OGH 10ObS45/05y

OGH10ObS45/05y9.8.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Eveline Umgeher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Scherz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josefa P*****, vertreten durch Dr. Franz Amler, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Dezember 2004, GZ 7 Rs 185/04h-43, womit infolge der Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 5. Juli 2004, GZ 30 Cgs 146/02g-40, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 23. 12. 1951 geborene Klägerin arbeitete in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 4. 2002) als Hilfsarbeiterin. Sie war weder in einem erlernten noch angelernten Beruf tätig. Aufgrund ihres - im Einzelnen festgestellten - Gesundheitszustands sind der Klägerin nur sehr leichte Arbeiten, die wegen des psychologischen Gesamtprofils nur ein durchschnittliches psychologisches Anforderungsprofil haben sollten, möglich. Die Arbeiten können im Gehen, Stehen und Sitzen, im Freien und auch in geschlossenen Räumen über einen normalen Arbeitstag bei Einhaltung der üblichen Pausen ausgeführt werden. Ausgeschlossen sind für die Klägerin Arbeiten in exponierten Lagen, Arbeiten, bei denen sie Lasten von mehr als 5 kg heben oder tragen muss, Arbeiten mit dem linken Arm über Schulterhöhe sowie Akkord- und Fließbandtätigkeiten. Arbeiten im Bücken sowie in vorgebeugter Körperhaltung kann die Klägerin über eine Zeitspanne von zwei Stunden pro Tag, einigermaßen gleichmäßig über einen normalen Arbeitstag verteilt, ausführen, wobei ausgleichsmäßige Bewegungen in der Dauer von jeweils 15 Minuten pro Stunde erforderlich sind. Wegen der bei ihr vorliegenden depressiv getönten Anpassungsstörung und ihrer nur geringen psychischen Belastbarkeit kann die Klägerin nur Arbeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck und mit einer durchschnittlichen Mengenleistung erbringen. Die Handkraft und die Ausdauer der Klägerin liegen im Normalbereich, ihre Handgeschicklichkeit und die Fingerfertigkeit sind nicht beeinträchtigt. Die Klägerin ist auch anlernbar und unterweisbar. Sie kann ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und auch selbst ein Kraftfahrzeug lenken. Tagespendeln ist ihr zumutbar. Krankenstände von mehr als sieben Wochen pro Jahr sind nicht zu erwarten. Bei Inanspruchnahme einer neurologisch-fachärztlichen Behandlung kann eine Besserung der subjektiven Befindlichkeit erreicht werden.

Die Klägerin ist aufgrund ihres vorbeschriebenen Gesundheitszustands in der Lage den Beruf einer Tagportierin in mittelgroßen bis größeren Betrieben diverser Wirtschaftsbranchen, mit Ausnahme von Renommierbetrieben, auszuüben. Im Mittelpunkt dieses Berufes stehen die routinemäßige Beaufsichtigung, Regelung und Kontrolle der bei der jeweiligen Dienststelle ein- und ausgehenden Besucher sowie betriebsspezifisch auch die Kontrolle des Fahrzeugverkehrs, wie die Zufahrtskontrolle anhand von Einfahrgenehmigungen und das Bedienen des Ein- bzw Ausfahrschrankens. Die Tätigkeit einer Tagportierin umfasst weiters die Auskunftserteilung, das Ausstellen von Passierscheinen, die Schlüsselverwaltung, die Annahme, Registrierung und Aufbewahrung von Fundgegenständen sowie als Mischtätigkeit die Monitorüberwachung. Die Einleitung von Sofortmaßnahmen in einem Alarm- und Katastrophenfall ist der Klägerin wegen ihres Aneurysmas im Kopf, das bei einer emotional hohen Anspannung wieder zu bluten beginnen könnte, nicht zuzumuten. Die Tätigkeit einer Tagportierin kommt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dort vorherrschenden aktuellen Arbeitsbedingungen ausreichend vor.

Mit Bescheid vom 14. 6. 2002 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Invaliditätspension vom 13. 3. 2002 ab, weil die Klägerin nicht invalid sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ab dem Stichtag eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Seine eingangs wiedergegebenen Feststellungen beurteilt es rechtlich dahin, das Vorliegen der Invalidität bei der Klägerin richte sich nach § 255 Abs 3 ASVG. Demnach komme für sie der gesamte Arbeitsmarkt als Verweisungsfeld in Frage. Trotz ihres sehr eingeschränkten Leistungskalküls sei sie noch in der Lage, die Tätigkeit einer Tagportierin auszuüben, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dort vorherrschenden aktuellen Arbeitsbedingungen ausreichend vorkomme. Zwar gehöre zur Tätigkeit einer Tagportierin auch die Einleitung von Sofortmaßnahmen im Alarm- und Katastrophenfall, wie insbesondere die prompte Verständigung von Einsatzdiensten und der Firmenleitung, und könnte eine emotional hohe Anspannung, wie sie mit einem Alarm- und Katastrophenfall verbunden sei, bei der Klägerin dazu führen, dass ihr Aneurysma im Kopf wieder zu bluten beginne, doch schließe das die Klägerin von der Ausübung dieses Berufes nicht aus, weil bei der Beurteilung, ob die Klägerin diese Tätigkeit ausüben könne, von der an einem normalen Arbeitstag üblicherweise und durchschnittlich auftretenden Arbeitsbelastung und nicht von einer Ausnahmesituation, die vielleicht nie eintrete, auszugehen sei. Die Klägerin sei daher nicht invalid.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und einer unbedenklicher Beweiswürdigung und billigte auch die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts. Der Verfahrensrüge, das Erstgericht habe den Antrag der Klägerin auf Erörterung des berufskundlichen Gutachtens zu Unrecht abgewiesen, hielt es entgegen, dass es auch nach Ansicht des Berufungsgerichts zur Tätigkeit einer Tagportierin unter anderem gehören könne, Sofortmaßnahmen im Alarm- und Katastrophenfall einzuleiten. Die gesundheitliche Unfähigkeit dazu schließe die Klägerin jedoch von der Ausübung dieses Berufes nicht aus, weil bei der Beurteilung, ob die Klägerin diese Tätigkeit ausüben könne, von der an einem normalen Arbeitstag üblicherweise und durchschnittlich auftretenden Arbeitsbelastung, nicht jedoch von einer Ausnahmesituation auszugehen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag die Urteile der Vorinstanzen im klagestattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat eine ihr freigestellte Revisionsbeantwortung nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht bei der Verneinung der Invalidität der Klägerin von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu § 255 Abs 3 ABGB abgewichen ist, sie ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und die geltend gemachte Aktenwidrigkeit liegen nicht vor. Diese Beurteilung bedarf keiner Begründung (§ 510 Abs 3 ZPO).

