Spruch:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 28. April 2005, GZ 211 Ur 356/04g-41, wird zurückgewiesen.
Durch den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 11. Mai 2005, AZ 21 Bs 141/05x, wurde Daniel S***** in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Diese Entscheidung wird nicht aufgehoben.
Dem Bund wird der Ersatz der mit 700 EUR bestimmten Beschwerdekosten zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Text
Gründe:
Der Journalrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien leitete am 11. Dezember 2004 (S 1 b) über darauf abzielenden Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 10. Dezember 2004 gegen den jungen Erwachsenen (§ 36 StGB) Daniel S***** die Voruntersuchung wegen des Verbrechens der versuchten Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Abs 1 StGB sowie des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 3 StGB ein (S 1b verso), weil dieser dringend verdächtig war, am 20. Februar 2004 versucht zu haben, Angelika Sch***** zu vergewaltigen, und ohne begreiflichen Anlass unter Anwendung erheblicher Gewalt drei Personen am Körper verletzt zu haben, nämlich am 26. Oktober 2004 Anneliese T*****, am 20. November 2004 Madlen A***** und am 9. Dezember 2004 Wilhelm V***** (S 1). Auch die Verhängung der Untersuchungshaft (§ 180 Abs 1 StPO iVm §§ 35 Abs 1 zweiter Satz, 46a Abs 2 JGG) über den am 9. Dezember 2004 festgenommenen (S 165) Beschuldigten aus den Haftgründen der Verdunkelungsgefahr (§ 180 Abs 2 Z 2 StPO) sowie der Tatbegehungsgefahr (§ 180 Abs 2 Z 3 lit a und lit b StPO) erfolgte (auf Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 10. Dezember 2004 - S 1b) am 11. Dezember 2004 (S 197 iVm ON 7). Nach mehrmaliger Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem Haftgrund des § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO (ON 11, 15, 24 und 34) wurde diese am 1. April 2005 unter Bezugnahme auf ein psychiatrisch-neurologisches Sachverständigengutachten vom 20. März 2005 (ON 35) in eine vorläufige Anhaltung nach § 429 Abs 4 StPO umgewandelt (ON 38). Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde des (nunmehr) Betroffenen gegen den (unter einem bekämpften) Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 28. April 2005 (ON 41) nicht Folge und ordnete die Fortsetzung der vorläufigen Anhaltung bis zum 11. Juli 2005 aus dem Grund des § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO an.
Das Beschwerdegericht ging dabei (nur) bezüglich der Vorfälle vom 20. Februar 2004, vom 20. November 2004 und vom 9. Dezember 2004 von einer dringenden Verdachtslage aus, wobei es den präsumtiven Angriff auf Angelika Sch***** (20. Februar 2004) rechtlich (auch) dem Tatbestand des Hausfriedensbruchs nach (richtig:) § 109 Abs 3 Z 1 StGB unterstellte, diesbezüglich aber die erforderliche Dringlichkeit des Tatverdachts in Richtung der §§ 15, 201 Abs 1 StGB als nicht gegeben erachtete.
Rechtliche Beurteilung
Die Grundrechtsbeschwerde des Betroffenen bestreitet die dringende Tatverdachtslage hinsichtlich einer mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohten Tat und wendet die Unverhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung ein.
Soweit sich die Beschwerde gegen den Beschluss des Untersuchungsrichters auf Fortsetzung der vorläufigen Anhaltung richtet, ist sie unzulässig, weil § 1 Abs 1 GRBG das Beschwerderecht nur gegen Entscheidungen einräumt, die keinem weiteren Rechtszug unterliegen (Hager/Holzweber GRBG § 1 E 21, zuletzt 15 Os 22/05). Was die darüber hinausgehende Beschwerdeargumentation anlangt, ist anzumerken, dass nach § 10 GRBG im Verfahren über Grundrechtsbeschwerden grundsätzlich die für den Obersten Gerichtshof und die für das gerichtliche Strafverfahren geltenden Vorschriften sinngemäß anzuwenden sind. Daraus folgt, dass der Oberste Gerichtshof gemäß § 114 Abs 4 StPO bei der Entscheidung über Grundrechtsbeschwerden niemals zum Nachteil des Beschuldigten (Angeklagten) Verfügungen oder Beschlüsse ändern darf, gegen die nicht Beschwerde geführt wird. Aus dieser Regelung kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass sich ein solches Verbot auch auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung bezieht; vielmehr kann er die Ablehnung einer Grundrechtsbeschwerde auch auf eine Begründung stützen, die andere, selbst für den Beschuldigten (Angeklagten) nachteiligere Erwägungen enthält, als sie in der angefochtenen Entscheidung ausgesprochen wurden (12 Os 78/00).
