichen Lebenssphäre des einzelnen Versicherten prägend in den Vordergrund treten - so wie bei den aus diesem Bereich stammenden Funktionsstörungen (hier: Erektionsfähigkeit des Mannes) - nicht um „lebensfähige persönliche Bedürfnisse", deren Ermöglichung § 133 Abs 2 ASVG für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Heilmittelgewährung voraussetze, handle. Es wurde daher in dem damals zu beurteilenden Fall eine Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenversicherung schon deshalb verneint, weil nach dem gesellschaftlichen Grundverständnis, welches auch im Gesetz seinen Niederschlag gefunden habe, eine erektile Dysfunktion nicht auf Kosten der Sozialversicherung beseitigt bzw vorübergehend behoben werden solle.

Zutreffend macht der Kläger in seiner Revision nunmehr geltend, der vorliegende Fall unterscheide sich von dem der Entscheidung 10 ObS 227/03k zugrundeliegenden Sachverhalt jedenfalls insofern, als er nach seinem Vorbringen als Folge der erektilen Dysfunktion auch bereits an psychischen Problemen mit Krankheitswert leide. Im Sinne der bereits erwähnten Definition von Krankheit in § 120 Abs 1 Z 1 ASVG handelt es sich bei seelischen Leiden zweifellos um einen regelwidrigen Geisteszustand und damit um eine psychische Krankheit (Erkrankung), gleichgültig, welche Ursache sie im konkreten Fall haben mögen (vgl SSV-NF 12/82 = DRdA 1999/27, 222 [Enzlberger]). Liegt also eine psychische Störung „mit Krankheitswert" vor, besteht für den Versicherten ein Rechtsanspruch auf Krankenbehandlung (vgl auch § 135 Abs 1 Z 3 ASVG). Vom Versicherungsfall der Krankheit werden aber nicht nur rein seelische Leidenszustände erfasst sondern auch aus körperlichen und seelischen Komponenten zusammengesetzte Krankheitsbilder, wenn beispielsweise der Ausfall wichtiger körperlicher Funktionen zu einer seelischen Beeinträchtigung führt (vgl Binder, Psychotherapie und sozialversicherungsrechtlicher Krankheitsbegriff, SozSi 1999, 1173 ff [1186]). Löst somit die erektile Dysfunktion, wie dies vom Kläger für sich behauptet wird, psychische Probleme mit Krankheitswert aus und kann davon ausgegangen werden, dass mit erfolgreicher Behandlung der erektilen Dysfunktion auch die psychischen Probleme des Versicherten behoben oder verbessert werden können, kann die Verabreichung von Potenzmitteln auch als notwendige Krankenbehandlung der psychischen Probleme gesehen werden. Eine Kostenübernahme für Potenzmittel durch die gesetzliche Krankenversicherung kommt daher nach Auffassung des erkennenden Senates grundsätzlich dann in Betracht, wenn die mangelnde Erektionsfähigkeit des Mannes zu einem psychischen Leiden führt, dass seinerseits die Krankenbehandlung erforderlich macht. Soweit die beklagte Partei in diesem Zusammenhang in ihrer Revisionsbeantwortung geltend macht, es sei auch bereits in dem vom Obersten Gerichtshof in 10 ObS 227/03k entschiedenen Fall vom damaligen Kläger in der Revision geltend gemacht worden, eine erektile Dysfunktion entfalte negative Auswirkungen auf die Psyche des Betroffenen und Krankheiten der menschlichen Psyche seien als behandlungsbedürftige Krankheiten im sozialversicherungsrechtlichen Sinn anzusehen, ist dem entgegenzuhalten, dass damals keine psychische Beeinträchtigungen des Versicherten aufgrund der erektilen Dysfunktion festgestellt worden waren und die vom damaligen Kläger in der Revision außerhalb des festgestellten Sachverhaltes geltend gemachte bloße Möglichkeit des Umschlagens einer psychischen Belastung in eine psychische Störung mit Krankheitswert nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes noch keine Krankheit und damit auch noch keinen Versicherungsfall iSd § 120 Abs 1 Z 1 ASVG darstellt, weil ein regelwidriger Geisteszustand noch nicht eingetreten ist und ein Leistungsanspruch für Krankheitsverhütung nur für die in § 156 ASVG aufgezählten Maßnahmen vorgesehen ist, worunter dieser Fall jedoch nicht zu subsumieren ist (SSV-NF 12/82 = DRdA 1999/27, 222 [Enzlberger]; SSV-NF 16/76). Aus diesem Grund hatte sich der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung 10 ObS 227/03k mit dieser Frage nicht näher zu befassen.

