OGH 10ObS73/03p

OGH10ObS73/03p4.3.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Wolf (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Eduard K*****, vertreten durch Dr. Friedl KEG, Rechtsanwalt in Eibiswald, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Dezember 2002, GZ 8 Rs 234/02x-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht Wien vom 9. September 2002, GZ 36 Cgs 72/01h-26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Eingangs ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der Beklagten amtswegig von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war, weil mit 1. 1. 2003 alle Rechte und Verbindlichkeiten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter auf die neu errichtete Pensionsversicherungsanstalt übergingen (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Nov BGBl I Nr 1/2002).

Unbestritten steht fest, dass der am 9. 10. 1950 geborene Kläger eine qualifizierte Berufsausbildung als Maler und Anstreicher erworben hat und in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 9. 2000) als Maler und Anstreicher bzw seit Frühjahr 1989 bis 15. 6. 1999 saisonal als Sägearbeiter beschäftigt war, aber nur Teilkenntnisse eines Holz- und Sägetechnikers aufweist.

Er ist aufgrund der im Einzelnen festgestellten gesundheitlichen Leiden nur mehr in der Lage, ganztägig leichte und halbtägig mittelschwere Arbeiten sowohl im Freien als auch unter Dach, im Sitzen, Stehen oder Gehen zu verrichten. Forciertes Arbeitstempo und Akkordarbeit sind möglich. Arbeiten mit beiden Armen über Kopf sind um ein Drittel zu reduzieren. Arbeiten in gebückter Körperhaltung sind zumutbar, soweit sie nicht überwiegen. Arbeiten an exponierten Stellen sowie die Verwendung von Steighilfen sind nicht möglich. Die beiden eingangs erwähnten Erwerbstätigkeiten (deren Anforderungsprofil detailliert festgestellt wurde) kann der Kläger ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht mehr auf allen am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Arbeitsplätzen ausüben, weil er den teils körperlich schweren und in der Funktion als Maler vielfach in exponierten Lagen auszuführenden Arbeiten nicht mehr gewachsen ist. Es kommen für ihn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch Tätigkeiten wie zB die eines Kontrollarbeiters, Wächters, Produktionsarbeiters in der Elektroindustrie, Verpackers, Abwäschers, Geschirrabräumers, Tankwarts, Kassiers uam in Betracht, wofür in Österreich eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen (über 100) existieren. Mit Bescheid vom 2. 2. 2001 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 10. 8. 2002 auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab. Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage auch im 2. Rechtsgang ab. Da der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag nicht überwiegend in erlernten bzw angelernten Berufen tätig gewesen sei, komme § 255 Abs 3 ASVG zur Anwendung, wonach der Kläger, der den Anforderungen im zuletzt überwiegend ausgeübten Beruf nicht mehr entsprechen könne, zB auf die Tätigkeit eines Kontrollarbeiters uam zu verweisen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers im 2. Rechtsgang nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen des geltend gemachten Verfahrensmangels (weil nicht genau festgestellt wurde, ob der Kläger im Zeitraum September 1985 bis August 2000 überwiegend als Maler und Anstreicher oder als Sägearbeiter beschäftigt war) und schloss sich der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes, dass dem Kläger Berufsschutz als Holz- und Sägetechniker nicht zukomme, an. Für den Fall, dass der Kläger im Beobachtungszeitraum überwiegend als Maler und Anstreicher tätig gewesen sein sollte, wäre er auf Grund seines Leistungskalküles noch in der Lage, die Tätigkeit eines Malers bei bei Spritz-, Tauch-, Flut- und Pulverbeschichtungsverfahren, sowie Anstricharbeiten in Werkstätten auszuüben. Vergleiche man das festgestellte Anforderungsprofil der Verweisungstätigkeit mit dem medizinischen Leistungskalkül des Klägers, so ergebe sich nämlich keine negative Überschneidung. In welchem Ausmaß der Kläger im Beobachtungszeitraum Tätigkeiten als Maler und Anstreicher oder aber als Säger bzw Holz- und Sägetechniker ausgeübt habe, sei daher nicht näher zu klären. ISd § 255 Abs 1 ASVG müsse er sich auf Tätigkeiten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten - wie eben die genannte Verweisungstätigkeit - verweisen lassen.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus den Gründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben oder aber im klagestattgebenden Sinne abzuändern. Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Aufhebungsantrages berechtigt. Der Kläger zieht die grundsätzliche Verweisbarkeit auf die in der Berufungsentscheidung genannte Tätigkeit nicht mehr in Zweifel. Er erblickt jedoch darin eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, dass das Berufungsgericht "ohne nähere Begründung und insbesondere auch ohne weitere Beweisaufnahmen im Gegensatz zum Erstgericht" zum Ergebnis gelangt sei, er wäre noch in der Lage, die Verweisungstätigkeit eines Malers im Werkstättenbereich auszuüben. Das Berufungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung festgehalten, auf welche Feststellungen es den diesbezüglichen, ebenfalls dem Bereich der Sachverhaltsfeststellung zuzuordnenden, von Tatsachen auf Tatsachen gezogenen Schluss (also die Beurteilung, ob der Versicherte im Hinblick auf das festgestellte Leistungskalkül und die Anforderungen der in Frage kommenden Tätigkeit in der Lage ist, diese Tätigkeit zu verrichten [10 ObS 355/02g]) stützt; nämlich darauf, dass einerseits derartige Tätigkeiten, die berufstypisch nicht in exponierten Lagen zu verrichten sind, nur eine leichte bis halbzeitig mittelschwere körperliche Beanspruchung hervorrufen, während andererseits der Kläger noch in der Lage ist, ganztägig leichte und halbzeitig mittelschwere Arbeiten zu verrichten, sodass er nur den teils körperlich schweren und in der Funktion als Maler vielfach in exponierten Lagen auszuführenden Arbeiten nicht mehr gewachsen ist (Seite 3, 8 und 11 des Ersturteils = AS 165, 170 und 173).

