OGH 2Ob259/03g

OGH2Ob259/03g13.11.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Johanna S*****, vertreten durch die Eltern Hubert und Margarethe S*****, alle vertreten durch Dr. Wilfrid Raffaseder und Mag. Michael Raffaseder, Rechtsanwälte in Freistadt, gegen die beklagten Parteien 1.) Stefan F***** und 2.) W***** AG, ***** beide vertreten durch Dr. Erich Kaltenbrunner, Rechtsanwalt in Linz, wegen EUR 4.440,31 sA und Feststellung (Streitwert EUR 2.180,19) infolge Rekurses der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 10. Juli 2003, GZ 15 R 104/03z-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Freistadt vom 30. Dezember 2002, GZ 2 C 877/01v-12, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs der beklagten Parteien wird nicht Folge gegeben. Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 15. 6. 2002 ereignete sich gegen 11.05 Uhr im Ortsgebiet von Freistadt auf der Mühlviertler Bundesstraße ein Verkehrsunfall, an dem die damals 16-jährige Klägerin als Lenkerin und Halterin ihres Mofas sowie der Erstbeklagte als Lenker und Halter eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW Audi 6 beteiligt waren.

Die Klägerin begehrt Zahlung von S 61.100 an Schmerzengeld, Verunstaltungsentschädigung, Ersatz für Sachschäden sowie unfallbedingter Spesen abzüglich einer Akontozahlung der zweitbeklagten Partei und die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle zukünftigen Folgen aus dem Verkehrsunfall, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei auf die Versicherungssumme beschränkt sei. Das Alleinverschulden treffe den Erstbeklagten, der unter Verletzung des Vorranges der Klägerin von einem Parkplatz kommend in die Mühlviertler Bundesstraße eingefahren sei und die herannahende Klägerin übersehen habe. Deren Verletzungen rechtfertigten Schmerzengeld als auch die Geltendmachung einer Verunstaltungsentschädigung sowie das Feststellungs- begehren. Die beklagten Parteien beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin treffe das alleinige, bzw das überwiegende Verschulden, weil sie auf das für sie erkennbare und ordnungsgemäße Einfahren des Erstbeklagten in die Bundesstraße nicht entsprechend reagiert habe. Für den Erstbeklagten sei die Klägerin auf Grund seiner beschränkten Sicht nicht wahrnehmbar gewesen. Die Klägerin habe auf der B 310 eine bei weitem größere Sichtweite gehabt und dennoch keine hinreichende Abwehrreaktion gesetzt. Auch wenn sich der Erstbeklagte ganz nach links in Richtung der nahenden Klägerin orientiert hätte, wäre der Verkehrsunfall deswegen nicht unterblieben, weil sie für den Erstbeklagten im Zeitpunkt des Wegfahrens nicht im Sichtbereich gewesen wäre. Der Unfall wäre daher auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten unvermeidbar gewesen. Kompensando wurde eine Gegenforderung von EUR 2.151,11 (Reparaturkosten am Beklagtenfahrzeug) eingewendet.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Es ging von nachstehenden Feststellungen aus:

