OGH 8ObS3/03d

OGH8ObS3/03d22.5.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Petrag als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rohrer und Dr. Lovrek sowie durch die fachkundigen Laienrichter Peter Ammer und Gerhard Loibl als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Reinhard L*****, wider die beklagte Partei Bundessozialamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland (nunmehr IAF-Service GmbH, Geschäftsstelle Eisenstadt, Neusiedlerstraße 10, 7000 Eisenstadt), vertreten durch die Finanzprokuratur, Singerstraße 17-19, 1010 Wien, wegen EUR 8.625,35 sA an Insolvenz-Ausfallgeld, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. Dezember 2002, GZ 8 Rs 304/02p-13, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 7. März 2002, GZ 16 Cgs 11/01y-9, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der Kläger war vom 19. 10. 1998 bis 3. 3. 2000 im Betrieb des Unternehmens des Gemeinschuldners Kurt S***** in St*****, über dessen Vermögen am 27. 3. 2000 der Konkurs eröffnet wurde, als Tischlergeselle beschäftigt. Sein monatliches Nettogehalt betrug S 12.000 bei einer 40-Stunden-Woche. Seit Juli 1999 erhielt er mit Ausnahme von ein oder zwei Zahlungen, die auf seine Forderungen bis 30. 6. 1999 angerechnet wurden, kein Entgelt mehr. Er versuchte immer wieder die ausständigen Zahlungen zu erlangen. Kurt S***** vertröstete ihn und stellte die Bezahlung sämtlicher Ansprüche in Aussicht, ohne konkrete Zahlungstermine zu nennen. Eine Nachfrist für die Bezahlung seines Lohnes setzte der Kläger nicht. Er drohte weder seinen vorzeitigen Austritt noch eine gerichtliche Geltendmachung seiner Ansprüche an. Der Kläger bestritt seinen Lebensunterhalt aus Rücklagen und vom Einkommen seiner Frau. Das Dienstverhältnis wurde am 3. 3. 2000 durch Kündigung des Dienstgebers beendet. Der Kläger hatte keine Befürchtungen, sein Entgelt nicht zu bekommen. Er rechnete nicht mit einer Insolvenz der Firma. Er hatte keinen Einblick in die finanzielle Situation des Unternehmens. Er hörte sich bereits im Herbst 1999 und besonders in der letzten Zeit vor dem Kündigungstermin im Bekannten- und Freundeskreis nach anderen Arbeitsplätzen um, war aber nie beim AMS. Der Kläger kannte den Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds und dessen wesentliche Funktion.

Der Kläger begehrt Zahlung von S 118.688,08 netto sA (EUR 8.625,35) an Entgeltansprüchen für Juli 1999 bis 3. 3. 2000, Sonderzahlungen für 1999 und anteilige Sonderzahlungen bis 3. 3. 2000 zuzüglich näher aufgeschlüsselter Verzugszinsen und Barauslagen. Er sei ein typischer Dienstnehmer. Er habe auch das ausständige Entgelt öfter persönlich bei seinem Dienstgeber eingefordert. Mangels Arbeitsplätzen im Bezirk O***** und aufgrund der fixen Zusage seines Dienstgebers, dass bald eine volle Befriedigung der ausständigen Forderungen zu erwarten sei, habe er einen Arbeitsplatzwechsel nicht vorgenommen. Von einem missbräuchlichen Zuwarten mit der Geltendmachung seiner Ansprüche könne nicht ausgegangen werden.