Berechtigung kommt der Mängelrüge aber deshalb zu, weil das Berufungsgericht die offenbar auf dieser Grundlage getroffenen ergänzenden Tatsachenfeststellungen (zur Sachverhaltsfrage, ob der Kläger im Hinblick auf seinen Leidenszustand in der Lage ist, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben) ohne Beweiswiederholung oder -ergänzung und ohne Erörterung mit den Parteien getroffen hat:

Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht zwar nicht - wie die Revision meint - von erstgerichtlichen Feststellungen abgegangen, sondern hat fehlende, aus seiner Sicht unproblematische Feststellungen ergänzt. Die Möglichkeit, dass das Berufungsgericht Tatsachen auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zu Grunde legen kann, wurde vom Obersten Gerichtshof zwar für den Fall "unzweifelhafter offenkundiger Tatsachen" bejaht (SSV-NF 6/87;

RIS-Justiz RS0040219 [T4 und T5]). In der neueren Rechtsprechung des erkennenden Senates wird aber verlangt, dass ein solches Vorgehen mit den Parteien zu erörtern ist (so bereits: RIS-Justiz RS0040219 [T3]);

entspricht dies doch auch den Erfordernissen, die Art 6 EMRK an ein faires Verfahren stellt (10 ObS 259/02i; 10 ObS 273/02y; 10 ObS 355/02g; RIS-Justiz RS0040046 [T16]; RS0040063 [T2]; RS0040219 [T6 bis T8]).

Nichts anderes kann im vorliegenden Fall gelten. Da in der Berufungsentscheidung - ohne Beweiswiederholung oder -ergänzung und ohne Erörterung mit den Parteien - über das erstgerichtliche Sachverhaltssubstrat hinausgehende Feststellungen getroffen wurden, erweist sich das Berufungsverfahren somit als mangelhaft, weshalb der Revision Folge zu geben war.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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