Zum Unfallszeitpunkt bestand auf dem in Richtung Ortszentrum Freistadt gesehen rechten Fahrstreifen der B 310 zähflüssiger, immer wieder zum Stillstand kommender Kolonnenverkehr, während auf dem ortsauswärts führenden Fahrstreifen Fließverkehr herrschte. Der Erstbeklagte wollte mit seinem PKW Audi A 6 in Begleitung seiner auf dem Beifahrersitz sitzenden Ehefrau von einem Parkplatz kommend zunächst nach rechts in Richtung Ortszentrum einfahren, was er durch Setzen des rechten Blinkers anzeigte. Nachdem ein in der Kolonne befindlicher PKW Golf angehalten hatte, um dem Erstbeklagten die Einfahrt zu ermöglichen, lenkte dieser zuerst leicht nach rechts, beschloss aber nach Rücksprache mit seiner Ehefrau, dem in Fahrtrichtung Ortszentrum bestehenden zähflüssigen Kolonnenverkehr zu entgehen und sich in den ortsauswärts fahrenden flüssigen Verkehr einzuordnen, weshalb er nach links blinkte und begann, sich langsam in Richtung Fahrbahnmitte vorzutasten. Etwa im Bereich der Fahrbahnmitte angekommen, brachte der Erstbeklagte seinen PKW zunächst zum Stillstand, blickte nach rechts und ließ dann sein Fahrzeug mit äußerst geringer Geschwindigkeit vorwärts rollen. In jenem Zeitpunkt, als die Vorderfront des Beklagtenfahrzeuges etwa einen ½ m in den Richtung ortsauswärts fahrenden Fahrstreifen der B 310 hinein ragte, kam es zur Kollision mit dem Moped der Klägerin. Diese war etwa 70 bis 80 m vor der späteren Kollision aus der Richtung Ortszentrum fahrenden Kolonne ausgeschert und an dieser vorbeigefahren. Die genaue Fahrlinie konnte nicht festgestellt werden, jedenfalls überragten Teile des Mopeds bzw des Körpers die Fahrbahnmitte. Nachdem die Klägerin etwa 22 m vor der späteren Kollisionsstelle die Stoßstange und den vorderen Teil der Fahrzeugfront des Beklagtenfahrzeuges wahrgenommen hatte, begann sie in der Annahme, der Erstbeklagte werde sie ebenfalls wahrnehmen und stehen bleiben, zunächst leicht zu bremsen. Als sie sich 7 m vor der späteren Kollisionsstelle befand, erkannte sie, dass das Beklagtenfahrzeug nicht stehen bleiben wird und leitete eine starke Bremsung ein, mit der sie die Kollision aber nicht mehr verhindern konnte. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Mopeds lag zwischen 25 bis 30 km/h, die des Audi im Bereich von 3 km/h. In Annäherung an die Unfallstelle hielt die Klägerin eine Geschwindigkeit von etwa 30 bis maximal 40 km/h ein. Die Klägerin hätte die Möglichkeit gehabt, durch eine Betriebsbremsung den Unfall zu verhindern, wenn sie bereits in jenem Zeitpunkt, in dem sie das in die B 310 einfahrende Beklagtenfahrzeug erstmals wahrgenommen hatte, auf dieses reagiert und das Moped zum Stillstand gebracht hätte oder auf eine Geschwindigkeit von maximal 7 km/h abgebremst hätte. Der Erstbeklagte, dessen Sicht auf das herannahende Moped durch die in der Kolonne befindlichen Fahrzeuge erheblich eingeschränkt war, konnte auf Grund der von der Klägerin eingehaltenen Geschwindigkeit in jenem Zeitpunkt in dem das Klagsfahrzeug für ihn erkennbar war, die Kollision nicht mehr verhindern.

