OGH 10ObS346/02h

OGH10ObS346/02h12.11.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr als weitere Richter (Senat gemäß § 11a ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Kazimierz Z*****, Weber, *****, vertreten durch Dr. Günter Langhammer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Juli 2002, GZ 10 Rs 216/02m-27, womit die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 4. Dezember 2001, GZ 7 Cgs 1/01i-20, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die Entscheidung über die Berufung unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger hat am 2. 1. 2001 eine Klage gegen den Bescheid der beklagten Partei 6. 10. 2000, mit dem sein Antrag auf Gewährung der Invaliditätspension abgelehnt worden war, zu gerichtlichem Protokoll gegeben. Als Adresse gab der Kläger "H*****" an. Eine andere Adresse wurde im erstinstanzlichen Verfahrens nicht bekannt gegeben. Mit Urteil vom 4. 12. 2001 wies das Erstgericht das Klagebegehren ab. Das Urteil wurde dem (unvertretenen) Kläger an der angegebenen Adresse zugestellt. Nach einem Zustellversuch am 4. 3. 2002 (Montag) wurde die Sendung beim Postamt ***** hinterlegt; auf dem Rückschein wurde als Beginn der Abholfrist der 5. 3. 2002 (Dienstag) vermerkt. Am 3. 4. 2002 (Mittwoch) überreichte der Kläger beim Erstgericht einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im vollen Umfang. Das Erstgericht bewilligte die Verfahrenshilfe mit Beschluss vom 4. 4. 2002. Das Ersturteil wurde dem bestellten Verfahrenshelfer am 15. 4. 2002 zugestellt; die Berufung wurde am 8. 5. 2002 zur Post gegeben.

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Berufungsgericht die Berufung zurück. Das Ersturteil sei dem Kläger am Dienstag, 5. 3. 2002 zugestellt worden. Die Berufungsfrist habe daher am Dienstag, 2. 4. 2002 geendet. Der am 3. 4. 2002 überreichte Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe sei außerhalb der Berufungsfrist und daher verspätet gestellt worden. Daran ändere auch nichts, dass dem Kläger die Verfahrenshilfe bewilligt und dem Verfahrenshelfer eine Urteilsausfertigung zugestellt worden sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Klägers mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss dahingehend abzuändern, dass die erhobene Berufung und der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe als rechtzeitig erkannt werden. Als Rekursgrund wird unrichtige Anwendung des Gesetzes genannt.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO) und berechtigt. In seinem Rekurs macht der Kläger geltend, er sei seit über 10 Jahren mit Frau Barbara Z***** verheiratet und halte sich abwechselnd in ihrer Wohnung an der Adresse A*****, und an seiner Anschrift H*****, auf. Im Februar und März 2002 habe er bei seiner Ehegattin gewohnt und sich zur Zeit des Zustellversuches am 4. 3. 2002 bis zum Zeitpunkt der Behebung des Poststücks beim Hinterlegungspostamt nicht an der Adresse H*****, aufgehalten. Diese Wohnung sei daher zum genannten Zeitpunkt nicht Abgabestelle im Sinne des § 4 ZustG gewesen, weshalb die Zustellung des Ersturteils an dieser Adresse nichtig sei; eine Heilung sei erst durch die tatsächliche Aushändigung beim Hinterlegungspostamt am 7. 3. 2002 erfolgt. Somit sei der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe innerhalb der Berufungsfrist gestellt worden.

Nach § 464 Abs 3 ZPO wird die Berufungsfrist durch den erstmaligen Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshilfeanwalts verlängert. Wird der Antrag innerhalb der Berufungsfrist gestellt und wird ihm stattgegeben, läuft die Berufungsfrist neu ab der Zustellung des Bescheides über die Bestellung des Rechtsanwalts an diesen. Hat die Partei erst nach dem Ablauf der Berufungsfrist einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe mit Beigebung eines Rechtsanwalts gestellt, dann ist dieser Antrag selbst dann verspätet, wenn dem Verfahrenshelfer nochmals eine Urteilsausfertigung zugestellt wurde (RIS-Justiz RS0036235 [T1] und [T2]; Kodek in Rechberger, ZPO2 § 464 Rz 4 mwN).

Nach den vom Erstgericht gemäß § 469 Abs 1 Satz 2 ZPO durchgeführten und vom Obersten Gerichtshof ergänzten Erhebungen wohnt der Kläger manchmal in der Wohnung seiner Frau und manchmal in seiner eigenen Wohnung, ohne dass es eine Regelmäßigkeit gibt. Hält sich der Kläger bei seiner Frau auf, ist die Dauer des Dort-Bleibens unterschiedlich; sie kann bis zu mehreren Tagen gehen. In der Regel wohnt jeder in seiner Wohnung. Anfang März 2002 hielt sich der Kläger bei seiner Frau auf. Als er wieder nach Hause kam, fand er im Brieffach die Hinterlegungsanzeige vor; am 6. 3. 2002 holte er die hinterlegte Sendung (das Ersturteil) beim Postamt ab.

