OGH 3Ob338/98x

OGH3Ob338/98x26.5.1999

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Graf, Dr. Pimmer, Dr. Zechner und Dr. Sailer als weitere Richter in der Unterbringungssache Joachim W*****, vertreten durch den Patientenanwalt Mag. Stefan Gierlinger, Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft, Linz, Wagner-Jauregg-Weg 15, infolge Revisionsrekurses des Patientenanwalts gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 1. Dezember 1998, GZ 14 R 606/98f-54, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Linz vom 3. November 1998, GZ 7 Ub 429/98s-37, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der Patient befindet sich seit 22. 2. 1998 wegen einer juvenilen Psychose, die sich vorwiegend durch Aggressionshandlungen und Impulsreaktionen äußert, im Wagner-Jauregg-Krankenhaus in Linz in stationärer Behandlung. Am 27. 4. 1998 wurde er in den geschlossenen Bereich aufgenommen, weil er mit einem Stein nach einem Mitpatienten geworfen hatte und auf eine Krankenschwester losgegangen war. Nach dem das Erstgericht am 30. 4. 1998 die vorläufige Unterbringung für zulässig erklärt hatte, wurde diese vom Abteilungsleiter am 13. 5. 1998 gemäß § 32 UbG aufgehoben.

Bereits am 15. 5. 1998 wurde der Patient allerdings wieder in den geschlossenen Bereich aufgenommen, nachdem er mit Gegenständen herumgeworfen und mit einem Feuerlöscher die Station verwüstet hatte. Seitdem ist er durchgehend wegen angenommener Fremdgefährdung im Sinne des § 3 Z 1 UbG untergebracht. Das Erstgericht sprach mehrmals die Zulässigkeit der weiteren Anhaltung wegen ernstlicher und erheblicher Fremdgefährdung aus. Es hatten sich zahlreiche Vorfälle ereignet, bei denen der Patient mit brachialer Aggressivität gegen Mitpatienten oder andere Personen vorgegangen war. Ein Mitpatient hatte dadurch einen Nasenbeinbruch erlitten. Bei einem Besuch seiner Mutter hatte er einen Sessel nach ihr geworfen. Einer Krankenschwester hatte er einen Faustschlag ins Gesicht versetzt.

In der mündlichen Verhandlung vom 3. 11. 1998 verkündete das Erstgericht einen Beschluß, mit dem es die weitere Unterbringung des Patienten gemäß § 26 Abs 3 UbG für unzulässig erklärte. Dies begründete der Erstrichter mündlich damit, daß derzeit von ernstlichen und erheblichen Fremdgefährdungsmomenten nicht mehr ausgegangen werde, insbesondere nicht davon, daß im Falle einer Aufhebung der Unterbringung mit höherer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen sei, daß der Patient umgehend wieder ernstlich und erheblich fremdgefährlich agieren werde. Über Antrag des Vertreters des Abteilungsleiters erkannte der Erstrichter dem von ihm sogleich angemeldeten Rekurs aufschiebende Wirkung zu.

Dieser Beschluß wurde ausgefertigt und unter anderem dem Abteilungsleiter der Krankenanstalt mit Telekopie am 12. 11. 1998 übermittelt.

Mit dem angefochtenen Beschluß gab das Rekursgericht dessen am 19. 11. 1998 wiederum mit Telekopie erhobenen, mittlerweile durch Unterschrift verbesserten Rekurs Folge und erklärte die weitere Unterbringung des Patienten bis 29. 12. 1998 für zulässig. Das Rekursgericht traf nach Durchführung einer mündlichen Rekursverhandlung folgende wesentliche Feststellungen:

Der Patient, der seit 15. 5. 1998 durchgehend im geschlossenen Bereich untergebracht ist und behandelt wird, leidet an einer juvenilen Psychose, die sich vorwiegend durch Aggressionshandlungen und Impulsreaktionen äußert. Der Krankheitsverlauf zeigt eine deutliche Tendenz der Besserung. Anfangs waren die Aggressionszustände relativ häufig und bereits bei geringem Anlaß vorhanden. Während des dreimonatigen Aufenthaltes auf der geschlossenen Station gab es mit Ausnahme eines Vorfalls keine Auffälligkeiten. Als am 9. 11. 1998 ein Mitpatient, der den Tischservice für das Frühstück durchführte, den Patienten zur Beendigung des Frühstücks drängte, geriet er darüber in Aufregung und es kam zu einer verbalen Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und anderen Patienten. Schließlich wurde er immer angespannter, konnte durch den Pfleger nicht mehr beruhigt werden und wollte schließlich auf den anderen losgehen. Nur das Einschreiten eines Pflegers verhinderte einen tätlichen Angriff des Patienten.

Aggressionshandlungen treten bei ihm meist akut aus einem nichtigen Anlaß auf. Deren Ausmaß hängt stark von der aktuellen Situation ab. Weder im geschlossenen noch im offenen Bereich können brachiale Aggressionshandlungen gegenüber anderen Personen ausgeschlossen werden, zumal sie häufig unvermittelt und explosionsartig auftreten. Die Behandlung auf der geschlossenen Station nimmt auf den Krankheitsverlauf einen günstigen Einfluß. Im Fall der Verlegung auf eine offene Station ist auf Grund einer gewissen Reizüberflutung bzw. vermehrten Reizbelastung zu erwarten, daß die Aggressionsneigungen, die in den letzten Monaten kaum mehr auftraten, wieder etwas zunehmen.

Im Rahmen der Therapie wurde von Seiten der Anstalt bisher noch versucht, die Reizschwelle und das Verhalten des Patienten unter den Bedingungen eines (teil-)offenen Bereiches auszuloten, nämlich, ob es dabei tatsächlich zu vermehrten Aggressionshandlungen kommen würde oder ob das angepaßte Verhalten der letzten drei Monate auch im offenen Bereich vorliegen würde. Im Zeitraum von etwa einem Monat könnte man mit zunehmenden kleineren Freigängen seine Verhaltensweisen im offenen Bereich ausloten und somit das Gefährlichkeitspotential besser abschätzen. Die Häufigkeit der Aggressionshandlungen ist wesentlich gesunken, doch sind auch in Zukunft - insbesondere bei Verlegung des Patienten in den offenen Bereich - brachiale Aggressionshandlungen, wie sie sich bisher ereigneten, zu erwarten.

In rechtlicher Hinsicht sah das Rekursgericht den Rekurs des Abteilungsleiters als rechtzeitig an. Es schloß sich entgegen seiner eigenen Entscheidung 18 R 408/93 und der Meinung von Kopetzki (Grundriß des Unterbringungsrechts Rz 421) der Ansicht des LGZ Graz (6 R 111/95) und von Hopf/Aigner (UbG, § 28 Anm 9) an, wonach für diesen die Rekursfrist nicht bereits mit der mündlichen Verkündung des Beschlusses beginnt, mit dem die Unterbringung für unzulässig erklärt wird, sondern erst mit dessen Zustellung. Demnach sei die achttägige Rekursfrist eingehalten worden.

In der Sache führte das Rekursgericht aus, daß das Vorliegen einer psychischen Krankheit des Patienten nicht strittig sei. Auch die übrigen Voraussetzungen des § 3 UbG seien noch gegeben. Die Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des Untergebrachten oder anderer Personen müsse nach Z 1 dieser Bestimmung ernstlich sein, es müsse also ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung vorliegen. Eine bloß vage Möglichkeit einer Selbst- oder Fremdschädigung sei nicht ausreichend (vgl Hopf/Aigner, UbG § 3 Anm 7; RIS-Justiz RS0075921). Die Gefährdung müsse sich noch nicht realisiert haben, es reiche aus, wenn nach der Lebenserfahrung krankheitsbedingte Verhaltensweisen zur Gefährdung von Leben und Gesundheit führen (9 Ob 152/98p).

