OGH 2Ob293/01d

OGH2Ob293/01d29.11.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei O*, vertreten durch Dr. Thomas Gratzl, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Marion F*, vertreten durch Dr. Maximilian Hofmaninger, Rechtsanwalt in Vöcklabruck, wegen Feststellung (Streitinteresse S 100.000,‑‑), über die Revisionen beider Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Wels als Berufungsgericht vom 26. April 2001, GZ 22 R 109/01p‑14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Schwanenstadt vom 13. Dezember 2000, GZ 4 C 50/00k‑8, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2001:E63759

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revisionen beider Parteien werden zurückgewiesen.

Die Kosten der Revisionsbeantwortungen werden gegeneinander aufgehoben.

 

Begründung:

 

Am 26. 1. 1995 gegen 15 Uhr wurde die am 7. 12. 1989 geborene und damit am Unfallstag knapp fünfjährige Tochter der Beklagten im Ortsgebiet von Aich auf der Atzbacher Bezirksstraße vom PKW des bei der Klägerin haftpflichtversicherten Franz G* erfasst und niedergestoßen. Im Verfahren 4 Cg 5/98x des Landesgerichtes Wels wurde mit Teil‑Zwischenurteil vom 29. 6. 1998 ausgesprochen, dass das Klagebegehren des schwerverletzten Mädchens, sowohl der genannte Fahrzeuglenker als auch die nunmehrige Klägerin als dortige zweitbeklagte Haftpflichtversicherung seien zur ungeteilten Hand schuldig, der dortigen Klägerin S 441.024,40 (Schmerzengeld, Verunstaltungsentschädigung, Heilungskosten etc) zu bezahlen, dem Grunde nach zu Recht besteht. Dieses Urteil wurde vom Oberlandesgericht Linz als Berufungsgericht mit Urteil vom 28. 1. 1999, 4 R 191/98f‑18, bestätigt. Eine außerordentliche Revision der beklagten Parteien wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 20. 5. 1999, 2 Ob 93/99m‑23, als unzulässig zurückgewiesen. Mit (unbekämpft gebliebenem und damit rechtskräftigem) Endurteil des Landesgerichtes Wels vom 29. 5. 2000, 4 Cg 5/98x‑49, wurden die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand schuldig erkannt, der dortigen Klägerin S 521.599,60 sA zu bezahlen; das Mehrbegehren von S 119.424,80 sA wurde abgewiesen.

Mit der am 9. 2. 2000 eingebrachten Klage begehrt der genannte Haftpflichtversicherer als klagende Partei die Feststellung, dass die Mutter der Verletzten als beklagte Partei der klagenden Partei hinsichtlich sämtlicher Leistungen, die diese aufgrund des Unfallereignisses vom 26. 1. 1995 als Haftpflichtversicherer zu erbringen habe, zu 50 % rückersatzpflichtig sei; später wurde das Feststellungsbegehren angesichts des rechtskräftig abgeschlossenen Parallelrechtsstreites dahin "angepasst und modifiziert", als die beklagte Partei der klagenden Partei hinsichtlich sämtlicher Leistungen, die sie aufgrund des Unfallereignisses künftig an die Verletzte zu erbringen hat, zu 50 % rückersatzpflichtig ist (AS 33). Zur Begründung brachte die klagende Partei vor, dass die beklagte Partei ihre mütterliche Aufsichtspflicht verletzt und bei Erkennen, dass sich das Mädchen von ihr losbewege, nicht sofort unfallverhütend reagiert habe.

Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren.

Das Erstgericht wies das (modifizierte) Klagebegehren ab und traf zum Unfallhergang folgende wesentliche Feststellungen:

Am Unfalltag wollte die Beklagte mit ihren beiden Kindern Stefanie (fünf Jahre) und Peter (ein Jahr) eine Freundin besuchen und stellte zu diesem Zweck ihren PKW in der Einfahrt zwischen zwei Häusern ab. Der acht Meter lange Einmündungstrichter beginnt achtzehn Meter vor der Bezirksstraße. Die Zufahrt war asphaltiert und fiel während der letzten etwa fünfzehn Meter mit knapp 18 % zur Straße hin ab. Die Bezirksstraße wies im Unfallbereich eine Breite von 6,5 Meter von Asphaltrand zu Asphaltrand auf. Es herrscht dort eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 80 km/h. Für einen sich annähernden PKW‑Lenker besteht eine gewisse Sichteinschränkung auf die Zufahrt durch einen Erdwall, nicht jedoch auf Gegenstände oder Personen, die größer als etwa 75 cm sind.