Aufgrund dieser Erhebungsergebnisse ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der Hinterlegung des Ersturteils die Wohnung des Klägers weiterhin Abgabestelle iSd § 4 ZustG war. Für jede der in § 4 ZustG genannten möglichen Abgabestellen, also auch für die Wohnung des Empfängers, besteht für die Begründung der Wirksamkeit der Zustellung die Voraussetzung, dass sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabestelle aufhält, also - von kurzfristigen Abwesenheiten

abgesehen - immer wieder an die Abgabestelle zurückkehrt (SZ 57/141 =

EvBl 1985/24; SZ 60/226 = EvBl 1988/22; SZ 65/127, 1 Ob 23/97g ua;

RIS-Justiz RS0083895). Eine bloß vorübergehende (und damit unschädliche) Abwesenheit des Empfängers von der Abgabestelle ist dann anzunehmen, wenn der Empfänger dadurch bloß vorübergehend an der Wahrnehmung eines Zustellvorgangs gehindert wird, was etwa bei einer Reise, bei einem Urlaubs- oder Krankenhausaufenthalt des Empfängers oder bei einem sonstigen diesen Fällen gleichzuhaltenden Abwesenheitsgrund zutrifft (SZ 57/141, SZ 65/127 mwN, 1 Ob 23/97y; Gitschthaler in Rechberger, ZPO2 § 87 [§ 4 ZustG Rz 3]). Wohl hielt sich der Kläger Anfang März 2002 - wie auch zu anderen Zeiten - bei seiner Frau in deren Wohnung auf. In der Regel wohnt er jedoch in seiner Wohnung und er kehrt auch regelmäßig, spätestens nach mehreren Tagen dorthin zurück. Von einer längeren Nichtbenützung der Wohnung, die ihr die Qualität einer Abgabestelle nehmen würde, kann daher keine Rede sein.

Im Übrigen wäre der Kläger dann, wenn seine Wohnung die Qualität einer Abgabestelle iSd § 4 ZustG verloren hätte, gemäß § 8 ZustG verpflichtet gewesen, diesen Umstand unverzüglich dem Gericht mitzuteilen.

Im vorliegenden Fall hat der Zusteller eine Hinterlegung vorgenommen. Die Hinterlegung ist nach § 17 Abs 1 ZustG zulässig, wenn die Sendung an der Abgabestelle (hier: der Wohnung des Klägers) nicht zugestellt werden konnte und der Zusteller Grund zur Annahme hat, dass sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabestelle aufhält. Auch diese zweiten Voraussetzung ist im Sinne der obigen Ausführungen zu bejahen. Hinterlegte Sendungen gelten als mit dem ersten Tag der Abholfrist als zugestellt (§ 17 Abs 3 ZustG). Sie gelten als nicht zugestellt, wenn sich ergibt, dass der Empfänger wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte; in diesem Fall wird die Zustellung an dem der Rückkehr an die Abgabestelle folgenden Tag innerhalb der Abholfrist wirksam, an dem die hinterlegte Sendung behoben werden konnte. Der Begriff "rechtzeitig" in § 17 Abs 3 ist so zu verstehen, dass dem Empfänger noch jener Zeitraum für ein Rechtsmittel zur Verfügung stehen muss, der ihm auch im Falle einer vom Gesetz tolerierten Ersatzzustellung üblicherweise zur Verfügung gestanden wäre. Die Zustellung durch Hinterlegung kann daher nur dann als ordnungsgemäß angesehen werden, wenn der Empfänger durch den Zustellvorgang nicht erst später die Möglichkeit erlangt hat, in den Besitz der Sendung zu kommen, als dies bei einem großen Teil der Bevölkerung infolge ihrer Berufstätigkeit der Fall gewesen wäre (SZ 57/34 = EvBl 1984/101 = JBl 1985, 115; RIS-Justiz RS0083923). Ein Großteil der berufstätigen, tagsüber von der Abgabestelle abwesenden Bevölkerung erhält bei Kenntnis von der postamtlichen Hinterlegung einer gerichtlichen Sendung üblicherweise die Möglichkeit, die Sendung jedenfalls an dem der Hinterlegung nächstfolgenden Werktag zu beheben (RIS-Justiz RS0083966 [T2]). Kann ein Zustellempfänger die Sendung beispielsweise erst drei Tage später beheben als dies einem ortsanwesenden Berufstätigen möglich gewesen wäre, der erst nach Beendigung der Öffnungszeiten der Post am Tag der Hinterlegung in seine Wohnung (die Abgabestelle) zurückkehrt, kann nicht gesagt werden, dass ihm jener Zeitraum zur Ausführung seines Rechtsmittels zur Verfügung stand, der ihm auch im Falle einer vom Gesetz tolerierten Ersatzzustellung durch postamtliche Hinterlegung üblicherweise zur Verfügung gestanden wäre (RIS-Justiz RS0083966 [T3]).

Nun ist zwar im vorliegenden Fall der Zeitpunkt der Rückkehr an die Abgabestelle nicht geklärt. Da sich nach der ständigen Rechtsprechung die Ergebnislosigkeit von Erhebungen über die Rechtzeitigkeit von Rechtsmitteln zum Vorteil des Rechtsmittelwerbers auswirkt (SZ 46/86 ua), kommt auch die fehlende Feststellbarkeit des Zeitpunkts der Rückkehr an die Abgabestelle dem Kläger zugute (RIS-Justiz RS0110551).

Kann die Hinterlegung mit Beginn der Abholfrist 5. 3. 2002 wegen Ortsabwesenheit des Klägers nicht als gesetzmäßig erfolgt angesehen werden, so gilt das Ersturteil nicht bereits mit dem Tag als zugestellt, an dem die Sendung erstmals zur Abholung bereit gehalten wurde (§ 17 Abs 3 Satz 3 ZustG), sondern erst mit jenem Tag, an dem der Rekurswerber die hinterlegte Sendung nach seiner Rückkehr zur Abgabestelle beheben konnte (§ 17 Abs 3 letzter Satz ZustG). Auszugehen ist hier vom 6. 3. 2002, dem Tag, an dem der Kläger die Sendung tatsächlich behoben hat. Die am 3. 4. 2002 zur Post gegebene Berufung ist somit als rechtzeitig anzusehen, weshalb dem Rekurs Folge zu geben war.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten (§ 52 Abs 1 ZPO).

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