Da der Kläger im vorliegenden Fall seinen Anspruch jedoch ausdrücklich auch darauf begründet hat, dass die erektile Dysfunktion bei ihm bereits zu psychischen Leidenszuständen mit Krankheitswert geführt hat, welche mit dem von ihm begehrten Medikament erfolgreich behandelt werden könnten, erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, weil die Richtigkeit dieser Behauptung des Klägers von den Tatsacheninstanzen bisher nicht überprüft wurde (vgl SSV-NF 1/9 zur Frage der Beweislast).

Zur Behandlung des Versicherungsfalles der Krankheit (und damit auch zur Beseitigung bzw Linderung von psychischen Leidenszuständen mit Krankheitswert) sieht § 133 Abs 1 ASVG ärztliche Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe vor, wobei die Krankenbehandlung nach Abs 2 dieser Gesetzesstelle ausreichend und zweckmäßig sein muss, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf, und die aufgezählten Leistungen der Krankenbehandlung entweder als Sachleistung oder in Form der Kostenerstattung zur Verfügung gestellt werden. Nach den maßgeblichen Rechtsvorschriften hat ein Versicherter hiebei (nur) Anspruch auf eine seinem Leidenszustand adäquate (ausreichende und zweckmäßige) Behandlung, wobei grundsätzlich alle medizinisch gebotenen Behandlungsmethoden zum Leistungskatalog gehören (SSV-NF 12/82 = DRdA 1999/27, 22 [Enzlberger] mwN).

Das Berufungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Frage, ob die Verabreichung von Potenzmitteln auch als notwendige Krankenbehandlung psychischer Probleme mit Krankheitswert, die Folge einer erektilen Dysfunktion sind, gesehen werden könne, auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur In-Vitro-Fertilisation verwiesen, wonach eine künstliche Insemination keine von der Krankenversicherung zur Behandlung von Depressionen zur Verfügung gestellte Krankenbehandlung darstelle, weil es sich hiebei nicht um eine unmittelbare Behandlung der psychischen Störung, sondern vielmehr um eine Maßnahme handle, bei der ein ganz anderer Erfolg, nämlich die Erfüllung eines bisher versagten Kinderwunsches, im Vordergrund stehe (SSV-NF 12/82 = DRdA 1999/27, 222 [Enzlberger]; 10 ObS 247/98s). Dieser Auffassung lag zugrunde, dass es nach dem in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zitierten Schrifttum keine psychische Indikation (wohl aber Gegenindikationen) für eine extracorporale Befruchtung gibt und aus medizinischer Sicht Schwangerschaft und Geburt, aber eben nicht Depressionsbehandlung die anzustrebenden Erfolgskriterien jeglicher Sterilitätsbehandlung sind. Davon unterscheidet sich aber der vorliegende Fall schon dadurch, dass nach den bisher vorliegenden Verfahrensergebnissen (vgl dazu die Ausführungen des medizinischen Sachverständigen in seinem Gutachten) eine erektile Dysfunktion zweifellos auch zu Depressionen oder zu anderen psychischen Beschwerden führen kann und mit einer erfolgreichen Behandlung der erektilen Dysfunktion auch die psychischen Probleme des Klägers behoben bzw verbessert werden können. Da die erektile Dysfunktion im gegenständlichen Fall somit auch als Auslöser einer gesellschaftlich anerkannten psychischen Krankheit in Frage kommt, kann im Sinne der dargelegten Ausführungen die Verabreichung von Potenzmitteln auch als notwendige Krankenbehandlung der psychischen Probleme gesehen werden. Die Leistungsberechtigten besitzen im Rahmen der für die Krankenbehandlung geltenden Grundsätze Anspruch auf Beistellung der ärztlich verordneten notwendigen Arzneien oder sonstigen Heilmittel, die zur Beseitigung oder Linderung der Krankheit oder zur Sicherung des Heilerfolges dienen (§ 136 Abs 1 ASVG). Der Versicherte hat keinen Anspruch auf Beistellung eines jeden (von ihm gewünschten oder ihm vom Arzt verschriebenen) Heilmittels, es steht ihm nur das im konkreten Fall notwendige und wirtschaftlichste Heilmittel zu. Es soll mit verhältnismäßig geringem Kostenaufwand ein möglichst großer Heilerfolg erzielt werden. In erster Linie soll die Wirksamkeit des Mittels und das Wohl des Kranken ausschlaggebend sein; stehen jedoch mehrere gleich wirksame Heilmittel zur Verfügung, soll das ökonomisch günstigste verschrieben werden. Die Verordnung der Heilmittel erfolgt durch den Arzt auf der Grundlage des vom Hauptverband herausgegebenen Erstattungskodex (früher: Heilmittelverzeichnis). Darin finden sich jene für Österreich zugelassenen, erstattungsfähigen und gesichert lieferbaren Arzneispezialitäten, die nach den in- und ausländischen Erfahrungen und nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft eine therapeutische Wirkung und einen Nutzen für Patienten annehmen lassen (vgl § 31 Abs 3 Z 12 ASVG; Binder in Tomandl, SV-System 17. Erg-Lfg 233 f).

Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat (SSV-NF 3/68 = ZAS 1990/22, 170 [Mazal]; SSV-NF 10/30; DRdA 1997/50, 472 [Binder] ua), schränkt das vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger herausgegebene Heilmittelverzeichnis (nunmehr: Erstattungskodex) das Recht des Versicherten auf die für eine ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung notwendigen Heilmittel nicht ein (vgl auch Tomandl aaO Grundriss5 Rz 162; Thaler/Plank, Heilmittel und Komplementärmedizin in der Krankenversicherung [2005], 45 und 80). Auch Rebhahn, Die Bereitstellung von Arzneimitteln in Grillberger/Mosler [Hrsg], Europäisches Wirtschaftsrecht und soziale Krankenversicherung [2003] 209 ff [223 ff] verweist darauf, dass jeder Leistungsberechtigte bei Krankheit einen gesetzlichen Leistungsanspruch auf eine ausreichende, zweckmäßige und das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Krankenbehandlung hat (§ 133 Abs 2 ASVG), was auch für Heilmittel und damit für Arzneimittel gilt. Die Konkretisierung des Gesetzes erfolgt im Streitfall durch die Gerichte, weil der gesetzliche Leistungsanspruch nach dem Gesetz letztlich nur im Einzelfall und nicht durch abstrakte Regelungen wie das Heilmittelverzeichnis abschließend bestimmt werden darf. Die soziale Krankenversicherung hat demnach keine eigenständige Befugnis den Leistungsumfang hier - bei den Arzneimitteln - endgültig festzulegen.

Es vermag daher auch der Einwand der beklagten Partei, der Hauptverband habe in Entsprechung der Bestimmung des § 351c Abs 2 ASVG eine Negativliste jener Arzneimittelkategorien erstellt, die im Allgemeinen nicht zur Krankenbehandlung iSd § 133 Abs 2 ASVG geeignet seien und dazu gehörten nach der Arzneimittelkategorie 5 auch Arzneimittel zur Anreizung bzw Verstärkung des Sexualtriebes bzw Arzneimittel, die bei vorhandenem Sexualtrieb die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ermöglichten, einen allfälligen gesetzlichen Leistungsanspruch des Klägers auf Kostenübernahme für das begehrte Medikament nicht auszuschließen. Im Übrigen nimmt die für die Nichterstattungsfähigkeit dieser Arzneimittel gegebene Begründung, bei der Verwendung von Arzneimitteln, die bei vorhandenem Sexualtrieb die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ermöglichten, könne zwar eine Krankheit iSd § 120 Abs 1 Z 1 ASVG vorliegen, diese werde jedoch durch das verwendete Arzneimittel nicht beeinflusst oder behandelt, weil durch dieses lediglich die Ausübung des Geschlechtsverkehrs ermöglicht werde, ohne im Sinne einer Krankenbehandlung die zugrundeliegende Störung körperlicher und/oder psychischer Natur zu beheben, nicht auf den hier zu beurteilenden Fall Bedacht, dass nach den Behauptungen des Klägers mit einer erfolgreichen Behandlung der erektilen Dysfunktion auch psychische Leidenszustände mit Krankheitswert behoben bzw verbessert werden können. Da somit, wie bereits oben dargelegt, die bisherigen Verfahrensergebnisse zu einer abschließenden Beurteilung noch nicht ausreichen, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht eine ergänzende Verhandlung und neuerliche Entscheidung aufzutragen.

Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Rechtsmittelkosten des Klägers gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO. Die Entscheidung, dass die beklagte Partei die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen hat, beruht auf § 77 Abs 1 Z 1 ASGG, weil sich kein Hinweis darauf ergeben hat, dass der Kläger der beklagten Partei die Kosten der Revisionsbeantwortung durch Mutwillen, Verschleppung oder Irreführung verursacht hätte (§ 77 Abs 3 ASGG).

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