OGH 10ObS170/04d

OGH10ObS170/04d9.11.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Oedendorfer und Peter Ammer (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Erna K*****, Pensionistin, *****, vertreten durch Dr. Martina Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, Ghegastraße 1, 1031 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Juli 2004, GZ 8 Rs 98/04x-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 27. Jänner 2004, GZ 16 Cgs 121/03b-12, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 15. 9. 1936 geborene Klägerin leidet an einem Zustand nach Stammganglienblutung rechts im September 2002 mit vollständiger Lähmung der linken Körperhälfte und geringer Demenz, einem Zustand nach Mediainfarkt rechts mit mäßiger Halbseitensymptomatik links im Jahr 2001, einem Zustand nach einmaligem Grand mal-Anfall im März 2003, an chronischem Vorhofflimmern, an nicht insulinpflichtigem Diabetes mellitus, an arterieller Hypertonie, an einer reaktiven Depression sowie an Adipositas permagna.

An Funktionseinschränkungen bestehen ein vollkommener Verlust der Beweglichkeit der linken Körperhälfte, die Notwendigkeit zur Benutzung eines Rollstuhls, eine mäßige Gedächtnisstörung sowie eine Blasenentleerungsstörung mit liegendem Harndauerkatheter. Die Klägerin wiegt zirka 110 kg. Es bedarf zweier Pflegepersonen, um die Klägerin zu mobilisieren, unabhängig davon, ob es sich dabei um geschultes Personal handelt oder nicht. Diese vermehrte Hilfestellung ist insbesondere beim An- und Auskleiden, der täglichen Körperpflege und bei der Mobilitätshilfe im engeren Sinn notwendig. Die Klägerin ist nicht selbständig gehfähig und befindet sich tagsüber ständig im Rollstuhl, wobei sie aus medizinischen Gründen nachts aus dem Rollstuhl befördert werden muss. Bei der Mobilisierung in bzw aus dem Rollstuhl besteht erhebliche Sturzgefahr.

Die Klägerin erlitt im März 2003 einen sogenannten generalisierten Anfall; seither ist es nicht mehr zu einem derartigen Anfall gekommen. Die Wahrscheinlichkeit für einen neuerlichen Anfall in Zukunft beträgt maximal 20 - 30 %. Sollte ein derartiger Anfall wiederum auftreten, ist die Anfallsfrequenz nicht genau prognostizierbar und hängt unter anderem von der Medikation ab. In zirka 60 % aller Fälle werden Patienten wie die Klägerin bei entsprechender Einstellung wieder anfallsfrei. Die funktionellen Auswirkungen der bei der Klägerin bestehenden Cerebralparese sind ähnlich wie bei Patienten, die an einer infantilen Cerebralparese leiden. Eine infantile Cerebralparese liegt bei der Klägerin aber nicht vor. Hingegen findet sich ein deutlicher Ausfall der Funktion der linken oberen Extremität. Dieser Zustand besteht seit der Antragstellung und wird sich aufgrund der seriellen und hochgradigen Schädigung des Gehirns auf der rechten Seite und des zurückliegenden Schlaganfalls nicht mehr wesentlich bessern.

Demnach bedarf die Klägerin der Betreuung und Hilfe bei der täglichen Körperpflege, der Zubereitung von Mahlzeiten, der Einnahme von Medikamenten, der Verrichtung der Notdurft, dem An- und Auskleiden, der Reinigung und Entleerung des Leibstuhls, der Katheterpflege, der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, der Pflege der Leib- und Bettwäsche sowie der Mobilitätshilfe im engeren und weiteren Sinn.

Die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson ist nicht erforderlich. Die Pflegeleistungen könnten in zirka 7 koordinierbaren Einheiten innerhalb von 24 Stunden durchgeführt werden. Weiterführende zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen sind nicht notwendig. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen Fremd- oder Selbstgefährdung ist nicht erforderlich. Es liegt kein Zustand der Unmöglichkeit von zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung und auch kein gleichzuachtender Zustand vor.