Rechtlich folgerte das Erstgericht aus diesem Sachverhalt, der Erstbeklagte habe keine Vorrangverletzung gegenüber der Klägerin zu vertreten, weil er sich ordnungsgemäß in die Fahrbahn der B 310 hinein getastet habe und bei seinem Einfahrmanöver die Klägerin für ihn gar nicht wahrnehmbar gewesen sei. Es spiele keine Rolle, ob der Erstbeklagte den aus seiner Sicht von links kommenden Verkehrs ausreichend - insbesondere durch einen Blick nach links unmittelbar vor dem neuerlichen Anrollenlassen seines PKWs beobachtet habe, weil bei den für den Erstbeklagten gegebenen Sichtverhältnissen und der von der Klägerin eingehaltenen Geschwindigkeit das Klagsfahrzeug auch bei einem solchen Blick nach links nicht erkennbar gewesen wäre. Der Erstbeklagte könne sich auf die Grundsätze des rechtmäßigen Alternativverhaltens berufen. Die Klägerin treffe ein Verschulden in zweifacher Hinsicht. Einerseits habe sie versucht, mit einer Geschwindigkeit von jedenfalls 30 km/h an der PKW-Kolonne links vorbeizufahren. Mit dieser Geschwindigkeit habe sie der konkreten Verkehrssituation nicht ausreichend Rechnung getragen. Sie wäre verpflichtet gewesen, eine Geschwindigkeit einzuhalten, die es ihr ermöglicht hätte, ihr Moped im Kolonnenverkehr vor Fahrzeugen, die sich vortastend die Fahrbahn queren, zum Stillstand zu bringen. Das Vorbeifahren an einer stehenden Kolonne erfordere schon wegen der durch die angehaltenen Fahrzeuge bedingten Sichtbehinderung immer besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit. Dabei müsse der Vorbeifahrende in Rechnung stellen, dass etwa Fußgänger geringfügig zwischen den Fahrzeugen der Kolonne hervor träten, um die Möglichkeit des Überquerens der Fahrbahn zu erkunden. Nichts Anderes könne auch für aus Querstraßen, Nebenfahrbahnen und Parkplätzen kommende Fahrzeuge gelten, die versuchten, sich in die bevorrangte Straße vorzutasten. Der Vorbeifahrende müsse bei der Wahl seiner Geschwindigkeit, mit der Möglichkeit rechnen, dass sich solche Fahrzeuge an der aufgestauten Kolonne vorbei tasten, um ausreichende Sichtverhältnisse zu verschaffen. Weiters hätte die Klägerin bereits auf das Beklagtenfahrzeug reagieren müssen, als sie es zum ersten mal wahrgenommen habe und so den Unfalls mit einer Betriebsbremsung verhindern können, weil ihr klar sein musste, dass für den Lenker des Beklagtenfahrzeuges nur sehr eingeschränkte Sicht auf den von links kommenden Verkehr bestehe. Für sie habe daher bereits zu diesem Zeitpunkt eine unklare Verkehrssituation bestanden, weshalb sie nicht davon ausgehen durfte, der Erstbeklagte werden stehen bleiben und der Klägerin das Vorbeifahren ermöglichen.

Auf Grund des eindeutigen Alleinverschuldens der Klägerin komme eine Haftung nach dem EKHG nicht in Frage.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge, hob das Urteil des Erstgerichtes auf und trug diesem eine Verfahrensergänzung zur Feststellung des eingetretenen Schadens auf. Es sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