Die Beklagte bestritt das Klagebegehren und wendete ein, der Kläger sei trotz der Tatsache, dass er seit Juli 1999 kein Entgelt mehr erhalten habe, bis zur Auflösung des Dienstverhältnisses über acht Monate lang im Unternehmen geblieben. Für jene Entgeltansprüche des Klägers, die vor mehr als sechs Monaten vor dem Stichtag (27. 3. 2000) fällig geworden seien, bestünde ein Anspruch auf IAG schon deshalb nicht, weil diese Ansprüche niemals gerichtlich geltend gemacht worden seien. Das Zuwarten des Klägers trotz eines Lohnrückstandes von acht Monaten halte dem vom Obersten Gerichtshof herangezogenen Fremdvergleich nicht stand.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Wenn ein Arbeitnehmer trotz längerer Nichtzahlung des Lohnes im Unternehmen tätig bleibe und nicht versuche, sein Entgelt ernstlich einbringlich zu machen, indiziere das in der Regel, dass er beabsichtige oder zumindest in Kauf nehme, seine offenen Lohnansprüche gegen den Fonds geltend zu machen. Das stelle eine unzulässige Verlagerung des Finanzierungsrisikos dar. Einem durchschnittlichen Arbeitnehmer sei zumindest die Setzung einer Nachfrist, die Androhung des vorzeitigen Austrittes aus dem Dienstverhältnis oder die gerichtliche Geltendmachung seiner Ansprüche zuzumuten. Der Kläger sei im konkreten Fall untypischerweise trotz Nichtzahlung des Lohnes über acht Monate im Unternehmen geblieben und habe weder ernstlich versucht, die aushaftenden Beträge hereinzubringen noch habe er einen berechtigten vorzeitigen Austritt erklärt. Ein Zuwarten von mehr als sechs Monaten sei keinesfalls zu tolerieren und gelte jedenfalls als missbräuchlich und sittenwidrig im Sinne des § 879 ABGB. Der angestellte Fremdvergleich zeige, dass das Dienstverhältnis des Klägers insgesamt aus dem Schutzbereich des IESG falle.

Über Berufung des Klägers hob das Berufungsgericht das Ersturteil auf und verwies die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht. Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs im Hinblick auf die "schwankende Rechtsprechung" und die geänderte Rechtslage zulässig sei.

Ausgehend von den eingangs dargestellten, vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes gelangte das Berufungsgericht zur rechtlichen Beurteilung, dass die Bestimmung des § 3a IESG, die mit BGBl I 1997/107 eingefügt worden sei, Sicherungsgrenzen in zeitlicher Hinsicht in Bezug auf das laufende Entgelt enthalte. IAG gebühre dem Arbeitnehmer für die regelmäßige Arbeitsleistung in der Normalarbeitszeit einschließlich der gebührenden Sonderzahlungen für über sechs Monate vor dem Stichtag liegende Perioden nur dann, wenn das Entgelt bis zum Stichtag im Verfahren in Arbeitsrechtssachen gerichtlich geltend gemacht worden sei. Der Oberste Gerichtshof habe wiederholt dargelegt, dass das IESG den Arbeitnehmer vor den typischerweise von ihm selbst nicht abwendbaren und absicherbaren Gefahren des Verlustes der Entgeltansprüche durch Insolvenz des Arbeitgebers absichern solle. Dem Arbeitnehmer sei regelmäßig der Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitgebers verwehrt. Er sei dadurch einem höheren, von ihm nicht beeinflussbaren Risiko ausgesetzt. Nur dieses Risiko, nicht aber das Finanzierungsrisiko für die Arbeitslöhne sei dem Fonds übertragen worden. Nehme der Arbeitnehmer bewusst in Kauf, dass er die Gegenleistung für seine Arbeit nicht vom Arbeitgeber, sondern vom Fonds bekomme und arbeite weiter, so sei die Geltendmachung von IAG als unzulässige Überwälzung des Finanzierungsrisikos angesehen worden. Zur Feststellung des dafür erforderlichen "bedingten Vorsatzes" werde der Fremdvergleich herangezogen. Der Vorsatz werde unter anderem auch daraus erschlossen, dass ein Arbeitnehmer über längere Zeiträume nicht versuche, sein Entgelt ernstlich einbringlich zu machen. Für die Annahme eines bedingten Vorsatzes käme es auf das Bewusstsein des Arbeitnehmers an. Um die Sittenwidrigkeit der Geltendmachung gegen den Fonds deutlich zu machen, seien in der Rechtsprechung eine Reihe von Kriterien herausgearbeitet worden. Dazu zähle ein Entgelt, das deutlich über der Sechsmonatsgrenze ausständig gewesen sei. Zu berücksichtigen sei ferner die Dauer der Betriebszugehörigkeit (Betriebstreue) und ob es zu Nachzahlungen gekommen sei. Dabei handle es sich um eine Beurteilung im Einzelfall. Nach der neuen Rechtslage (BGBl I 2000/142) könne aus einem über sechs Monate hinausgehenden Stehenlassen offenen Entgelts nur mehr in besonders gravierenden Fällen geschlossen werden, dass ein bedingter Vorsatz im Sinne einer sittenwidrigen Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds vorliege.

