OGH 10ObS4/03s

OGH10ObS4/03s16.3.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Dietmar Strimitzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Sahin G*****, vertreten durch Dr. Oswin Lukesch, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. August 2002, GZ 7 Rs 286/02h-63, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 29. April 2002, GZ 33 Cgs 87/99w-59, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird an das Berufungsgericht zur - allenfalls nach einer Berufungsverhandlung zu treffenden - neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 30. 3. 1999 lehnte die beklagte Partei den am 4. 1. 1999 gestellten Antrag des am 1. 9. 1955 geborenen Klägers auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab, weil der Kläger nicht invalid sei.

Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kläger, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm ab 1. 2. 1999 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Die beklagte Partei beantragte, das Klagebegehren abzuweisen. Das Erstgericht wies das Klagebegehren auch im dritten Rechtsgang ab.

Es ging dabei im Wesentlichen von folgenden Feststellungen aus:

Der Kläger hat keinen Beruf erlernt und in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 2. 1999) 92 Monate als Metzgergehilfe erworben. Aufgrund seines - im Einzelnen festgestellten - Gesundheitszustands ist der Kläger noch imstande, leichte bis mittelschwere Arbeiten, ohne Notwendigkeit sich zu bücken, unter den üblichen Arbeitsbedingungen auszuführen, wobei Arbeiten in Nässe-, Kälte- oder Staubexposition ebenso wie unter besonders infektionsgefährdeten Umständen ausgeschlossen sind. Dem Kläger sind Arbeiten unter dauerndem Zeitdruck ebenso wie Akkordarbeit nicht möglich. Im Vergleich zu einem gesunden Menschen ist mit einer erhöhten Krankenstandshäufigkeit des Klägers zu rechnen, jedoch nicht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit im Ausmaß von über sieben Wochen pro Jahr. Der Kläger ist noch in der Lage, Tätigkeiten wie etwa jene eines Portiers, eines Museumsaufsehers, eines Parkgaragenkassiers sowie Verpackungs- oder Kontrollarbeiten durchzuführen. Rechtlich führte es aus, der als Hilfsarbeiter tätig gewesene Kläger sei nicht invalid im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG. Innerhalb seines medizinischen Leistungskalküls stünden dem Kläger am allgemeinen Arbeitsmarkt noch zahlreiche Berufe offen.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung des Klägers Folge. Es änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, dass es die beklagte Partei schuldig erkannte, dem Kläger eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 2. 1999 zu gewähren. Ferner trug es der beklagten Partei auf, dem Kläger eine vorläufige Zahlung von monatlich 400 EUR zu erbringen. Der Kläger rügte die Feststellung des Erstgerichtes, wonach bei ihm im Vergleich zu einem gesunden Menschen mit einer erhöhten Krankenstandshäufigkeit zu rechnen sei, jedoch nicht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit im Ausmaß von über sieben Wochen pro Jahr. Er begehrte die Feststellung, dass bei ihm aufgrund seines Gesundheitszustandes mit einer Krankenstandsdauer von zumindest sieben Wochen pro Jahr zu rechnen sei und weitere Arbeitsausfälle im Ausmaß von 12 Arbeitstagen jährlich durch notwendige Kontrollbesuche im AKH in Wien hinzutreten, sodass die Dauer der zu erwartenden gesundheitsbedingten Arbeitsausfälle insgesamt zumindest neun Wochen und zwei Arbeitstage jährlich betrage. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichts. Der Tatsachenrüge des Klägers hielt es entgegen, der Sachverständige Dr. Gerhard F***** führe in seinem Gutachten aus, dass gerechtfertigte Krankenstände, die sieben Wochen im Jahr überschritten, nicht zu erwarten seien, sodass damit zweifelsfrei von einem prognostischen siebenwöchigen Krankenstand pro Jahr auszugehen sei. Rechtlich führte es aus, ein Versicherter sei vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, wenn bei ihm mit großer Wahrscheinlichkeit jährlich leidensbedingte Krankenstände von (insgesamt) sieben Wochen oder mehr zu erwarten seien. Dies sei im vorliegenden Fall mit der Feststellung der hohen Wahrscheinlichkeit jedenfalls gegeben. Die von der beklagten Partei unbekämpft gebliebene Feststellung der hohen Wahrscheinlichkeit ergebe sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. F***** im Zusammenhang mit den Ausführungen in der Verhandlungstagsatzung vom 16. 7. 2001. Der Berufung sei daher aus rechtlichen Gründen Folge zu geben gewesen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Gründen der Aktenwidrigkeit sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem auf Wiederherstellung des Ersturteils gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt. Zunächst ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der beklagten Partei von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf deren Gesamtrechtsnachfolgerin "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Novelle, BGBl I 2002/1). Entgegen der Auffassung der Revisionswerberin ist nach der ständigen Rechtsprechung (zB SSV-NF 6/82; 7/75; 10/14 ua; RIS-Justiz RS0084429, RS0084898) ein Ausschluss vom Arbeitsmarkt - woraus allein vom Berufungsgericht (und vom Kläger) die Bejahung der Voraussetzungen der begehrten Invaliditätspension abgeleitet wird - bereits dann anzunehmen, wenn die maßgebliche Gesamtdauer der voraussichtlichen leidensbedingten Krankenstände - ausgehend von den Anforderungen der Verweisungsberufe - mit hoher Wahrscheinlichkeit sieben Wochen (oder mehr) beträgt. Die wirkliche Dauer der mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Krankenstände ist exakt festzustellen (SSV-NF 6/82; 12/52; 10 ObS 36/01v).

