OGH 10ObS279/97w

OGH10ObS279/97w30.9.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Richard Warnung (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ferdinand Rodinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Duru M***** vertreten durch Dr.Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11.April 1997, GZ 8 Rs 31/97f-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 12.November 1996, GZ 10 Cgs 34/96d-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision des Klägers wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorintanzen werden aufgehoben; die Sozialrechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 2.6.1972 geborene Kläger ist österreichischer Staatsbürger. Er trat im September 1989 bei einer Firma als Lehrling für den Lehrberuf Stahlbauschlosser ein. Vor der erfolgreichen Ablegung der Lehrabschlußprüfung im April 1993 wurde er im September 1992 operiert und eine Nierentransplantation durchgeführt. Darüber hinaus leidet er an einer mittel- bis hochgradig kombinierten Schwerhörigkeit rechts und einer solchen leichten Grades links.Dem Kläger können nur mehr leichte Arbeiten im Stehen, Gehen und Sitzen zu den üblichen Zeiten mit den üblichen Pausen zugemutet werden. Zu vermeiden sind Arbeiten in Kälte und Nässe bzw solche, die mit Durchnässung und/oder Unterkühlung des Stammes und der Beine einhergehen. Der Arbeitsplatz soll sich in einem geschlossenen Raum befinden, die ständige Raumtemperatur soll nicht weniger als 16 Grad und nicht mehr als 30 Grad betragen. Zu vermeiden sind weiters Arbeiten mit vermehrtem direkten Personenkontakt (etwa Schalterdienst ohne Schutzscheibe). Für notwendige medizinische Untersuchungen ist ein Halbtag (meist ein Vormittag) im Monat zu veranschlagen, darüber hinausgehende Krankenstände sind nicht vorhersehbar. Einschränkungen des Anmarschweges bestehen nicht, die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist zulässig. Ausgeschlossen sind schließlich auch Arbeiten, bei denen ein Richtungshören aus einer Entfernung von einem halben Meter Umgangssprache erforderlich ist.

Mit Bescheid vom 4.1.1996 lehnte die beklagte Partei den Antrag auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Mit seiner Klage stellte der Kläger das Begehren auf Zuerkennung derselben in der gesetzlichen Höhe ab 1.9.1995.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs - zusammengefaßt - wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß Ausbildungen im Rahmen eines Lehrverhältnisses sozialversicherungsrechtlich im Sinne des § 255 ASVG wie eine schulmäßige Berufsausbildung zu behandeln seien; Lehrlinge übten daher noch keine Berufstätigkeit im Sinne des § 252 Abs 2 zweiter Satz ASVG aus. Auch im Sinne des Abs 3 dieser Gesetzesstelle liege noch keine Berufsausübung vor. Der Kläger habe somit sein Leiden in das Erwerbsleben eingebracht; während dieses Erwerbslebens sei aber keine Verschlechterung seines Zustandes erfolgt. Voraussehbare Arbeitsausfälle von einem Tag im Monat (ein halber Tag Ambulanz + "Fahrzeug" [gemeint wohl: Fahrzeit] zum Arbeitsplatz) würden in der Regel von Firmen nicht toleriert. Lediglich auf einem geschützten Arbeitsplatz, der aber das Entgegenkommen des Dienstgebers erfordert, wäre ein Arbeitseinsatz des Klägers möglich. Derartige Arbeitsplätze seien am allgemeinen Arbeitsmarkt jedoch nicht in ausreichender Zahl vorhanden. Hieraus sei aber für den Kläger ebenfalls nichts gewonnen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es übernahm (mit Ausnahme einer nur sprachlich klarstellenden und einleitend bereits berücksichtigten Modifikation) die Feststellungen des Erstgerichtes und auch dessen rechtliche Beurteilung. Ausschließlich im urologischen Bereich liegende Einschränkungen des Klägers bestünden bereits seit der Nierentransplantation im September 1992, zu welchem Zeitpunkt der Kläger aber noch keinen erlernten Beruf im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt habe; die Ausübung eines bloß angelernten Berufes im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG stehe hier "ohnedies nicht zur Diskussion". Daß ihn erst eine spätere Verschlechterung im September 1994 zur Aufgabe des erlernten Berufes gezwungen habe, sei eine unbeachtliche Neuerung. Sollte der Kläger tatsächlich von September 1993 bis September 1994 kalkülüberschreitend gearbeitet oder die besondere Rücksichtnahme eines Dienstgebers genossen haben, könne auch eine solche Behinderung nicht zur Begründung des Eintrittes des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit herangezogen werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die gemäß § 46 Abs 3 ASGG zulässige und auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Nach Auffassung des Revisionswerbers sei für die Frage der Berufsqualifikation nicht die Ablegung der Lehrabschlußprüfung, sondern der Abschluß der Lehrzeit maßgeblich, sodaß zufolge des erfolgreichen Abschlusses derselben seine Qualifikation nach § 255 Abs 2 ASVG geprüft hätte werden müssen. Außerdem seien seine als Lehrling erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung zu Unrecht nicht berücksichtigt worden. Schließlich habe er seine Erkrankung nachweislich nicht ins Erwerbsleben eingebracht, sondern sei erst zu Ende der Lehrzeit invalid geworden. Daher müßte zumindest eine Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG bestehen.

