OGH 10ObS334/02v

OGH10ObS334/02v14.1.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Eveline Umgeher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Thomas Albrecht (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Katja R*****, vertreten durch Lansky, Ganzger & Partner Rechtsanwälte GmbH, Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. Juni 2002, GZ 10 Rs 158/02g-43, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 1. Februar 2002, GZ 25 Cgs 44/0v-37, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 11. 5. 1975 geborene Klägerin hat am 5. 10. 1993 nach Absolvierung der vorgeschriebenen Lehrzeit die Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf "Tierpflegerin" mit Erfolg abgelegt. Im Rahmen der Behaltepflicht gemäß § 18 Abs 1 BAG wurde die Klägerin von der Firma S***** im Zeitraum vom 1. 9. 1993 bis 31. 12. 1993 als Tierpflegerin beschäftigt.

Während der Tätigkeit bei S*****, also während der Lehrzeit und der nachfolgenden Beschäftigung während der Behaltepflicht, erlitt die Klägerin fast täglich epileptische Anfälle. Diese Anfälle kündigten sich einerseits durch eine Veränderung der Gesichtsfarbe, andererseits durch ein Zucken an. In weiterer Folge wäre die Klägerin umgefallen, wenn sie nicht von einer Arbeitskollegin "aufgefangen" worden wäre. Der Anfall dauerte ein bis zwei Minuten. Die Klägerin nahm daraufhin eine Tablette und arbeitete dann weiter. Die Arbeitskollegin arbeitete räumlich so nahe bei der Klägerin, dass sie mit Ausnahme eines einzigen Falles immer in der Lage war, die Klägerin aufzufangen, wenn sich ein epileptischer Anfall ankündigte. Die Arbeitskollegin war vom Dienstgeber unter Hinweis auf die epileptischen Anfälle dazu aufgefordert worden, auf die Klägerin aufzupassen. Im Betrieb wurde auf diese Weise auf die Erkrankung der Klägerin Rücksicht genommen.

Im Zeitraum von 22. 8. 1991 bis 12. 9. 1991, also rund drei Wochen, war die Klägerin als Arbeiterin bei der Firma L***** GesmbH tätig; im Zeitraum vom 3. 9. 1991 bis 12. 11. 1991 betätigte sie sich als Angestellte bei der C*****-Bau Gesellschaft mbH. Bei diesem Arbeitgeber handelt es sich um einen Familienbetrieb. Gesellschafter waren die Eltern der Klägerin sowie deren Großmutter. Insgesamt liegen 108 Versicherungsmonate vor, davon 51 Beitragsmonate aus den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 10. 1999), und zwar 37 Monate als Tierpflegerin und 14 Monate aufgrund einer Umschulung auf Sekretärin.

Bei der Klägerin finden sich Knochenunregelmäßigkeiten am Schädel rechts nach einer im Jahr 1992 durchgeführten epilepsie-chirugischen Operation. Weiters besteht eine Temporallappenepilepsie mit sehr häufigen Anfällen trotz hoher antiepileptischer Medikation. In psychischer Hinsicht liegt eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung mit dissoziativen Anfällen vor. Aufgrund der Anfallshäufigkeit besteht keine Arbeitsfähigkeit. Für den Fall, dass dissoziative Anfälle erfolgreich behandelt werden könnten (dies ist bis dato fehlgeschlagen) könnte eventuell wieder Arbeitsfähigkeit erzielt werden. Als frühester Zeitpunkt einer neuerlichen Begutachtung ist etwa das Jahr 2006 anzusetzen.

Das Krankheitsbild besteht seit dem 5. Lebensjahr mit häufigen echten epileptischen Anfällen. Im Laufe des Lebens wurde das Zustandsbild noch durch dissoziative Anfälle verschlechtert. Ein Zeitpunkt, an dem diese Verschlechterung eingetreten ist, ist nicht mit Sicherheit festzustellen.

Zum Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben (1990) bestand keine Fähigkeit, ohne Entgegenkommen des Dienstgebers Arbeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Aufgrund der hohen Verletzungsgefahr - wegen der epileptischen Anfälle - war eine Tätigkeit, die nicht ununterbrochen beaufsichtigt war, aus ärztlicher Sicht nicht verantwortbar.

Mit Bescheid vom 24. 2. 2000 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 20. 9. 1999 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG nicht vorliege.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage im Hinblick darauf ab, dass ein Anspruch auf Invaliditätspension voraussetze, dass zum Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben Arbeitsfähigkeit vorgelegen sein müsse, was bei der Klägerin nicht der Fall sei. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und führte in rechtlicher Hinsicht aus, der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit setze voraus, dass sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit, also nach seinem Eintritt in das Berufsleben in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert habe. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand könne daher bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen. Zweck des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit sei der Schutz des Versicherten vor den Auswirkungen einer körperlich oder geistig bedingten Herabsetzung seiner Arbeitsfähigkeit. Gegen das Ergebnis, dass der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nur eintreten könne, wenn während der versicherten Tätigkeit Arbeitsfähigkeit bestanden habe, bestünden auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass die am 11. 5. 1975 geborene Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension nach § 255 ASVG ab dem Stichtag 1. 10. 1999 nicht erfüllt, ist zutreffend (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Sie entspricht der seit den Entscheidungen SSV-NF 1/33 und 1/67 ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, wonach Anspruch auf eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nur dann besteht, wenn eine Person ursprünglich in der Lage war, eine bestimmte, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben und diese zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch eine negative Veränderung des körperlichen oder geistigen Zustandes derart beeinträchtigt wird, dass diese Person außer Stande gesetzt wird, nunmehr einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, zu der sie eben früher in der Lage gewesen war (SZ 61/187 = SSV-NF 2/87; vgl auch SSV-NF 4/60, 4/160, 5/100, 10/13 uva; RIS-Justiz RS0084829, RS0085107).