Mit Bescheid vom 3. 3. 2003 erhöhte die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Bauern das der Klägerin gewährte Pflegegeld aufgrund ihres Antrags vom 12. 11. 2002 ab 1. 12. 2002 auf Pflegegeld der Stufe 4.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, der Klägerin ab 1. 12. 2002 ein höheres Pflegegeld als Stufe 4 zu gewähren, ab.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung mit der Maßgabe, dass es die beklagte Partei schuldig erkannte, der Klägerin ab 1. 12. 2002 Pflegegeld der Stufe 4 in Höhe von 620,30 EUR monatlich zu gewähren; das Begehren auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes wurde abgewiesen. Das Berufungsgericht übernahm den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung und sah die Rechtsrüge nicht als berechtigt an. Nach den Feststellungen sei die Möglichkeit der zeitlichen Koordinierung der Pflegeleistungen gegeben. Es gebe keinen Hinweis auf die Notwendigkeit, dass zwischen den zeitlich planbaren pflegerischen Einheiten eine Pflegeperson in kurzen Abständen nach der Klägerin sehe, was aber Voraussetzung für eine dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson im Sinn der Stufe 5 wäre. Das Erfordernis einer dauernden Bereitschaft könne ebenso wenig wie jenes der ständigen Beaufsichtigung darauf aufgebaut werden, dass nicht gänzlich ausgeschlossen werden könne, dass etwas passiere. Dementsprechend könne die mit 20 - 30 % eingeschätzte Wahrscheinlichkeit eines neuerlichen epileptischen Anfalls nicht als Grundlage für die Gewährung eines Pflegegeldes über die Stufe 4 hinaus herangezogen werden. Dasselbe gelte für die erhebliche Sturzgefahr bei Mobilisierung in bzw aus dem Rollstuhl, zumal diese Gefährdung auch im Zusammenhang mit der festgestellten Adipositas zu sehen sei. Auch die begehrte diagnosebezogene Einstufung nach § 4a Abs 3 BPGG komme nicht in Betracht, zumal die Analogiefähigkeit des Begriffs "infantile Cerebralparese" auf die bei der Klägerin bestehende Cerebralparese zu verneinen sei.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Analogiefähigkeit des Begriffs "infantile Cerebralparese" keine gesicherte höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der klagenden Partei mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn eines Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 6, in eventu der Stufe 5 ab 1. 12. 2002. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

Die Feststellung, dass es nach dem März 2003 bei der Klägerin nicht mehr zu einem "generalisierten Anfall" gekommen ist und dass die Wahrscheinlichkeit für einen neuerlichen Anfall in Zukunft maximal 20 - 30 % beträgt, ist für den Obersten Gerichtshof nicht überprüfbar. Wie die Revisionswerberin selbst ausführt, handelt es sich bei der Bekämpfung dieser Feststellung um eine Tatsachenrüge, die vor dem Obersten Gerichtshof - der nicht Tatsacheninstanz ist - aber ausgeschlossen ist.

Die Einstufung in Stufe 6 erfordert die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht, weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist (§ 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG). Die alleinige Möglichkeit (im Sinne einer relativ geringen Wahrscheinlichkeit) einer derartigen Situation reicht nicht aus (10 ObS 210/02h = SSV-NF 16/110; RIS-Justiz RS0107442 [T23]), etwa dass ein pflegebedürftige Mensch - erneut - einen Schlaganfall erleiden könnte (10 ObS 80/01i = SSV-NF 15/49; RIS-Justiz RS0107442 [T13]). Auf der Grundlage der Feststellung, dass die Wahrscheinlichkeit für einen neuerlichen generalisierten Anfall in Zukunft maximal 20 - 30 % beträgt, muss die Notwendigkeit einer weitgehend permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich des Behinderten während des Tages und der Nacht verneint werden (vgl auch die von Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld [2004] unter Rz 351 eingehend dargestellte Judikatur).

Aber auch die Voraussetzungen der Pflegegeldstufe 5 liegen nicht vor. Bei der Klägerin besteht die Möglichkeit der zeitlichen Koordination der Pflegeleistungen, ohne dass eine Nachschau in relativ kurzen Zeitabständen erforderlich wäre. Auch für die Notwendigkeit einer dauernden Bereitschaft reicht es nicht aus, dass bloß nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass "irgendetwas Akutes passiert" (vgl 10 ObS 210/02h = SSV-NF 16/110; RIS-Justiz RS0107442 [T23]; Greifeneder/Liebhart aaO Rz 339).

§ 4a Abs 1 BPGG knüpft die diagnosebezogene Mindesteinstufung an das Vorliegen bestimmter taxativ aufgezählter Diagnosen, darunter die infantile Cerebralparese. Die Diagnosen Muskeldystrophie und Cerebralparese wurden durch die BPGG-Novelle 2001 (BGBl I 2001/69) als "genetische Muskeldystrophie" und "infantile Cerebralparese" konkretisiert. Die klarstellende Funktion geht auch aus den Gesetzesmaterialien hervor (RV 574 BlgNR 21. GP: "Bei der Vollziehung der Bestimmungen über die Mindesteinstufungen haben sich Fragen medizinischer Natur ergeben, die nunmehr durch die Aufnahme der Begriffe 'genetische Muskeldystrophie' und 'infantile Cerebralparese' einer Klarstellung zugeführt werden sollen."). Auch wenn die Aufzählung der Diagnosen in § 4a BPGG grundsätzlich einer Analogie zugänglich ist (10 ObS 110/00z = SSV-NF 14/55; RIS-Justiz RS0113660 [T6], RS0114271; Greifeneder/Liebhart aaO Rz 368), muss doch im Hinblick auf die gesetzgeberischen Absichten das für eine Analogie vorausgesetzte Vorliegen einer planwidrigen Lücke verneint werden (siehe zur Abgrenzung zwischen Lücke und rechtspolitischen Wünschen etwa F. Bydlinski in Rummel3 § 7 Rz 2).

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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