Obwohl sich der Patient in den letzten drei Monaten wohlverhalten habe und die Häufigkeit seiner Aggressionsausbrüche seit 15. 5. 1998 zurückgegangen sei, zeige der Vorfall vom 9. 11. 1998 wieder, daß es immer noch zu heftigen und unvermittelten Aggressionsausbrüchen mit Tätlichkeiten gegen andere Personen komme. Diese hätten in der Vergangenheit bereits zu erheblichen Verletzungen, wie einem Nasenbeinbruch, oder zu hoher Verletzungswahrscheinlichkeit (Faustschlag ins Gesicht) geführt. Nach den Feststellungen lasse die Verlegung des Patienten in den offenen Bereich eine vermehrte Reizbelastung und vermehrte brachiale Aggressionshandlungen erwarten.

Insgesamt sei daher die Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung anderer Personen in diesem Fall noch als hoch zu beurteilen und damit eine ernstliche und erhebliche Fremdgefährdung noch anzunehmen. Das Rekursgericht verkenne nicht, daß im Hinblick auf die relativ lange Unterbringungsdauer der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten sei. Demnach dürften die mit der Unterbringung verbundenen Beschränkungen im Verhältnis zu den mit der Krankheit verbundenen Gefahren nicht unangemessen sein (Hopf/Aigner, UbG § 3 Anm 9; Kopetzki, Grundriß des Unterbringungsrechts, Rz 134; RIS-Justiz RS0075921). Je länger die Unterbringung bereits dauere, umso strengere Anforderungen seien an die Wahrscheinlichkeit und die Schwere des drohenden Schadens zu stellen (2 Ob 600/92). Im Hinblick auf die bereits gesetzten Aggressionshandlungen und die dadurch verursachten Folgen sei derzeit die weitere Unterbringung noch nicht unverhältnismäßig. Dem Abteilungsleiter sei allerdings dringend nahezulegen, die vom Sachverständigen bereits wiederholt angeregten Therapiemaßnahmen durchzuführen. Andernfalls wäre eine längere Unterbringung allmählich nicht mehr vertretbar.

Ausreichende Behandlungsalternativen, wie die Behandlung im offenen Bereich, die der Kranke selbst anstrebt, böten sich derzeit nicht an. Einerseits sei noch nicht ausgelotet, wie er sich unter derartigen Bedingungen verhalten würde, andererseits seien jedenfalls vermehrte Aggressionshandlungen zu erwarten.

Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, weil zum Beginn der Rekursfrist nach § 28 Abs 2 UbG keine höchstgerichtliche Judikatur vorliege und auch die Frage, ob die relativ lang andauernde Unterbringung im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes noch zulässig sei, eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 14 Abs 1 AußStrG darstelle.

Der gegen diesen Beschluß vom Patientenanwalt des Kranken erhobene Revisionsrekurs ist aus dem ersten der vom Rekursgericht genannten Gründe zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Zu Unrecht meint der Revisionsrekurswerber, der Rekurs des Abteilungsleiters hätte als verspätet zurückgewiesen werden müssen. Zwar käme eine sachliche Erledigung trotz Verspätung gemäß § 11 Abs 2 AußStrG nicht in Betracht, weil dadurch in die Rechtsstellung des Kranken eingegriffen würde (N bei Kopetzki, Grundriß des Unterbringungsrechts Rz 421; 6 Ob 109/97s), der erkennende Senat schließt sich aber der Auffassung des Rekursgerichts und der von ihm zitierten Autoren und der Entscheidung des LGZ Graz an.