Dem Fahrzeug der Klägerin sei nach § 19 Abs 6 StVO der Vorrang gegenüber dem von einem Parkplatz in die Bundesstraße einfahrenden PKW des Erstbeklagten zugekommen. Nach § 19 Abs 7 StVO dürfe der Wartepflichtige durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Vorrangberechtigten weder zu unvermitteltem Bremsen, noch zum Ablenken der Fahrzeuge nötigen. Die Wartepflicht setze aber die Wahrnehmbarkeit des bevorrangten Fahrzeuges durch den Wartepflichtigen bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit voraus. Der benachrangte Verkehrsteilnehmer könne sich aber nur dann auf die mangelnde objektive Wahrnehmbarkeit des anderen Verkehrsteilnehmers berufen, wenn es ihm auch bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit nicht möglich gewesen sei, das andere Fahrzeug wahrzunehmen und auch dann nicht, wenn das Nichtwahrnehmen auf ein Fehlverhalten des Wartepflichtigen zurückzuführen sei. Durch die Bestimmung des § 19 Abs 7 StVO solle sichergestellt werden, dass der Wartepflichtige nicht nur durch den Beginn seines die Fahrweise des Vorrangberechtigten allenfalls beeinträchtigenden Fahrmanövers, sondern auch durch die Durchführung dieses Fahrmanövers bis zu seiner Beendigung den Vorrangberechtigten nicht zu unvermitteltem Bremsen oder Auslenken nötigen dürfe, wobei entscheidend sei, ob der Vorrangberechtigte durch das gesamte Einbiegemanöver des im Nachrang Befindlichen behindert worden sei. Es bestehe auch umfangreiche Judikatur zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein wartepflichtiger Kraftfahrer in eine Kreuzung bei ungünstigen Sichtverhältnissen "vortastend" einfahren dürfe, wobei hervor gehoben worden sei, dass diese Vorsichtsmaßnahme nicht nur beim Einfahren in eine vorerst nicht einsehbare Verkehrsfläche einzuhalten sei, sondern auch dann, wenn die Fahrbahn der bevorrangten Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden kann, das erforderlich sei, um mit Sicherheit beurteilen zu können, dass durch das Einfahren in die bevorrangte Verkehrsfläche keine Fahrzeuge, die dort herankommen könnten, behindert würden. Der benachrangte Fahrzeuglenker habe sich dann, wenn es die schlechten Sichtverhältnisse erforderten, äußerst vorsichtig der Kreuzung zu näheren und sich auf dieser vorzutasten, um die notwendige Sicht zu gewinnen. Vortasten bedeute dabei in der Regel ein schrittweises Vorrollen in mehreren Etappen bis zu jenem Punkt, von dem aus die erforderliche Sicht möglich sei. Der Erstbeklagte habe, als er mit seinem Fahrzeug im Bereich der Fahrbahnmitte angekommen war, den PKW zunächst zum Stillstand gebracht, nach rechts geblickt und schließlich sein Fahrzeug mit äußerst geringer Geschwindigkeit vorrollen lassen. In jenem Zeitpunkt, als die Vorderfront des Fahrzeuges etwa einen halben Meter in den linken Fahrstreifen (aus Sicht der Klägerin) hineinragte, sei es zur Kollision gekommen. Zu dem Zeitpunkt, als das Klagsfahrzeug für den Erstbeklagten erstmalig erkennbar gewesen sei, sei eine Kollision nicht mehr zu verhindern gewesen. Auch wenn der Erstbeklagte unmittelbar vor dem neuerlichen Wegrollen-Lassen des Fahrzeuges nach links geblickt hätte, wäre eine Kollision nicht zu vermeiden gewesen. Da die Klägerin für den Erstbeklagten trotz seines mit äußerst geringer Geschwindigkeit vorgenommenen Vortastens in die Bundesstraße objektiv nicht wahrnehmbar gewesen sei, könne ihm eine Vorrangverletzung nicht angelastet werden.

Die beklagten Parteien hätten aber für "außergewöhnliche Betriebsgefahr" einzustehen. Eine solche liege dann vor, wenn zur gewöhnlichen Betriebsgefahr besondere Gefahrenmomente hinzuträten, die nach dem normalen Ablauf der Dinge nicht schon dadurch gegeben waren, dass ein Fahrzeug überhaupt in Betrieb gesetzt worden sei. Hier sei die beim Beklagtenfahrzeug regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges verbundene Gefährlichkeit (gewöhnliche Betriebsgefahr) dadurch vergrößert worden, dass besondere Gefahrenmomente hinzu getreten seien, nämlich dass für den Erstbeklagten bei seinem Einfahrmanöver in die Bundesstraße keine Sichtmöglichkeit nach links auf den dort herannahenden Verkehr bestanden habe, obwohl er sich äußerst langsam und vortastend in Richtung Fahrbahnmitte bewegt habe und von dort sein Fahrzeug mit äußerst geringer Geschwindigkeit vorwärts rollen habe lassen, wodurch es etwa einen halben Meter in den Richtung ortsauswärts führenden Fahrstreifen hinein geragt habe. Diese Situation sei mit jenen Fällen vergleichbar, in denen ein zum Stillstand gebrachtes Fahrzeug auch zur zum Teil in die Fahrbahn geragt habe.