Im konkreten Fall sei zu berücksichtigen, dass der Kläger als Tischlergeselle in einem Tischlereibetrieb seinen Lohn schleppend zum Teil nur in Raten bekommen habe, von Ersparnissen bzw vom Einkommen seiner Frau gelebt habe und über die finanzielle Situation seines Dienstgebers keine Ahnung gehabt habe. Er sei längere Zeit im Betrieb beschäftigt gewesen und habe keine persönliche Nahebeziehung zum Dienstgeber. Bedingter Vorsatz sei ihm nicht vorzuwerfen. Dem Kläger gebühre daher grundsätzlich IAG. Mangels entsprechender Feststellungen zur Höhe und zum Zinsenbegehren (auch unter Berücksichtigung des § 3a IESG) habe eine Aufhebung zu erfolgen.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Aufhebungsbeschluss gerichtete Rekurs der Beklagten ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichtes unzulässig:

Unter Berücksichtigung des hier maßgeblichen Stichtages (27. 3. 2000) ist gemäß § 17a Abs 23 IESG dieses in der Fassung vor der Novelle BGBl I 142/2000 anzuwenden (vgl dazu 8 ObS 195/02p).

Den Ausführungen des Berufungsgerichtes ist entgegen der im Rekurs vertretenen Auffassung nicht zu entnehmen, dass das Berufungsgericht bereits § 3a Abs 1 IESG idF der IESG-Novelle BGBl I 142/2000 angewendet hätte.

Der Oberste Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung festgehalten, dass das IESG die Arbeitnehmer gegen das Risiko des gänzlichen oder teilweisen Verlustes ihrer Entgeltansprüche, auf deren regelmäßige Befriedigung sie typischerweise zur Bestreitung ihres und ihrer Angehörigen Lebensunterhaltes angewiesen sind, bei Insolvenz des Arbeitgebers absichern soll (8 ObS 209/02x; 8 ObS 206/00b = DRdA 2001/37 = WBl 2001/91; 8 ObS 105/02b). Die Überwälzung des Finanzierungsrisikos für die Arbeitslöhne auf den Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds, wenn dem Arbeitnehmer bewusst sein muss, dass er die Gegenleistung für seine Arbeit nicht vom Arbeitgeber, sondern vom Fonds bekommen werde und er deshalb weiter arbeitet, wurde als unzulässig und sittenwidrig angesehen (8 ObS 105/02b mwN; DRdA 2001/37 = WBl 2001/91). Ausreichend dafür ist schon der bedingte Vorsatz, also dass dem Handelnden die Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Fonds bewusst ist und er sich mit dem verpönten Erfolg zumindest abfindet (DRdA 2001/37 = WBl 2001/91; 8 ObS 203/02i uva). Dann, wenn ein Arbeitnehmer trotz längerer Nichtzahlung des Lohnes im Unternehmen tätig bleibt und nicht versucht, sein Entgelt ernstlich einbringlich zu machen, indiziert dies in der Regel, dass er beabsichtigt oder zumindest in Kauf nimmt, in der Folge seine offenen Lohnansprüche gegen den Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds geltend zu machen (8 ObS 195/02p; 8 ObS 105/02b; DRdA 2001/37 = WBl 2001/91, RIS-Justiz RS0112127). Hiezu können noch weitere besondere Anhaltspunkte für ein "Naheverhältnis" zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer kommen, die auf einen fehlenden Interessengegensatz oder besondere Informationen hindeuten.

Inwieweit aus dem langen Stehenlassen der Entgelte der zumindest bedingte Vorsatz der Verlagerung des Finanzierungsrisikos geschlossen werden kann, ist im Rahmen des "Fremdvergleiches" zu beurteilen, ob also auch ein "unbeteiligter Arbeitnehmer" im Unternehmen verblieben wäre (8 ObS 195/02p; 8 ObS 105/02b, DRdA 2001/37 = WBl 2001/91; 8 ObS 207/02b uva).