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof folgendes erwogen:

Rechtliche Beurteilung

1. Anspruch auf Invaliditätspension hat nach § 254 ASVG (in der zum Stichtag 1.9.1995 geltenden Fassung vor dem StrukturanpassungsG 1996 BGBl 201 [Art 34 Z 97]) ein Versicherter bei dauernder Invalidität, wenn er am Stichtag noch nicht die Voraussetzungen für eine Alterspension, eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer oder eine vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (Erwerbsunfähigkeit) erfüllt hat. Nach dem § 235 Abs 3 lit b ASVG entfällt das Erfordernis der Wartezeit für eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (so nach § 254 Abs 1 Z 2 ASVG auch beim Anspruch auf Invaliditätspension), wenn der Stichtag nach § 223 Abs 2 ASVG (hier: 1.9.1995) vor dem vollendeten 27.Lebensjahr des Versicherten (hier: 2.6.1999) liegt und der Versicherte mindestens sechs Versicherungsmonate, die nicht auf einer Selbstversicherung gemäß § 16 a ASVG beruhen, erworben hat (was hier auch von der beklagten Partei nie bestritten wurde).

2. Bereits in seiner Entscheidung 10 ObS 289/91 (veröffentlicht in SSV-NF 5/123) hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, daß bei der Prüfung, ob in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG eine erlernte Berufstätigkeit ausgeübt wurde (§ 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG), die Lehrzeit außer Betracht zu bleiben hat. Dies wurde in der Entscheidung 10 ObS 2358/96d ausdrücklich wiederholt. Die Begründung ergibt sich aus dem bereits in der Grundsatzentscheidung SSV-NF 4/27 = SZ 63/33 geprägten Rechtssatz, daß eine Tätigkeit in einem erlernten Beruf erst nach abgeschlossener Ausbildung ausgeübt werden kann, sodaß ein Lehrling nicht im (noch nicht) erlernten Beruf tätig ist. Damit kann aber bei in einem Lehrverhältnis stehenden Personen (Lehrlingen) nicht von einer Ausübung einer Berufstätigkeit im Sinne des § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG gesprochen werden. Diese sind zwar nach § 4 Abs 1 Z 2 ASVG regelmäßig in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung aufgrund des ASVG versichert (vollversichert), sie üben jedoch noch keinen Beruf im vordefinierten Sinne aus, sondern werden aufgrund des Lehrvertrages zur Erlernung eines in der Lehrberufsliste angeführten Lehrberufes bei einem Lehrberechtigten erst für die (spätere) Ausübung eines Berufes fachlich ausgebildet und im Rahmen dieser Ausbildung verwendet (SSV-NF 4/27 = SZ 63/33).

Selbst eine abgeschlossene Lehrzeit hätte bei Prüfung, ob in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG eine erlernte Berufstätigkeit ausgeübt wurde, außer Betracht zu bleiben (SSV-NF 5/123; 10 ObS 2358/96d).

Eine Besonderheit ergibt sich jedoch vorliegendenfalls aus der vom Berufungsgericht mit in den Vordergrund seiner Abweisungsbegründung gestellten Frage, ob beim Kläger ein eingebrachtes Leiden vorlag. Der Oberste Gerichtshof hat hiezu erst jüngst in der Entscheidung 10 ObS 90/97a den Judikaturstand zusammenfassend zur Darstellung gebracht und ausgeführt, daß es zur Prüfung der Frage, ob eine trotz Körperbehinderung zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen (Erkrankungen) beeinträchtigt wurde, also im Sinne des Wortlautes des Gesetzes "herabgesunken" sei, erforderlich sei, den körperlichen und geistigen Zustand des Versicherten bei Aufnahme der Berufstätigkeit und Eintritt in das Versicherungsverhältnis jenem bei Antragstellung gegenüberzustellen. Als Beginn des Eintritts in das Versicherungsverhältnis ist hiebei bei einem Versicherten wie dem Kläger nach Auffassung des Senates allerdings (anders als zur bereits behandelten Frage des Berufsschutzes nach § 255 Abs 2 ASVG) auf den Beginn der Lehrzeit abzustellen, welche beim Kläger jedoch schon im September 1989 begonnen hat. Hiezu liegen freilich keine verläßlichen Feststellungen der Vorinstanzen vor, um dies abschließend beurteilen zu können.