Hingegen sei der Klägerin lediglich eine mangelnde bzw verspätete Reaktion vorzuwerfen. Zwar müsse ein bevorrangter Verkehrsteilnehmer nicht damit rechnen, dass der ihm zustehende Vorrang verletzt werden könnte, weshalb er bei Annäherung an eine Kreuzung nicht von vorneherein bremsbereit fahren oder seine Geschwindigkeit verringern müsse, doch sei er ab dem Zeitpunkt zu einer Reaktion verpflichtet, ab dem er auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Wartepflichtigen nicht mehr ohne weiteres vertrauen dürfe. Die Klägerin habe bereits 22 m vor der späteren Kollisionsstelle das einfahrende Fahrzeug des Erstbeklagten wahrnehmen können und hätte nicht ohne Weiteres davon ausgehen dürfen, dass auch sie vom Erstbeklagten auf Grund seiner Sitzposition (2 m hinter der Front des Fahrzeuges) wahrgenommen werden könne. Sie habe die Verkehrssituation zumindest als bedenklich einstufen und ihre Geschwindigkeit sofort mit einer normalen Betriebsbremsung soweit reduzieren müssen, dass es ihr möglich gewesen wäre, vor dem einfahrenden Beklagtenfahrzeug anzuhalten oder auf maximal 7 km/h herab zu setzen, wodurch die Kollision ebenfalls vermieden worden wäre.

Da das Verschulden der Klägerin nicht als gravierend anzusehen sei und eine außergewöhnliche Betriebsgefahr auf Seite des Fahrzeuges des Erstbeklagten vorliege, sei eine Schadensteilung von 1 : 1 gerechtfertigt.

Im fortgesetzten Verfahren seien Feststellungen zur Höhe des eingetretenen Schadens zu treffen.

Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu einer Unfallskonstellation wie im vorliegenden Fall bestehe, in dem dem benachrangten Verkehrsteilnehmer, der ohne Sichtmöglichkeit vorsichtig und vortastend in die Vorrangstraße einfahre, mangels Wahrnehmbarkeit des Bevorrangten keine Verletzung der Wartepflicht anzulasten sei.

Die beklagten Partei führen in ihren Rekurs aus, die Klägerin habe sich auf eine Schadensteilung infolge außergewöhnlicher Betriebsgefahr im Verfahren erster Instanz nicht berufen, eine "außergewöhnliche" Betriebsgefahr sei vom Fahrzeug des Erstbeklagten nicht ausgegangen. Mangels Verschuldens des Erstbeklagte sei eine Schadensteilung nicht vorzunehmen.

Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung die Zurückweisung des Rekurses der beklagten Parteien als unzulässig; hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, aber im Ergebnis nicht berechtigt. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Unterschied zwischen gewöhnlicher und außergewöhnlicher Betriebsgefahr funktionell darin zu erblicken, dass zur gewöhnlichen Betriebsgefahr besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Ablauf der Dinge nicht schon dadurch gegeben waren, dass ein Fahrzeug überhaupt in Betrieb gesetzt wurde (RIS-Justiz RS0058457; RS0109293; RS0087681;

RS0058448: Apathy, EKHG, § 11, Rz 28; Danzl, EKHG7, § 9, E 75;

Schauer in Schwimann ABGB², § 9 EKHG, Rz 37). Die Unbeherrschbarkeit des Fahrzeuges ist kein notwendiges Merkmal für das Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr (Schauer aaO mwN). So wurde bereits ausgesprochen, außergewöhnliche Betriebsgefahr liege bereits dann vor, wenn ein Fahrzeug bei Dunkelheit auf einer zwei Fahrstreifen breiten Fahrbahn einer Autobahn in einem Winkel von 90 Grad zur Fahrbahnlängsachse zum Stehen kommt und in beide Fahrstreifen ragt (ZVR 1999/36), oder einen Fahrstreifen einer Autobahn blockiert (ZVR 2000/62; ZVR 2003/80) bzw auf einer Schnellstraße mit ganz geringer Geschwindigkeit teilweise auf dem ersten Fahrstreifen fährt (2 Ob 151/03z).

