OGH 8ObS11/03f

OGH8ObS11/03f25.11.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Petrag als Vorsitzenden und durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Rohrer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Lovrek sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Carl Hennrich und Alfred Klair als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing. Günter K*****, vertreten durch Schmid & Horn, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei IAF-Service GmbH, Geschäftsstelle Wien, Operngasse 17-21, 1040 Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1010 Wien, Singerstraße 17-19, wegen EUR 39.780,49 sA an Insolvenz-Ausfallgeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Mai 2003, GZ 9 Rs 66/03x-13, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 19. Dezember 2002, GZ 11 Cgs 73/02h-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger war vom 18. Mai 1999 bis 4. August 2000 im Unternehmen der Eleonore S***** beschäftigt, über deren Vermögen mit Beschluss des Handelsgerichtes Wien vom 26. 9. 2000 das Konkursverfahren eröffnet wurde. Die Gemeinschuldnerin betrieb ein Kunststoffunternehmen. Das Bruttomonatsgehalt des Klägers betrug S 34.000 (14 x jährlich). Die Gehaltszahlung für den Rumpfmonat Mai erhielt der Kläger am 8. Juni 1999. In der Folge wurden ihm - bis zu seinem vorzeitigen Austritt am 4. 8. 2000 - nur zwei weitere Teilgehaltszahlungen geleistet, und zwar im April 2000 S 20.000 und am 2. 8. 2000 S 3.000 netto.

Als der Kläger die Nichtzahlung des Juni-Entgelts urgierte, vertröstete ihn die Gemeinschuldnerin damit, dass sich das Unternehmen im Aufbau befinde und es mit den Gehaltszahlungen noch dauern werde. So argumentierte die Gemeinschuldnerin auch hinsichtlich des nichtausbezahlten Juli- und August-Entgeltes. Der Kläger fühlte sich im Unternehmen der Gemeinschuldnerin, das damals acht bis zehn Dienstnehmer beschäftigte, sehr wohl. Er empfand die Gemeinschuldnerin als angenehme Chefin, die ein sehr familiäres Verhältnis zwischen Dienstgeber und Dienstnehmern herstellte. Der Kläger wollte dem Unternehmen durch Zuzählung eines Darlehens helfen. Zu diesem Zweck nahm er einen Kredit in Höhe von S 550.000 auf und zählte der Gemeinschuldnerin diesen Betrag als Darlehen zu. Die Rückzahlung sollte so erfolgen, dass die Gemeinschuldnerin dem Kläger die jeweiligen Kreditraten, die er selbst zu zahlen hatte, ersetzen sollte. Insgesamt zahlte die Gemeinschuldnerin S 114.715 an Darlehensraten zurück. Anlässlich der Darlehensgewährung sicherte die Gemeinschuldnerin auch die Nachzahlung der Gehälter zu. Als der Kläger neuerlich urgierte, rechtfertigte sie sich damit, dass sie das Geld für Material benötige. Die von der Gemeinschuldnerin zugezählten Darlehensteilbeträge leitete der Kläger an seinen Kreditgeber weiter. Über Ersuchen der Gemeinschuldnerin gewährte ihr der Kläger im April 2000 ein weiteres Darlehen in Höhe von S 100.000. Dafür nahm er neuerlich einen Kredit auf. Ob die Gemeinschuldnerin darauf Rückzahlungen leistete, kann nicht festgestellt werden. Dieses zweite Darlehen erbat die Gemeinschuldnerin vom Kläger mit der Begründung, es sei ein großer Auftrag zu erwarten, aus dem die rückständigen Gehälter des Klägers beglichen werden könnten. Mit dem zur Verfügung gestellten Darlehensbetrag könne sie Material einkaufen. Tatsächlich floss der Gemeinschuldnerin im Sommer 2000 ein Betrag von S 250.000 zu. Damit befriedigte sie jedoch nicht die offenen Forderungen des Klägers, sondern die der Krankenkasse. Die Branche florierte zu diesem Zeitpunkt sehr. Es lag an den mangelnden Bemühungen der Gemeinschuldnerin, dass ihr Unternehmen keine entsprechenden Gewinne erzielte. Sowohl der Kläger als auch eine weitere Angestellte, die seit Februar 2000 kein Gehalt mehr erhalten hatte, wiesen die Gemeinschuldnerin immer wieder darauf hin, dass sie sich mehr um das Unternehmen kümmern solle. Auch diese Angestellte hatte der Gemeinschuldnerin ein Darlehen in Höhe von S 300.000 gewährt. Auch sie trat erst im August 2000 vorzeitig aus.

