OGH 1Ob35/02g

OGH1Ob35/02g13.12.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Josef S*****, vertreten durch Dr. Josef Peißl, Rechtsanwalt in Köflach, wider die beklagte Partei Johann S*****, vertreten durch Dr. Werner Achtschin, Rechtsanwalt in Graz, wegen EUR 5.145,24 sA infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 13. November 2001, GZ 6 R 268/01b-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Voitsberg vom 25. Juli 2001, GZ 3 C 1416/00w-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Dem Kläger steht zur Versorgung seiner Liegenschaft das Recht zum Wasserbezug aus dem auf einem Grundstück seines Bruders, des Beklagten, befindlichen Brunnen zu. Im September 1994 begann der Beklagte damit, auf seinem Grundstück zwei Fischteiche auszubaggern. Durch die dadurch bewirkte Hangrutschung riss vorerst die vom Brunnen zum Wohnhaus des Klägers führende Wasserleitung und in der Folge wurde auch der Brunnen selbst beschädigt.

In dem deswegen vom Kläger mit Klage vom 6. 12. 1994 angestrengten Rechtsstreit wurde der Beklagte rechtskräftig schuldig erkannt, den Zustand des auf seinem Grundstück befindlichen Brunnens, wie er vor Beginn der Teichgrabungsarbeiten des Beklagten bestanden hat, durch Begradigung des Brunnens und Wiederherstellung seiner ursprünglichen Position, durch Auswechseln des (von unten) zweiten, dritten und vierten Betonrings, durch Rückverschiebung des ersten und zweiten Betonrings in deren ursprüngliche Position sowie durch ordnungsgemäße Abdichtung sämtlicher Betonringe wiederherzustellen. Weiters wurde die Haftung des Beklagten für sämtliche Schäden, die dem Kläger durch den konsenslosen Aushub von zwei Fischteichen unterhalb des Hauswasserbrunnens entstehen, festgestellt. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren, der Beklagte sei schuldig, durch fachgerechtes Entwässern des Hanges sowie durch fachgerechte Wiederbefüllung der angelegten Teiche und durch Neufassung der Quelle die ordnungsgemäße Wasserversorgung der Liegenschaft des Klägers wiederherzustellen, wurde ebenso abgewiesen wie die beiden Eventualbegehren, die ordnungsgemäße Wasserversorgung der Liegenschaft durch Sanierung und Vertiefung des vorhandenen Brunnens oder durch Neusetzung eines Brunnens in einem anderen Bereich oder durch entsprechende Sanierungsarbeiten am Brunnen wieder herzustellen. Im Urteil wurde der Ablauf der zur Schädigung des Brunnens führenden Geschehnisse im Einzelnen dargestellt und darüber hinaus unter anderem die Feststellung getroffen, dass nach dem Abriss der Wasserleitung die ersatzweise Wasserversorgung des Klägers ab dem 22. 9. 1994 durch eine Schlauchleitung zu der im Haus des Beklagten befindlichen Wasserleitung sichergestellt worden sei. Nachdem durch im Einzelnen beschriebene Sanierungsarbeiten das Wasser im Brunnen wieder angestiegen sei, habe der Beklagte die von seinem Haus wegführende Ersatzwasserleitung unterbrochen, diese jedoch wenige Tage danach wieder hergestellt, als er davon verständigt worden sei, dass der Kläger nach wie vor ohne Wasser sei. Seit Jahresende 1994 habe das Wohnhaus des Klägers infolge der durchgeführten Sanierungen ohne irgendeinen Sonderaufwand provisorisch mit Wasser aus dem Brunnen versorgt werden können.