Mit ihrer Rechtsrüge macht die Klägerin geltend, das Erstgericht sei zu Unrecht von einem üblichen Arbeitstag mit durchschnittlichen Arbeitsbelastungen ausgegangen, seien doch Sofortmaßnahmen im Katastrophenfall für das Berufsbild des Portiers wesentlich. Diese Tätigkeit könne die Klägerin aber aus gesundheitlichen Gründen nicht erbringen.

Es ist im Revisionsverfahren nicht strittig, dass das Vorliegen von Invalidität bei der Klägerin nach § 255 Abs 3 ASVG zu prüfen ist, weil die Klägerin in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag nicht in erlernten (angelernten) Berufen iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig war. Demnach gilt eine Versicherte als invalid, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kann eine (ein) Versicherte(r), die (der) - wie die Klägerin - eine gelernte oder angelernte Tätigkeit nicht ausgeübt hat, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden, sofern die Voraussetzungen des § 255 Abs 4 ASVG - wie hier - nicht vorliegen (RIS-Justiz RS0084605). Zur Verneinung des Vorliegens zur Invalidität genügt nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich ein einziger nach dem medizinischen Leistungskalkül möglicher Verweisungsberuf (RIS-Justiz RS0108306). Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist die Klägerin aufgrund des festgestellten Leistungskalküls in der Lage, alle Tätigkeiten einer Tagportierin - mit Ausnahme der Einleitung von Sofortmaßnahmen im Alarm- und Katastrophenfall - auszuüben, die nach den im Rahmen der rechtlichen Beurteilung vom Erstgericht getroffenen Feststellung zum Anforderungsprofil einer Tagportierin zählen. Zu Unrecht maßen die Vorinstanzen dem Umstand, dass die Einleitung von Sofortmaßnahmen im Alarm- und Katastrophenfall mit dem medizinischen Leistungskalkül der Klägerin nicht vereinbar ist, keine Bedeutung für die Frage der Verweisbarkeit der Klägerin auf die Tätigkeit einer Tagportierin bei, weil es hiefür nur auf die an einem normalen Arbeitstag üblicherweise durchschnittlich auftretenden Belastung, nicht aber auf eine Ausnahmesituation ankomme. Entscheidend ist vielmehr, ob die Tätigkeit, wie sie die Klägerin infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands ausüben kann, auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird. Eine „Bewertung am Arbeitsmarkt" setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass in einem nach dem medizinischen Leistungskalkül möglichen Verweisungsberuf bezogen auf den gesamten österreichischen Arbeitsmarkt zumindest 100 Arbeitsstellen vorhanden sind (SSV-NF 7/37; 10 ObS 262/03g mwN; 10 ObS 6/05p: RIS-Justiz RS0084772, RS0084857), wobei nicht zu berücksichtigen ist, ob die (der) Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Arbeitsplatz finden wird (RIS-Justiz RS0084833). Eine Verweisung der Klägerin auf den Beruf einer Tagportierin kommt daher nur dann in Betracht, wenn es für diesen Beruf in dem Umfang, den die Klägerin nach ihrem medizinischen Leistungskalkül ausüben kann, im Sinn der dargelegten Rechtsprechung ausreichend viele Arbeitsstellen gibt. Aufgrund einer unrichtigen Rechtsauffassung trafen die Vorinstanzen keine Feststellungen zu dieser Tatfrage. Da weiters Feststellungen darüber fehlen, ob die Klägerin infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine andere Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt, und es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, erweist sich die Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen als unumgänglich.

Das Erstgericht wird das Verfahren zur Frage der Verweisbarkeit der Klägerin auf die Tätigkeit einer Tagportierin im aufgezeigten Umfang zu ergänzen haben. Sollte nach den Ergebnissen des ergänzten Verfahrens die Klägerin auf diese Tätigkeit nicht verwiesen werden können, wird weiters zu prüfen sein, ob die Klägerin infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands auch keine andere Tätigkeit iSd § 255 Abs 3 ASVG mehr ausüben kann.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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