Der Kläger klagte nach seinem vorzeitigen Austritt seine offenen Ansprüche von S 680.352 beim Landesgericht Korneuburg (Einlangen der Klage 21. 8. 2000) ein. Infolge der Konkurseröffnung ist das Verfahren unterbrochen.

Der Kläger begehrte zuletzt EUR 39.780,49 sA an Insolvenz-Ausfallgeld (Gehalt; Überstunden; Urlaubszuschuss; Weihnachtsremuneration; Kündigungsentschädigung; UZ/WR zur Kündigungsentschädigung, Urlaubsentschädigung; Vertretungskosten). Die Ablehnung seines Antrages auf IAG durch die beklagte Partei sei unberechtigt erfolgt. Von einer sittenwidrigen Verlagerung des Finanzierungsrisikos könne keine Rede sein. Die Gemeinschuldnerin habe ihren Dienstnehmern immer wieder zugesichert, dass Zahlungen erfolgen würden. Die Kunststoffbranche habe "geboomt"; der Kläger habe damit rechnen können, dass ausreichend Aufträge akquiriert würden. Überdies habe der Kläger - vor allem gewidmet auf die gewährten Darlehen - Zahlungen in nicht unbeträchtlicher Höhe von der Gemeinschuldnerin erhalten.

Die beklagte Partei wendet ein, dass der Kläger von Beginn seines Dienstverhältnisses an keine pünktlichen Gehaltszahlungen erhalten habe. Bereits im September 1999 habe der Kläger dem Unternehmen ein Darlehen in Höhe von S 550.000 gewährt. Bereits zu diesem Zeitpunkt habe ihm die finanzielle Situation des Unternehmens bekannt sein müssen. Das Verhalten des Klägers halte einem Fremdvergleich nicht Stand. Ein Anspruch auf IAG bestehe nicht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es ging von einer unzulässigen Verlagerung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds aus. Beim Arbeitsverhältnis des Klägers habe es sich um ein völlig atypisch gestaltetes Arbeitsverhältnis gehandelt, das nicht auf die Erzielung von Entgelt für die Bestreitung des Lebensunterhaltes gerichtet gewesen sei. Der Kläger habe nicht nur Rückstände von 12 Monatsentgelten in Kauf genommen, sondern zusätzlich auch noch seiner Arbeitgeberin durch die Gewährung zweier Darlehen, für die er selbst Kredite habe aufnehmen müssen, zu helfen versucht. Daraus ergebe sich ein zumindest bedingter Vorsatz des Klägers hinsichtlich der Verlagerung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds. Ein unbeteiligter Arbeitnehmer hätte die Entgeltrückstände für die Dauer von Juni 1999 bis einschließlich Juli 2000 nicht hingenommen.

Das Berufungsgericht bestätigte über Berufung des Klägers das Ersturteil und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil die Durchführung des Fremdvergleiches eine Einzelfallbeurteilung darstelle. Rechtlich billigte das Berufungsgericht die Rechtsauffassung des Erstgerichtes. Der vom Kläger behauptete Verstoß gegen die Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (in der Folge immer: RL) liege nicht vor. Gemäß Art 3 und 4 der RL könne die Zahlungspflicht der Garantieeinrichtung auf das Arbeitsentgelt für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses, die in einem Zeitraum von sechs Monaten vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers lägen, begrenzt werden. Mit einer Beschränkung der über diesen Mindeststandard hinausgehenden Ansprüche werde daher nicht gegen Art 10 der RL verstoßen.

Die dagegen vom Kläger erhobene außerordentliche Revision ist im Hinblick auf die am 11. 9. 2003 ergangene Entscheidung des EuGH zu C-201/01 zulässig. Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages auf Aufhebung auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Unter Berücksichtigung des hier maßgeblichen Stichtages (26. 9. 2000) ist gemäß § 17a Abs 23 IESG dieses Gesetz in der Fassung vor der Novelle BGBl I 142/2000 anzuwenden (8 ObS 195/02p).