Mit seiner am 31. 7. 2000 beim Erstgericht eingelangten Klage begehrte der Kläger, den Beklagten zur Zahlung des Betrages von ATS 70.800 sA schuldig zu erkennen. Auf Grund des rechtskräftigen Feststellungsurteils hafte der Beklagte dem Kläger für sämtliche durch den konsenslosen Aushub von zwei Fischteichen verursachte Schäden. Im Zeitraum vom Dezember 1994 bis zumindest Dezember 1998 sei der Käger nicht in der Lage gewesen, sich aus dem beschädigten Brunnen mit Trink- und Nutzwasser zu versorgen. Er habe daher jährlich ATS 5.700 für den Zukauf von Mineralwasser aufwenden müssen. Darüber hinaus habe der Kläger und seine Familie für die Überlassung einer Wasch- und Duschgelegenheit an Verwandte monatlich insgesamt ATS 2.000 zahlen müssen. Der Kläger begehre unter Anrechnung einer Eigenersparnis aus diesem Titel ATS 1.000 monatlich.

Der Beklagte wendete ein, es sei bereits am Tag des Schadenseintritts ausreichend Wasser für den Haushalt des Klägers vorhanden gewesen, weil eine Schlauchverbindung zum Wohnhaus des Beklagten hergestellt worden sei. Diese Verbindung habe ab Schadenseintritt bis zur Beendigung der Sanierungsarbeiten am Brunnen mit Ausnahme kurzer Unterbrechungszeiten bestanden. Ab Ende 1994 sei für den Kläger die Wasserversorgung ohne Sonderaufwand aus dem strittigen Brunnen möglich gewesen, wobei das Wasser ab diesem Zeitpunkt von gleicher Qualität gewesen sei wie vor dem Rutschungsereignis. Der Kläger habe daher gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen. Die von ihm wegen Fehlens der Nutzwasserversorgung begehrten Beträge seien massiv überhöht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es erachtet sich an die im Vorverfahren ergangene Entscheidung gebunden. In diesem Urteil werde vollkommen klar und unmissverständlich festgestellt und damit zu Grunde gelegt, dass ab dem 22. 9. 1994 für den Kläger die ersatzweise Wasserversorgung mittels des an die Wasserleitung im Haus des Beklagten angeschlossenen Schlauches sichergestellt gewesen sei. Weiters sei im Vorverfahren festgestellt worden, die Schlauchverbindung sei zwar nach Sanierungsarbeiten am Brunnen, nachdem infolge weiterer Rutschungen neue Schäden aufgetreten waren, unterbrochen, wenige Tage danach, jedoch wieder hergestellt worden. Erst nach der Instandsetzung der Wasserleitung sei die Schlauchverbindung Ende November 1994 endgültig beseitigt worden. Es stehe fest, dass das Wohnhaus des Klägers seit Jahresende 1994 ohne irgend einen Sonderaufwand provisorisch mit dem Wasser aus dem Brunnen versorgt habe werden können und dass die Qualität des zufließenden Wassers nicht schlechter als vor dem Schadensereignis gewesen sei.

Die Wirkungen der materiellen Rechtskraft erfassten nach ihren subjektiven Grenzen jedenfalls die Prozessparteien. Beide Streitteile seien am Vorprozess beteiligt gewesen und würden somit von der Rechtskraft des dort gefällten Urteils erfasst. Dies schneide ihnen jede dem Feststellungsinhalt des im Vorprozess ergangenen Urteils widersprechende Behauptung in einem späteren Zivilprozess ab. Ob und in welchem Umfang der Kläger nach dem Schadensereignis Wasser aus dem strittigen Brunnen tatsächlich habe beziehen können, sei bereits im Vorverfahren entschieden worden. Diese Tatsachen könnten daher im nunmehrigen Verfahren nicht noch einmal der richterlichen Kognition unterworfen werden. Zwar solle nicht unerwähnt bleiben, dass im Vorprozess Anhaltspunkte dafür hervorgekommen seien, dass die Wasserversorgung in der Zeit vom 22. 9. 1994 bis Ende November 1994 zeitweise unterbrochen gewesen sei, doch begehre der Kläger erst ab Dezember 1994 Schadenersatz, welchem Begehren die Feststellung des Vorprozesses gegenüberstehe, dass seit Jahresende 1994 die Wasserversorgung des Anwesens des Klägers aus dem Brunnen möglich gewesen sei. Durch sein Verhalten habe der Kläger schuldhaft gegen die ihn treffende Schadensminderungspflicht verstoßen, weshalb die von ihm behaupteten Folgeschäden vom Beklagten nicht zu ersetzen seien.