Wie auch Kopetzki (aaO Rz 421) einräumt, widerspräche die gegenteilige Auffassung dem § 11 Abs 1 AußStrG, wonach die Rekursfrist durch die Zustellung der angefochtenen Entscheidung ausgelöst wird. Zutreffend hat das Rekursgericht auch auf die entsprechende Regelung im streitigen Verfahren hingewiesen, was mündlich verkündete Beschlüsse betrifft, gegen die ein Rechtsmittel zulässig ist (§ 426 Abs 1 iVm § 521 Abs 2 ZPO). Daß es einen allgemeinen Grundsatz darstellt, daß auch mündlich verkündete Entscheidungen erst mit der Zustellung einer schriftlichen Ausnahme wirksam werden, zeigt auch § 416 Abs 1 ZPO. Die Ausnahme des § 416 Abs 3 ZPO erfaßt nur (vollständig verkündete: 4 Ob 4/99p mwN) Anerkenntnis- und Verzichtsurteile und Versäumungsurteile, diese, was den Kläger betrifft. Sie alle bedürfen aber keiner Begründung (§ 417 Abs 4 ZPO). Von diesen Sonderfällen abgesehen beginnt daher auch die Berufungsfrist für (selbst vollständig nach § 414 Abs 1 ZPO verkündete) Urteile erst mit der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung. Daraus ist abzuleiten, daß die Adressaten Gelegenheit haben müssen, vor Erhebung eines Rechtsmittels den vollständigen Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung in schriftlicher Form zur Kenntnis zu nehmen. Dies wäre aber dem Abteilungsleiter im Fall des Rekurses nach § 28 Abs 2 UbG stets verwehrt, wenn das Erstgericht die ihm gemäß § 27 UbG zustehende Ausfertigungsfrist ausschöpft und sich danach die Entscheidung während des letzten Tages der achttägigen Rekursfrist auf dem Postweg befindet.

Im Vergleich zum dargelegten Grundsatz kann auch das Beschleunigungsmoment, dem zweifellos im Rechtsmittelverfahren nach dem UbG maßgebliche Bedeutung zukommt, den von Kopetzki, einer Vorentscheidung des Rekursgerichtes und vom Patientenanwalt gezogenen Gegenschluß zu § 28 Abs 1 UbG nicht rechtfertigen. Abgesehen davon, daß die im Vergleich zu dieser Rechtsansicht bewirkte Verzögerung der Rekursentscheidung um zirka eine Woche nicht allzu lange ist, entspricht sie etwa derjenigen Frist, um welche die gewöhnlich 14tägige Rekursfrist des Außerstreitverfahrens für den Abteilungsleiter verkürzt wird. Die vom Revisionswerber zur Unterstützung seiner Ansicht angeführte Regelung des § 20 Abs 2 UbG ist schon deshalb nicht vergleichbar, weil für die Entscheidung aufgrund der Erstanhörung eine schriftliche Beschlußausfertigung im Gegensatz zu § 27 UbG gar nicht vorgeschrieben ist. Der Rekurs des Abteilungsleiters war daher jedenfalls rechtzeitig. Es bedarf somit keiner Prüfung, ob die Vorgangsweise der Übermittlung der erstinstanzlichen Entscheidung mittels Telefax (allein) dem § 27 UbG entspricht, etwa weil sie durch den mit Ablauf des Jahres 1998 außer Kraft getretenen (BGBl 1998 I 158 idF der Druckfehlerberichtigung BGBl 1998 I 164) § 1a ZustG gedeckt gewesen wäre.

Was das Vorliegen der Voraussetzungen der weiteren Unterbringung nach § 3 UbG angeht, ist auf die Richtigkeit der Ausführungen des Rekursgerichtes hinzuweisen (§ 16 Abs 4 AußStrG iVm § 510 Abs 3 ZPO). Der erkennende Senat sieht sich auch nicht veranlaßt, von der Entscheidung 2 Ob 2320/96g abzugehen, wonach die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf mehrere Räume oder auf bestimmte räumliche Bereiche keiner besonderen Anordnung bedarf (Hopf/Aigner Rz 4 zu 33 UbG), und auch die Einhaltung der Grundsätze des § 33 Abs 1 UbG nicht der weiteren gerichtlichen Überprüfung unterliegt.

Stichworte