Der Oberste Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung festgehalten, dass das IESG die Arbeitnehmer gegen das Risiko des gänzlichen und teilweisen Verlustes ihrer Entgeltansprüche, auf deren regelmäßige Befriedigung sie typischerweise zur Bestreitung ihres und ihrer Angehörigen Lebensunterhaltes angewiesen sind, bei Insolvenz des Arbeitgebers absichern soll (8 ObS 209/02x; 8 ObS 206/00b = DRdA 2001/37 = WBl 2001/91; 8 ObS 105/02b uva). Die Überwälzung des Finanzierungsrisikos für die Arbeitslöhne auf den IAFG, wenn dem Arbeitnehmer bewusst sein muss, dass er die Gegenleistung für seine Arbeit nicht vom Arbeitgeber, sondern vom Fonds bekommen werde und er deshalb weiter arbeitet, wurde als unzulässig und sittenwidrig angesehen (8 ObS 105/02b; DRdA 2001/37). Ausreichend dafür ist schon der bedingte Vorsatz, dass also dem Handelnden die Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds bewusst ist und er sich mit dem verpönten Erfolg zumindest abfindet (DRdA 2001/37; 8 ObS 203/02i uva). Dann, wenn ein Arbeitnehmer trotz längerer Nichtzahlung des Lohnes im Unternehmen tätig bleibt und nicht versucht, sein Entgelt ernstlich einbringlich zu machen, indiziert dies in der Regel, dass er beabsichtigt oder zumindest in Kauf nimmt, in der Folge seine offenen Lohnansprüche gegen den IAGF geltend zu machen (8 ObS 105/02b; DRdA 2001/37; RIS-Justiz RS0112127). Hiezu können noch weitere besondere Anhaltspunkte für ein "Naheverhältnis" zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer kommen, die auf einen fehlenden Interessengegensatz oder besondere Informationen hindeuten. Inwieweit aus dem langen Stehenlassen der Entgelte der zumindest bedingte Vorsatz der Verlagerung des Finanzierungsrisikos geschlossen werden kann, ist im Rahmen des "Fremdvergleiches" zu beurteilen. Es ist also zu prüfen, ob auch ein "unbeteiligter Arbeitnehmer" im Unternehmen verblieben wäre (8 ObS 195/02p; 8 ObS 105/02b; DRdA 2001/37; 8 ObS 207/02b). Neben der Dauer der Nichtzahlung des Lohnes sind auch weitere Kriterien einzubeziehen. So wurde berücksichtigt, dass je länger ein Arbeitnehmer bereits bei einem bestimmten Arbeitgeber beschäftigt ist und im Wesentlichen regelmäßig sein Entgelt erhalten hat, desto weniger davon auszugehen ist, dass ein bedingter Vorsatz zur Risikoüberwälzung für die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses maßgeblich war. Auch ein typischer Arbeitnehmer zeigt dann, wenn er regelmäßig Entgeltzahlungen erhält und es sogar teilweise zu einem Abbau der Rückstände kommt, in einem für ihn vertretbaren Ausmaß Betriebstreue (8 ObS 207/02b; 8 ObS 109/02s uva). Ausgangspunkt für die Beurteilung ist der jeweilige konkrete Einzelfall, auch in seiner konkreten zeitlichen Lagerung und ob sich ausgehend von diesem Zeitpunkt ein Vorsatz auf Übertragung des Finanzierungsrisikos ermitteln lässt (8 ObS 207/02b).