Im Rahmen des Fremdvergleiches ist nun nicht nur die Dauer der Nichtzahlung des Lohnes heranzuziehen. Es sind auch weitere Kriterien einzubeziehen. So wurde berücksichtigt, dass je länger ein Arbeitnehmer bereits bei einem bestimmten Arbeitgeber beschäftigt ist und im Wesentlichen regelmäßig sein Entgelt erhalten hat, desto weniger davon auszugehen ist, dass ein bedingter Vorsatz zur Risikoüberwälzung für die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses maßgeblich war, weil auch ein typischer Arbeitnehmer dann, wenn er regelmäßig Entgeltzahlungen erhält und es sogar teilweise zu einem Abbau der Rückstände kommt, in einem für ihn vertretbaren Ausmaß Betriebstreue zeigt (8 ObS 207/02b; 8 ObS 109/02s ua). Entscheidend ist auch, ob der Arbeitnehmer gerade in der letzten Zeit faktisch Entgeltzahlungen erhalten hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Entgeltzahlungen für frühere Lohnperioden erfolgten (8 ObS 207/02b). Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass bei "durchschnittlichen Arbeitnehmern", die in keiner besonderen Nahebeziehung zum Arbeitgeber stehen, ein bedingter Vorsatz im Sinne einer unzulässigen Überwälzung des Finanzierungsrisikos nur dann angenommen werden kann, wenn deutlich über sechs Monate liegende Entgeltrückstände bestehen (DRdA 2001/37 = WBl 2001/91; 8 ObS 39/01w).

Diese Grundsätze wurden vom Berufungsgericht bei seiner Entscheidung herangezogen. Ausgehend davon könnte deren Anwendung im Einzelfall nur dann eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 46 Abs 1 ASGG darstellen, wenn dem Berufungsgericht dabei eine die Rechtssicherheit beeinträchtigende Fehlbeurteilung unterlaufen wäre (8 ObS 209/02x; 8 ObS 105/02b).

Davon ist hier nicht auszugehen: Es ist zwar die Beurteilung des Berufungsgerichtes, dass der Kläger längere Zeit im Betrieb beschäftigt gewesen sei, mit den Feststellungen nicht in Einklang zu bringen. Allerdings ist hier besonders hervorzuheben, dass der Kläger in keiner Nahebeziehung zu seinem Dienstgeber stand und dass er auch nach Juli 1999 ein bis zwei Zahlungen, die auf seine Forderungen bis 30. 6. 1999 angerechnet wurden, erhielt. Berücksichtigt man diese Umstände, hält sich die berufungsgerichtliche Entscheidung auch im Hinblick auf den Zeitraum des "Stehenlassens" (der entgegen den Rekursausführungen nicht neun Monate, sondern genau acht Monate und drei Tage andauerte) im Rahmen der Rechtsprechung. Von einer krassen Fehlbeurteilung des Berufungsgerichtes kann daher nicht gesprochen werden.

Klarzustellen ist schließlich noch, dass dem Berufungsgericht nicht zu unterstellen ist, dass es das Begehren des Klägers auch für Ansprüche, die vor mehr als sechs Monaten vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig wurden, für berechtigt erkannte. Vielmehr ergibt sich gerade aus dem Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichtes, der zutreffend damit begründet wurde, dass keinerlei Feststellungen zur Höhe und zum Zinsenbegehren getroffen wurden, dass das Berufungsgericht im Sinne des § 3a Abs 1 IESG in der hier anzuwendenden Fassung sehr wohl davon ausging, dass nur jene Ansprüche gesichert sind, die innerhalb der dort genannten Sechsmonatsfrist fällig wurden. Da eine Aufschlüsselung unterblieb, aus der abgeleitet werden könnte, welche der geltend gemachten Ansprüche vor dem 3. 9. 2000 entstanden, kam eine teilweise Bestätigung des Ersturteils nicht in Betracht.

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