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Absätze 1 und 3 des § 255 ASVG ebenso wie aus dem Wortlaut des § 273 Abs 1 ASVG. § 255 Abs 1 und § 273 Abs 1 ASVG stellen darauf ab, dass die Arbeitsfähigkeit des Versicherten infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken ist. Nach § 255 Abs 3 ASVG gilt ein Versicherter als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine zumutbare, auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Diese drei Bestimmungen haben immer im Auge (und sprechen dies auch aus), dass der Versicherte zu einem bestimmten Zeitpunkt arbeitsfähig ist (also in der Lage ist, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben), bevor diese Fähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen ganz oder teilweise verloren geht. Bei der Klägerin bestand jedoch nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen bereits zum Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben (1990) keine Fähigkeit, Arbeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten; sie bedurfte immer eines Entgegenkommens des Dienstgebers. Die Klägerin war daher seit jeher auf einen "geschützten" Arbeitsplatz angewiesen. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter Zustand, der nicht zu Arbeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes befähigte, kann aber im Sinne der obigen Ausführungen nicht zu Leistungsansprüchen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit führen (SSV-NF 1/67, 2/60 uva).

In der Revision wird gegen diese Judikatur eingewendet, dass damit dem § 255 ASVG - entgegen der Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung von Normen - ein verfassungswidriger Inhalt unterstellt werde. Die Nichtzuerkennung einer Invaliditätspension verletze die Klägerin in ihrem Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und ihrem Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums. Eine sachliche Rechtfertigung, die Klägerin schlechter als jene Versicherungsnehmer zu stellen, bei denen Invalidität erst im Laufe des Versicherungsverhältnisses eintritt bzw bei denen bei Eintritt in das Erwerbsleben wenigstens eine verwertbare "Restarbeitsfähigkeit" vorgelegen sei, bestehe nicht. Es sei nicht erklärbar, warum die Klägerin trotz tatsächlich über Jahre hinweg verwerteter Arbeitsleistung, Beitragszahlung und nunmehr Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Invaliditätspension haben solle. Insbesondere könne der Klägerin nicht vorgeworfen werden, Sozialversicherungsmissbrauch betrieben zu haben, indem ein reines Gefälligkeitsarbeitsverhältnis nur zum Zwecke der Erlangung von Versicherungszeiten vorgelegen sei. Die Verletzung des Eigentumsrechts liege darin, dass die Klägerin durch Beitragszahlungen einen Anspruch auf eine Gegenleistung erworben habe. Sollte die Ansicht vertreten werden, die Anspruchsnorm lasse keine andere Auslegung zu als die bisher vertretene, müsse es sich insoweit um ein verfassungswidriges Gesetz handeln, weshalb angeregt werde, den Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit des § 255 Abs 1 ASVG entscheiden zu lassen, soweit dieser Pensionsansprüche für Beitragspflichtige generell ausschließe. Diese verfassungsrechtlichen Bedenken werden vom Obersten Gerichtshof

nicht geteilt (ebenso schon 10 ObS 141/01k = RIS-Justiz RS0085107

[T8] = RIS-Justiz RS0084829 [T16]). So ist gerade dem letzten Punkt

der Revision zu entgegnen, dass die Judikatur in der hier gegebenen Konstellation bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen, insbesondere der Wartezeit, keineswegs einen Anspruch auf Alterspension ablehnt. Es entspricht dem auch dem Sozialversicherungsrecht innewohnenden Versicherungsprinzip, dass nicht aus jeder Beitragsleistung ein Leistungsanspruch erwächst (10 ObS 279/00b, 10 ObS 7/02f). Insbesondere hat nicht jede zu Beiträgen in der gesetzlichen Sozialversicherung verpflichtete Person einen Anspruch darauf, jede im Gesetz vorgesehene Leistung in Anspruch nehmen zu können, also beispielsweise nicht nur die Alterspension, sondern auch eine Versicherungsleistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, der vom Gesetz als Ausnahme- und nicht als Regelfall konzipiert ist. Dem einfachen Gesetzgeber muss es daher auch freistehen, einen Pensionsanspruch - wie es der Wortlaut der oben schon dargestellten Bestimmungen nahelegt - von einer vorherigen intakten Arbeitsfähigkeit abhängig zu machen.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.

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