Das Gericht zweiter Instanz gab der dagegen erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge. Es erklärte infolge Antrags gemäß § 508 ZPO die ordentliche Revision als zulässig. Es verneinte die wegen der unterbliebenen Vernehmung einer vom Kläger beantragten Zeugin gerügte Mangelhaftigkeit. Das Erstgericht habe von der Aufnahme weiterer Beweise Abstand nehmen können, weil die maßgeblichen Feststellungen des Vorverfahrens "für das vorliegende Verfahren Bindungswirkung" entfalteten und mit diesen Feststellungen eine abschließende Beurteilung der Sache möglich gewesen sei. Aus dieser Bindungswirkung ergebe sich als logische Schlussfolgerung, dass das Erstgericht auch keine eigenständige Beweiswürdigung zu treffen hatte. Auch die Vernehmung der beantragten Zeugin hätte nicht bewirken können, "dass eine andere Sachverhaltsgrundlage geschaffen wird, weshalb ein wesentlicher Verfahrensmangel nicht vorliegen kann".

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist berechtigt.

Nach ständiger Rechtsprechung kann ein vom Berufungsgericht verneinter Mangel erster Instanz nicht mehr in der Revision gerügt werden (SZ 62/157; JBl 1990, 535; JBl 1998, 643; Kodek in Rechberger ZPO2 § 503 Rz 3). Dieser Grundsatz ist jedoch dann unanwendbar, wenn das Berufungsgericht infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften oder infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hat (SZ 53/12 mwH; Kodek aaO). Ein derartiger Fall liegt hier vor:

Die Bindungswirkung eines zivilgerichtlichen Urteils wird primär aus der materiellen Rechtskraft abgeleitet. Nach § 411 ZPO sind Urteile der Rechtskraft insoweit teilhaft, als darin über einen durch Klage oder Widerklage geltend gemachten Anspruch oder über ein Rechtsverhältnis oder Recht entschieden wurde, dessen Feststellung gemäß § 236 ZPO oder gemäß § 259 ZPO begehrt wurde. Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, die Auskunft über die Entscheidungswirkungen in sachlicher Hinsicht geben, werden gemäß § 411 ZPO auf den durch Klage oder Widerklage geltend gemachten "Anspruch" bezogen. Nach der Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstand versteht die herrschende Ansicht darunter das Tatsachenvorbringen als rechtserzeugenden Sachverhalt (den Klagegrund) in Verbindung mit dem daraus abgeleiteten Klagebegehren. Die Bindungswirkung wird, soweit sie sich als Funktion der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft darstellt, im Kern auf den Spruch der Entscheidung beschränkt. Deren Gründe bleiben von der Bindungswirkung gewöhnlich ausgegrenzt. Den Klagegrund definieren jedoch häufig auch Tatsachenbehauptungen zu Vorfragen, ohne deren Lösung eine Entscheidung über das Klagebegehren nicht möglich wäre. Auch die Verfahrenspraxis zeigt, dass der Gegenstand einer Entscheidung durch den Spruch allein nur selten individualisiert werden kann. Dessen Auslegung erfordert daher oft die Heranziehung der ihn tragenden Gründe. Innerhalb ihrer objektiven Grenzen muss sich somit die materielle Rechtskraft jedenfalls so weit auf die Entscheidungsgründe erstrecken, als diese der Individualisierung des Urteilsspruchs dienen, weil sich nur so der Umfang der Rechtskraft überhaupt bestimmen lässt (verstärkter Senat SZ 70/60 mit eingehenden Nachweisen aus Lehre und Rechtsprechung; SZ 71/197; 3 Ob 150/98z).