Der Oberste Gerichtshof ist darnach somit anlässlich der Entscheidung über eine Grundrechtsbeschwerde nicht an die Feststellungen der angefochtenen Entscheidung gebunden, vielmehr - schon im Hinblick auf die Dringlichkeit der Erledigungen in Haftsachen (§ 193 Abs 1 StPO) - berechtigt, die Tatsachengrundlagen anlässlich ihrer Überprüfung abzuändern; er ist somit im aufgezeigten Umfang Tatsacheninstanz (852 BlgNR 18. GP. 11; idS Mayrhofer ÖJZ 1994, 475 mit Judikaturnachweisen; EvBl 1993/86 = RZ 1993/41; Pleischl/Soyer StPO² Anm zu § 7 GRBG; zuletzt Hollaender/Mayrhofer ÖJZ 2005, 455 f). Fallbezogen eröffnet - dieser Ansicht folgend - das Gesetz daher dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit, die aktenfremden Tatsachenannahmen des mit Grundrechtsbeschwerde bekämpften Beschlusses des Oberlandesgerichtes Wien durch aktenkonforme Feststellungen zu ersetzen und auf ihrer Grundlage sowohl den dringenden Tatverdacht als auch die anderen Haftvoraussetzungen einer eigenständigen Beurteilung zu unterziehen. Dessen ungeachtet hat sich im Senat schließlich folgende Ansicht durchgesetzt:
In Bezug auf den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 11. Mai 2005 hingegen zeigt die Beschwerde zu Recht eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit auf.
Vorweg ist festzuhalten, dass allein der dringende Verdacht, den Tatbestand der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 3 StGB verwirklicht zu haben, nicht geeignet ist, eine vorläufige Anhaltung nach § 429 Abs 4 StPO zu tragen, weil dies eine mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohte Anlasstat voraussetzen würde (§ 429 Abs 1 StPO iVm § 21 Abs 1 StGB), womit Qualifikationsnormen, die - wie die Bestimmung des § 84 Abs 3 StGB - an die rechtliche Zusammenfassung mehrerer selbständiger Taten anknüpfen, bei der Beurteilung des Vorliegens einer die Voraussetzungen des § 21 Abs 1 StGB erfüllenden Strafdrohung außer Betracht zu bleiben haben (vgl Ratz in WK² § 21 Rz 3).
Wenngleich (auch) das Beschwerdegericht in der rechtlichen Beurteilung des der Haftentscheidung zugrundeliegenden Sachverhaltsubstrats frei ist (14 Os 128/03), weist die Grundrechtsbeschwerde zutreffend darauf hin, dass die Annahme einer dringenden Verdachtslage in Richtung des Tatbestands des Hausfriedensbruchs nach (richtig:) § 109 Abs 3 Z 1 StGB fallbezogen mit einem Begründungsmangel behaftet ist. Das Beschwerdegericht verweist nämlich diesbezüglich auf die Angaben der präsumtiven Opfer im Vorverfahren, ohne darauf einzugehen, dass die (zu diesem Faktum) einzige Belastungszeugin Angelika Sch***** nach der Aktenlage zwar im Zuge der Anzeigeerstattung (S 67), nicht jedoch im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahme (S 79) angegeben hat, der Beschwerdeführer habe sich gewaltsam Zutritt zu ihrem Wohnhaus verschafft.