Der PKW der Beklagten stand in der Zufahrt so, dass das Heck maximal fünfzehn Meter von der Bezirksstraße entfernt war. Nach dem Abstellen des PKW's holte die Beklagte zunächst den Kinderwagen aus dem Kofferraum und setzte den einjährigen Buben in den abgebremsten Kinderwagen; dabei handelte es sich um einen Faltbuggy mit getrennten Feststellbremsen für die Hinterräder. Nachdem sie den einjährigen Sohn in diesen Buggy gesetzt hatte, ließ die Beklagte ihre fünfjährige Tochter aus dem Auto aussteigen und wies sie an, in ihrer Nähe zu bleiben. Als sie den Kofferraumdeckel zumachen wollte, wurde die Beklagte von der Mutter der zu besuchenden Freundin (offenbar über ein Handy) angerufen und mitgeteilt, dass die Genannte nicht zuhause, sondern spazieren gegangen sei. Während dieses kurzen Gespräches löste die fünfjährige Stefanie die Bremsen des Buggy und ging Richtung Bezirksstraße; die Beklagte forderte das Mädchen zwar zum Stehenbleiben auf und ging ihr nach. Etwa sieben Meter vor der Straßenfluchtlinie bzw 11,5 Meter vor der späteren Unfallstelle wurde das Mädchen auch von seiner Mutter eingeholt. Sie ergriff mit beiden Händen den Kinderwagen und wies die unmittelbar neben ihr stehende Stefanie an, ihr die Hand zu geben. Im selben Moment, als sie mit der Hand nach Stefanie greifen wollte, begann diese jedoch Richtung Straße zu rennen, wofür sie (bis zur späteren Unfallstelle) 11,5 Meter bzw ca 3,5 Sekunden benötigte. Da die Beklagte den Buggy mit dem einjährigen Sohn in der Hand hatte und an diesem die Feststellbremsen offen waren, sie also den Buggy nicht auslassen konnte, hatte die Beklagte keine Möglichkeit mehr, ihrer Tochter rechtzeitig nachzulaufen und sie vor dem Unfallgeschehen noch einzuholen. Zwar rief sie dem Mädchen sogleich nach stehen zu bleiben, diese Aufforderung wurde von Stefanie jedoch nicht befolgt.

In rechtlicher Beurteilung folgerte das Erstgericht, dass der Beklagten eine schuldhafte Verletzung ihrer elterlichen Aufsichtspflicht nicht angelastet werden könne; wollte man von ihr verlangen, dass sie die minderjährige Stefanie ab dem Moment des Aussteigens aus dem PKW fünfzehn Meter vom Straßenrand entfernt nicht hätte von der Hand lassen dürfen und sich lediglich mit einer Hand den Buggy schiebend sowie mit der anderen Hand das Mädchen haltend auf die Straße zubewegen hätte dürfen, so würde dies einer Überspannung der Aufsichtspflicht gleichkommen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei teilweise Folge und änderte die bekämpfte Entscheidung dahin ab, dass es die Haftung der beklagten Partei für einen Rückersatz mit 25 % bejahte, das darüberhinausgehende Mehrbegehren von weiteren 25 % jedoch abwies. Es sprach weiters aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstandes S 52.000,‑- übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes "als zureichend und unbedenklich", vertrat jedoch rechtlich die Auffassung, dass im vorliegenden Fall die für das (verletzte) Kind ungewohnte Umgebung und die besonderen Umstände des bevorstehenden (bzw herannahenden) Besuches zu bedenken seien. Außerdem sei in Anbetracht der abschüssigen Hauszufahrt, der Entfernung des Hecks des PKW von nur fünfzehn Meter zur Straße und der Hörbarkeit der Annäherung des späteren unfallbeteiligten PKW's die Gefährdung evident gewesen, sodass nach Auffassung des Berufungsgerichtes die Beklagte bereits das Wegbewegen des Kindes mit dem Kinderwagen (nach Lösen der Feststellbremsen) zum Anlass hätte nehmen müssen, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen. So aber habe das Mädchen (mit dem Kinderwagen) sieben bis acht Meter zurücklegen können, bis sie von der Mutter eingeholt und ihr der Kinderwagen abgenommen worden sei. Auch zu diesem Zeitpunkt, zu dem das spontane und gefährliche Verhalten des Kindes bereits hervorgekommen sei, habe es die Mutter zunächst noch mit einer Anweisung von Stefanie bewenden lassen, ihr die Hand zu geben, obwohl hier sogleich Veranlassung bestanden hätte, das Kind (im Zuge der Übernahme des Kinderwagens) entsprechend zu ergreifen und dadurch eine Gefährdung zu verhindern. Hier habe die Mutter aber immer noch die Befolgung ihrer Anweisung abgewartet, was in Anbetracht der an die Erfüllung der Aufsichtspflicht zu stellenden strengen Anforderungen unter den gegebenen (besonders gefährlichen) Umständen der gebotenen Aufsicht nach § 1309 ABGB widersprochen habe. All dies rechtfertige die Annahme eines Teilverschuldens der Beklagten im Ausmaß von 25 %.