Die Bindungswirkung ist keine neben der Rechtskraft entfaltete Urteilswirkung, sondern ebenso wie die Einmaligkeitswirkung Ausfluss der materiellen Rechtskraft (RIS-Justiz RS0102102). In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs findet sich in einer langen Entscheidungskette (RIS-Justiz RS0041157) der Rechtssatz, auch mangels Identität des Begehrens könne ein Urteil eines Vorprozesses zufolge seiner materiellen Rechtskraft zur inhaltlichen Bindung des später entscheidenden Gerichts führen, insbesondere wenn Parteien und rechtserzeugender Sachverhalt identisch sind und beide Prozesse in einem so engen inhaltlichen Zusammenhang stehen, dass die Gebote der Rechtssicherheit und der Entscheidungsharmonie eine widersprechende Beantwortung derselben in beiden Fällen entscheidenden Rechtsfrage nicht gestatteten.

Dagegen reicht es nach einer anderen, jüngeren Judikaturkette (SZ 68/2; SZ 69/54; MietSlg 48.645; 7 Ob 106/98h ua) nicht aus, dass eine im Vorprozess relevante Vorfrage auch eine solche des späteren Prozesses ist. Wenn eine bestimmte Tatsache im Vorprozess nicht den Hauptgegenstand des Verfahrens bildete, sondern lediglich eine Vorfrage darstellte, komme der Entscheidung dieser Vorfrage im Vorprozess keine bindende Wirkung im folgenden zu. In diesen Entscheidungen wird der überwiegenden Lehre (siehe die Literaturhinweise in SZ 70/60) gefolgt.

Zu dieser nicht immer einheitlich beurteilten Frage der objektiven Grenzen der Rechtskraft in Gestalt der Bindungswirkung von Vorentscheidungen muss hier nicht abschließend Stellung genommen werden. Klagegegenstand des Vorprozesses war nämlich ausschließlich die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands des Brunnens sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für die dem Kläger durch den konsenslosen Aushub der Fischteiche unterhalb des Hauswasserbrunnens verursachten Schäden. Es ging somit lediglich um die Frage der rechtswidrigen Störung des Wasserbezugsrechts des Klägers und daraus entstehender möglicher Schäden infolge der Ungewissheit der endgültigen Sanierungsmöglichkeit, nicht jedoch, ob und in welchem Umfang der Kläger auf eine Ersatzwasserleitung zurückgreifen konnte oder ab welchem Zeitpunkt der Brunnen so weit saniert war, dass ihm wieder Wasser entnommen werden konnte. Die diesbezüglichen Feststellungen in dem im Vorprozess ergangenen Urteil waren somit nicht entscheidungswesentlich, sodass ihnen weder als Vorfrage noch im Sinne einer Bindungsmöglichkeit aus Gründen der Entscheidungsharmonie Bedeutung zukam. Der Kläger verweist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf, dass er deshalb diese Feststellungen im Vorprozess nicht hätte bekämpfen können, weil ihm entgegengehalten worden wäre, dass er dadurch nicht beschwert sei.

Die Vorinstanzen sind daher zu Unrecht davon ausgegangen, die unterstellte Bindungswirkung enthebe sie der Pflicht, die Ergebnisse des Beweisverfahrens selbständig zu würdigen und eigenständige Feststellungen zu treffen. Infolge dieser unrichtigen Rechtsansicht hat das Berufungsgericht daher zu Unrecht die Erledigung der Mängelrüge unterlassen. Insoweit es über den Hinweis auf die Bindungswirkung hinaus ausführte, die begehrte Vernehmung der Zeugin hätte die Schaffung einer anderen Sachverhaltsgrundlage nicht bewirken können, fehlt es an jeder nachvollziehbaren Begründung und wird damit in Wahrheit in unzulässiger Weise die Würdigung dieses Beweismittels vorweggenommen.

Da das Berufungsgericht die Mängelrüge somit infolge unrichtiger Rechtsansicht nicht erledigte, hat der Oberste Gerichtshof diesen Mangel des Berufungsverfahrens wahrzunehmen. Gleiches gilt für die auf Grund unrichtiger Rechtansicht unterlassene meritorische Behandlung der Verfahrensrüge, das Erstgericht habe keine eigenständige Beweiswürdigung vorgenommen. Das Berufungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren auf das Berufungsvorbringen sachlich einzugehen haben.

Der Revision ist Folge zu geben.

Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 Abs 1 ZPO.

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