Der EuGH hat nun in seinem Urteil vom 11. 9. 2003 zu C-201/01 Stellung dazu bezogen, wann eine missbräuchliche Verhaltensweise zu Lasten von Garantieeinrichtungen angenommen werden kann und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben. Der Gerichtshof hat dazu wörtlich festgehalten (Rz 46): Dazu ist festzustellen, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Zeitpunkt hinaus, zu dem der Arbeitnehmer die finanzielle Krise der Gesellschaft erkennen konnte, eine missbräuchliche Verhaltensweise zu Lasten von Garantieeinrichtungen darstellt, wenn ohne sachlichen Grund die Voraussetzungen für die Gewährung des Schutzes herbeigeführt werden, den die Richtlinie 80/987 für die Opfer der Zahlungsunfähigkeit eines Arbeitgebers vorsieht. Ferner hat der Gerichtshof ausgeführt (Rz 48): Deshalb sind Maßnahmen eines Mitgliedsstaates, die die Vermeidung von Missbräuchen bezwecken und darin bestehen, dem Gesellschafter-Arbeitnehmer ein Recht auf Garantie für nach diesem Zeitpunkt entstandene, nicht erfüllte Entgeltansprüche zu versagen, als Maßnahmen zur Vermeidung von Missbräuchen im Sinne von Art 10 Buchstabe a der RL 80/987 anzusehen (das Vorabentscheidungsersuchen bezog sich auf einen Gesellschafter-Arbeitnehmer, der allerdings nach dem Inhalt der Entscheidung des EuGH nicht grundsätzlich anders zu behandeln ist wie ein "gewöhnlicher" Arbeitnehmer). Schließlich (Rz 50) hält der Gerichtshof fest: Außerdem ergibt sich aus Art 4 Abs 2 erster und zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 80/987 , dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer nicht als ungewöhnlich angesehen hat, wenn das unbezahlte Arbeitsentgelt einen Zeitraum von weniger als drei Monaten betrifft. Es wäre daher mit dem Zweck der Richtlinie 80/987 nicht zu vereinbaren, zu unterstellen, dass ein Arbeitnehmer, der nicht die Stellung eines Gesellschafters hat, in der Regel vor Ablauf dieser Frist wegen Vorenthaltung des Entgelts aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten wäre.

Unter Berücksichtigung der hier vorliegenden Umstände des Einzelfalls ist der Revisionsbeantwortung darin beizupflichten, dass dem Kläger Insolvenz-Ausfallgeld nur für den Zeitraum der ersten drei Monate der Nichtzahlung des Lohnes, also für die laufenden Entgelte Juni bis August 1999 zusteht. Dabei sind insbesondere die kurze Beschäftigungsdauer des Klägers und der Umstand hervorzuheben, dass er nur ganz am Anfang des Dienstverhältnisses eine - verspätete - Gehaltsteilzahlung erhielt, während die folgenden 10 Monate keinerlei Gehaltszahlungen flossen. Überdies musste dem Kläger durch die Gewährung zweier Darlehen an seine Dienstgeberin der Liquiditätsengpass des Unternehmens bekannt sein. Damit kommt aber eine Zuerkennung von IAG für mehr als drei Monatsentgelte - die etwa dann gerechtfertigt sein könnte, wenn der Dienstnehmer eine lange Betriebszugehörigkeit aufgewiesen hätte - nicht in Betracht. Da umgekehrt im hier zu beurteilenden Fall auch Kollusion - also ein bewusst missbräuchliches Zusammenwirken von Arbeitnehmer und Arbeitgeber - nicht erwiesen ist, (in welchem Fall auch eine gänzliche Versagung von IAG gerechtfertigt wäre - vgl Rz 36 der zitierten EuGH-Entscheidung) wird dem Kläger, der seine Ansprüche auch gerichtlich geltend machte, IAG im Ausmaß von drei Monatsentgelten zustehen, weil - im Einklang mit der EuGH Entscheidung - nicht unterstellt werden kann, dass ein "gewöhnlicher" Arbeitnehmer vor Ablauf von drei Monaten ab Nichtzahlung seines Entgeltes aus dem Dienstverhältnis ausgetreten wäre.

Da eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Höhe der geltend gemachten Ansprüche bisher nicht erfolgte und auch aus den bisherigen Berechnungen des Klägers die Höhe des ihm zustehenden Anspruches nicht nachvollziehbar ist, war eine Aufhebung der angefochtenen Urteile unumgänglich. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren nach Erörterung mit den Parteien Feststellungen zu treffen haben, die eine Beurteilung der Höhe des dem Kläger zustehenden IAG ermöglichen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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