Ob die festgestellte Fortbewegung des Beklagtenfahrzeuges eine solche außergewöhnliche Betriebsgefahr herbeigeführt hat, muss im vorliegenden Fall aber nicht geprüft werden, weil den Erstbeklagten jedenfalls ein Verschulden trifft.

Der Erstbeklagte ist von einem Parkplatz in die bevorrangte Bundesstraße eingefahren und wollte zunächst nach rechts einbiegen, hat aber von diesem Vorhaben wegen des vorhandenen zähflüssigen Verkehrs in Richtung Ortsmitte Abstand genommen und beabsichtigte nach Absprache mit seiner am Nebensitz mitfahrenden Ehefrau, nach links einzubiegen. Er brachte sein Fahrzeug im Bereich der Fahrbahnmitte zum Stillstand und ließ es anschließend mit äußerst geringer Geschwindigkeit etwa einen halben Meter vorrollen, wobei es zur Kollision mit dem Moped der Klägerin kam, die an der Kolonne vorbeigefahren ist.

Der Erstbeklagte war wartepflichtig und hatte den Vorrang der auf einer Bundesstraße fahrenden Klägerin zu wahren. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung hat sich der benachrangte Kraftfahrzeuglenker äußerst vorsichtig zur Kreuzung vorzutasten, um die notwendige Sicht zu gewinnen und den Vorrang des Fließverkehrs wahren zu können. Dabei bedeutet "Vortasten" in der Regel ein schrittweises oder zentimeterweises Vorrollen in mehreren Etappen bis zu einem Punkt, von dem die Sicht möglich ist (ZVR 1980/337;

RIS-Justiz RS0074932; RS0074791). Ist ein solches Vortasten unmöglich, dann ist ein Einweiser beizuziehen (RIS-Justiz RS0073277;

ZVR 1981/270). Steht ein solcher nicht zur Verfügung und ist ein "Vortasten" im Sinne der obigen Ausführungen nicht möglich, hat der benachrangte Verkehrsteilnehmer von seinem beabsichtigten Linksabbiegemanöver abzustehen, nach rechts einzubiegen und allenfalls einen Umweg in Kauf zu nehmen.

Der Erstbeklagte ließ sein Fahrzeug von seiner letzten Stillstandsposition (etwa in Fluchtlinie der linken Fahrzeugbegrenzungen der aufgestauten bzw angehaltenen Kolonne) bis zur Kollision einen halben Meter zwar äußerst langsam, aber dennoch in einem Zuge vorrollen. Diese Vorgangsweise entsprach nicht dem von der Rechtsprechung geforderten Vortasten bei Einfahren in eine allenfalls durch anhaltende Fahrzeuge schlecht einsichtige Vorrangstraße. Im Übrigen wäre ihm in der Person der neben ihm mitfahrenden Ehefrau ein Einweiser zur Verfügung gestanden, um den gesetzlichen Vorschriften (§ 13 Abs 3 StVO) zu genügen. Schließlich hätte der Erstbeklagte auch von seinem Linksabbiegemanöver Abstand nehmen und rechts einbiegen können.

Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen trifft daher den Erstbeklagten ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalles.

Soweit das Berufungsgericht auch der Klägerin ein Verschulden infolge unzureichender Reaktion auf eine unklare Verkehrssituation anlastet, ist auf dessen zutreffende Begründung zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO). Der Vorwurf der Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit wurde im Verfahren erster Instanz nicht erhoben. Da die Klägerin bei sofortiger Reaktion auf die bedenkliche Verkehrssituation den Unfall durch eine Betriebsbremsung vermeiden hätte können, bestehen gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Schadensteilung von 1:1 keine Bedenken.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Stichworte