Die ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt, "weil der Aufsichtspflicht bei einer Beaufsichtigung mehrerer Kinder im Nahbereich einer von einem herannahenden PKW befahrenen Straße für eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle eine grundsätzliche rechtserhebliche Bedeutung zukommt und hiezu eine auf den vorliegenden Fall unmittelbar übertragbare Entscheidung des Höchstgerichtes nicht aufgefunden werden konnte".

Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen beider Parteien, jeweils aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, mit den Anträgen, die bekämpfte Entscheidung im Sinne einer vollständigen Klagestattgebung (Klägerin) bzw Klageabweisung (Beklagte) abzuändern; die beklagte Partei hat hilfsweise auch einen Aufhebungsantrag gestellt.

Beide Parteien haben auch Revisionsbeantwortungen erstattet, in welchen wechselseitig die Unzulässigkeit des jeweiligen gegnerischen Rechtsmittels behauptet, jedoch nur von der beklagten Partei auch der Antrag gestellt wird, die Revision der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu diesem Rechtsmittel keine Folge zu geben. Die Revisionsbeantwortung der klagenden Partei mündet ebenfalls im Antrag, dem gegnerischen Rechtsmittel keine Folge zu geben. In der Revisionsbeantwortung der beklagten Partei wird schließlich auch die - allerdings nach der Aktenlage nicht gegebene - "Versäumung der Revisionsfrist eingewendet".

Die Revisionen beider Parteien sind entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichtes, an welchen der Oberste Gerichtshof nicht gebunden ist (§ 508a Abs 1 ZPO), mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Dies aus folgenden Erwägungen:

Rechtliche Beurteilung

Schon in der Vorentscheidung 2 Ob 93/99m in der Parallelrechtssache hat der erkennende Senat bei Beurteilung des auch hier verfahrensgegenständlichen Unfallgeschehens im Lichte - dort - der geltend gemachten (und bejahten) Haftung des Lenkers, Halters und Haftpflichtversicherers auf die Einzelfallproblematik hingewiesen. Auch für die Haftung nach § 1309 ABGB, die grundsätzlich voraussetzt, dass der Belangte die ihm gesetzlich (hier: §§ 144, 146 ABGB - Harrer in Schwimann, ABGB2 Rz 2 zu § 1309) oder vertraglich obliegende Aufsichtspflicht schuldhaft vernachlässigt hat (SZ 34/137, 44/8), bestimmt sich das Maß der Aufsichtspflicht stets nach dem, was angesichts des Alters, der Eigenschaften, der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen und der wirtschaftlichen Lage des Aufsichtsführenden von diesem vernünftiger Weise verlangt werden kann (ZVR 1997/35; Reischauer in Rummel, ABGB2 Rz 4 zu § 1309) - also allesamt Umstände, die ganz typischer Weise von der Kasuistik des jeweils konkreten Einzelfalles abhängig sind (ZVR 1990/156, 1991/156; 2 Ob 277/99w). Eine - wie vom Berufungsgericht im Rahmen seines Zulassungsausspruches offenbar gewünschte - gleichsam generalisierende Beantwortung der Frage, wie sich eine Mutter bei der Beaufsichtigung von mehreren (hier: zwei) Kleinkindern im Nahbereich einer Fahrstraße (außerhalb des Ortsgebiets mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h) zu verhalten habe, lässt sich niemals geben. Die vom Berufungsgericht im Einzelnen ausgeführten und weiter oben weitestgehend wörtlich wiedergegebenen Anforderungskriterien liegen im Rahmen dieses einzelfallbezogen zu lösenden Beurteilungsspielraumes.

Da beide Parteien auf die Unzulässigkeit des jeweils gegnerischen Rechtsmittels wegen Fehlens der Voraussetzungen nach § 502 Abs 1 ZPO hingewiesen haben, stehen ihnen auch die Kosten ihrer Revisionsbeantwortungen zu. Diese heben sich zufolge des jeweils betraglich gleichwertigen Revisionsinteresses auf, sodass diesbezüglich die Kostenaufhebungsvorschrift des § 43 Abs 1 ZPO (iVm § 50 ZPO) zur Anwendung zu kommen hat.

Stichworte