3. Des weiteren ist noch auf folgendes hinzuweisen: Zwar gilt auch im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen grundsätzlich das Neuerungsverbot des § 482 ZPO (SSV-NF 1/45, 8/60, 10 ObS 215/97h), die Nichtbeachtung des vom Kläger in seiner Berufung erstatteten Vorbringens über die Fortdauer seiner Lehr- und sodann Berufsausübungszeit als Stahlbauschlosser nach der Operation im September 1992 kann dem Neuerungsverbot jedoch schon deshalb hier nicht unterstellt werden, weil sich dieser - für die weitere rechtliche Beurteilung entscheidungserhebliche - Aspekt im Berufsbild des Klägers einerseits im Verfahren erster Instanz aktenmäßig bereits gestellt hat (vgl PV Kläger und ZV B***** in ON 14 sowie Pensionsakt Blatt 15, worin als unselbständige Tätigkeiten 35 Monate als Lehrling, 1 Monat als Hilfsarbeiter und 25 Monate als Stahlbauschlosser aufscheinen, worauf die beklagte Partei selbst - siehe dasselbe Blatt Unterseite - die Anspruchsvoraussetzungen des Klägers nach "§ 255/1" qualifizierte!; auch die Urkunden Beilagen C und D = Lehrabschlußzeugnis und Lehrbrief wurden bereits in der Streitverhandlung vom 5.9.1996 dem Erstgericht vorgelegt). Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen (SSV-NF 3/136, 4/119, 8/119), daß in einem solchen Fall das Erstgericht schon aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG gehalten gewesen wäre, diese entscheidungswesentlichen Fragen von Amts wegen zu überprüfen und sodann auch hierüber vollständige und erschöpfende Feststellungen zu treffen. Statt dessen hat sich das Erstgericht nur mit einem kurzen Hinweis auf den Termin der Lehrabschlußprüfung im April 1993 begnügt. Sollte aber der kursorisch wiedergegebene Beschäftigungsverlauf im Rahmen des insoweit zu ergänzenden Beweisverfahrens verifiziert werden, dann läge tatsächlich - ungeachtet der obigen Ausführungen zur Lehrzeitenqualifikation - in mehr als der Hälfte der maßgeblichen Beitragsmonate eine erlernte Berufstätigkeit vor, welche dann aber auch die Zuerkennung des Berufsschutzes nach § 255 Abs 1 ASVG rechtfertigte. Zu diesen Fragen fehlen jedoch (noch) wesentliche Feststellungen, ebenso wie über Art und Umfang der vom Kläger nach seinem Krankenstand weiterhin als Stahlbauschlosser ausgeübten konkreten Tätigkeiten. Auch in dieser Richtung erweist sich das Verfahren sohin als ergänzungsbedürftig. Dafür, daß der Kläger nach seiner Operation auf Kosten seiner Gesundheit gearbeitet habe und auch aus diesem Grunde sein (allfälliger) Berufsschutz zu verneinen sei, bietet der Sachverhalt - jedenfalls derzeit - keine Grundlage.

Hinsichtlich der vom Erstgericht getroffenen (und vom Berufungsgericht übernommenen) "Feststellung" über eine klägerbezogen am Arbeitsmarkt nicht tolerierte Krankenstandserwartung von 1 Tag pro Monat (d.s. nicht einmal zwei Wochen im Jahr) wird zu beachten sein, daß der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung erkennt, daß erst leidensbedingte Krankenstände von jährlich 7 Wochen oder darüber einen Versicherten und Rentenwerber vom allgemeinen Arbeitsmarkt auszuschließen vermögen (zuletzt SSV-NF 10/14 mit zahlreichen weiteren Hinweisen zur Vorjudikatur).

Zur Verbreitung der Sachverhaltsgrundlage im aufgezeigten Umfang bedarf es daher einer weiteren Verhandlung erster Instanz, weshalb die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben waren.

Der Kostenvorbehalt in Ansehung der Kosten des Revisionsverfahrens stützt sich auf § 52 ZPO.

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