Als Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) rügt die beklagte Partei den vom Berufungsgericht aus den erstgerichtlichen Feststellungen über die künftige Krankenstandsdauer unter Berufung auf Ausführungen in einem Sachverständigengutachten gezogenen Schluss, dass die Krankenstandsdauer mit hoher Wahrscheinlichkeit sieben Wochen beträgt. In der Gewinnung tatsächlicher Feststellungen durch Schlussfolgerungen, mögen diese auch unrichtig sein, liegt indes nicht eine Aktenwidrigkeit. Beruhen sie auf einem mangelhaften Verfahren oder auf einer unlogischen Gedankentätigkeit, so können sie den Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens oder der unrichtigen rechtlichen Beurteilung bilden (RIS-Justiz RS0043189). Zutreffend zeigt die Revisionswerberin auf, dass aus der Feststellung des Erstgerichts, wonach beim Kläger im Vergleich zu einem gesunden Menschen mit einer erhöhten Krankenstandshäufigkeit, jedoch nicht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von über sieben Wochen pro Jahr, zu rechnen sei, nicht der einwandfreie Schluss gezogen werden kann, dass die maßgebliche Gesamtdauer der voraussichtlichen Krankenstände mit hoher Wahrscheinlichkeit wenigstens sieben Wochen jährlich beträgt. Denn mit der Aussage, dass ein Ereignis nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, wird über das Maß der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines anderen Ereignisses nichts ausgesagt. Nach den Feststellungen des Erstgerichts ist eine Krankenstandsdauer von wenigstens sieben Wochen nur möglich, aber nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit feststehend. Das Berufungsgericht hat daher in Wahrheit nicht die Feststellungen des Erstgerichts übernommen, sondern in Erledigung der Beweisrüge der Berufung eine davon abweichende Feststellung getroffen und seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Diese entscheidungswesentliche, vom Urteils des Erstgerichts abweichende Feststellung hätte das Berufungsgericht nur nach einer Beweiswiederholung oder -ergänzung treffen dürfen (§ 488 ZPO; SSV-NF 16/23; vgl SSV-NF 14/7). Dass das Berufungsgericht dies unterlassen hat, begründete eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (SSV-NF 16/23; RIS-Justiz RS0043461, RS0102004), die inhaltlich in der Revision gerügt wird.

Dieser Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung der Sozialrechtssache an das Berufungsgericht (§ 510 Abs 1 ZPO).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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