Dieser den dringenden Tatverdacht betreffende Begründungsmangel bedeutet eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit (14 Os 1/00, 13 Os 160/03).
Förmlich aufzuheben (§ 7 Abs 1 GRBG) war der grundrechtswidrige Haftbeschluss schon deshalb nicht, weil der Beschwerdeführer per Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 12. Juli 2005, AZ 21 Bs 199/05a - von welcher der Oberste Gerichtshof trotz aktenkundig (vgl auch S 7 der letztgenannten Entscheidung) anhängigem Grundrechtsbeschwerdeverfahren unverständlicherweise nicht in Kenntnis gesetzt worden ist - enthaftet wurde (13 Os 32/93, 14 Os 83/96, 11 Os 107/99).
Es sei daher nur der Vollständigkeit halber festgehalten, dass angesichts des dringenden Verdachts, der Beschwerdeführer habe durch äußerst vehemente, für die Angegriffenen unvorhersehbare Attacken (S 27, 43, 79) mehrere Personen erheblich verletzt (S 65, 87; 137, 145), die Anhaltungsdauer zur Bedeutung der Sache nicht außer Verhältnis stand, wobei auch auf den mittlerweile gemäß § 429 Abs 1 StPO erhobenen Antrag auf Unterbringung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (ON 47), demnach materiell auf die darin - aktenkonform - dargelegte Verdachtslage in Richtung des - massiv indizierten - Tatbestandes des § 201 Abs 2 StGB hingewiesen wird. In diesem Zusammenhang sei hervorgehoben, dass alle drei präsumtiven Opfer der vom Unterbringungsantrag umfassten Taten (Angelika Sch*****, Anneliese T*****, Madlen A*****) erklärten, der Täter habe ihnen gegenüber sexualbezogene Handlungen gesetzt oder solche Äußerungen getätigt (S 67, 79 bis 83; 119, 131 f; 147, 311), dass Angelika Sch***** und Madlen A***** - die den Beschwerdeführer als Täter identifizierten (S 47 f, 315) - (wenngleich Letztere jüngst etwas abgeschwächt - S 315) - aussagten, dieser habe danach getrachtet, sie zu vergewaltigen (S 67, 83; 119, 133), dass Anneliese T***** zwar keine exakte Erinnerung an das Aussehen des Täters hatte, diesbezüglich aber eine Ähnlichkeit mit dem Betroffenen festhielt (S 153, 311) und dass in allen drei Fällen der modus operandi sowie die Täterbeschreibung (auch hinsichtlich eines relativ auffälligen Oberbekleidungsstücks) in groben Zügen übereinstimmen (S 67, 119, 147; 81, 133, 151) und überdies ein örtliches Naheverhältnis auffällt (S 159 f). Hingegen verkennt der angefochtene Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien, wonach das Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Sigrun R***** (ON 35) gegen einen dringenden Tatverdacht in Richtung des § 201 Abs 2 StGB spreche - wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt - sowohl die Rechts- als auch die Aktenlage, weil einerseits die hiebei begründend herangezogene Motivationslage (ES 4) nicht tatbestandsessentiell ist und andererseits die genannte Expertise hiezu keine Festlegungen enthält, sondern nur (abrundende) Vermutungen äußert (S 415). Ebenso wenig verständlich ist im Übrigen die Begründungspassage der Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 12. Juli 2005, AZ 21 Bs 199/05a, die Haftfrage sei im angefochtenen Beschluss aufgrund einer „Verwechslung" der Fakten Sch***** und T***** unrichtig gelöst worden, zumal in diesem das betreffende Tatgeschehen nicht nur durch die Faktenbezeichnung, sondern auch durch den Tatzeitpunkt, den Namen des präsumtiven Opfers sowie die detaillierte Darstellung der Verletzungsfolgen individualisiert (ES 4 f) und überdies der Angriff auf Anneliese T***** inhaltlich gar nicht behandelt wird. Die Kostenersatzpflicht des Bundes gründet sich auf § 8 GRBG, die Bestimmung der Höhe der Beschwerdekosten auf § 9 GRBG iVm der Verordnung des BMJ BGBl II 2003/309.
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