Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der 1957 geborene Kläger war ab 1.8.1991 bei der beklagten Partei als Angebotsingenieur beschäftigt und wurde mit Schreiben vom 13.12.1995 zum 15.2.1996 gekündigt. Er hat drei Kinder (in der Klage werden irrig nur zwei genannt, vgl hingegen AS 16), seine Ehefrau verdient monatlich S 15.000,-- netto. Bei der beklagten Partei verdiente der Kläger monatlich S 41.790,-- brutto. Seine monatliche Rückzahlungsrate für Hausbau beträgt rund S 18.800,--, die Versicherung des Hauses kostet monatlich S 2.400,--. Die monatlichen Lebenserhaltungskosten für die fünfköpfige Familie betragen rund S 27.000,--.
Der Kläger focht die Kündigung (fristgerecht) mit der Begründung an, sie sei sozialwidrig.
Die beklagte Partei bestritt das Klagsvorbringen, beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und machte betriebswirtschaftliche Gründe zur Rechtfertigung der Kündigung geltend (ON 3).
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Zusätzlich zu dem eingangs wiedergegebenen Sachverhalt stellte es weiters fest:
Der Kläger hat seit Mai 1996 einen neuen Arbeitsplatz als Angebotsingenieur in Stockerau. Er verdient monatlich S 36.734,-- brutto und hat ein Überstundenpauschale von S 3.266,-- monatlich. Die beklagte Partei zahlte einen Mittagsessenszuschuß in der Höhe von S 20,-- pro Anwesenheitstag, diese Sonderleistung gibt es bei dem neuen Arbeitgeber des Klägers nicht. Der Betriebsort des neuen Arbeitgebers ist vom Wohnort des Klägers 69 km entfernt, die Wegstrecke zur beklagten Partei betrug 16 km. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln würde der Kläger 2 Stunden Fahrtzeit zum neuen Arbeitgeber und ebenso lange für den Rückweg benötigen. Durch die Anschaffung eines PKW könnte diese Fahrtzeit annähernd halbiert werden.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Kündigung des Klägers sei nicht sozialwidrig, sein Einkommen sei annähernd gleich hoch. Der Essenszuschuß der beklagten Partei von S 20,-- täglich (richtig wohl je Arbeitstag) sei zu vernachlässigen. Die größere Entfernung des Arbeitsplatzes von seinem Wohnort habe der Kläger in Kauf zu nehmen, zumal er nicht in einem Ballungszentrum lebe. Im übrigen sei die Anschaffung eines PKW, etwa unter Verwendung der Sonderzahlungen, zumutbar.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und führte in rechtlicher Hinsicht aus, der Aufwand an Zeit und Geld für das Pendeln werde durch das sogenannte Pendlerpauschale gemäß § 16 Abs 1 Z 6 EStG (nunmehr Verkehrsabsetzbetrag) von jährlich S 28.800,-- (monatlich S 2.400,--) berücksichtigt. Die weiteren Kosten im Vergleich zu einer Berechnung nach dem amtlichen Kilometergeld würden vom Gesetzgeber nicht berücksichtigt. Die vom Kläger behaupteten Nachteile seien "marginal", weshalb die Kündigung nicht sozialwidrig sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Grund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es abzuändern und dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.
Die übertriebenen Berechnungen zum finanziellen Aufwand des Pendelns - es hat sich nach den Feststellungen der tägliche Arbeitsweg von 32 km auf 138 km vergrößert (das ist rund daß 4,3-fache), dennoch muß der Kläger diesen Arbeitsweg (nur) an fünf Arbeitstagen, nicht aber an sechs Werktagen zurücklegen - beinhalten doch einen Hinweis auf eine wesentliche Interessenbeeinträchtigung im Sinne des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG. Wenn nämlich die besondere Verknüpfung von Entgelt und nicht abgegoltenem notwendigen Aufwand, der zur Verminderung des für den Arbeitnehmer verfügbaren Entgelts führt (vgl 14 Ob 122/86 = WBl 1987, 101), im Zusammenhalt mit der Verdoppelung des Zeitaufwandes für den Arbeitsweg berücksichtigt wird, so bedeutet dies keinesfalls eine "marginale" Interessenbeeinträchtigung. Zum selben Ergebnis kommt man, wäre die Zumutbarkeit für den Kläger im Falle der Verlegung des Standortes des Arbeitgebers zu erwägen (vgl DRdA 1997/9 [Mayr]). Mag auch das Entgelt des Klägers im Vergleich der beklagten Partei zu seinem neuen Arbeitgeber nur geringfügig vermindert sein, so ist der finanzielle Aufwand, noch mehr aber der Zeitaufwand für das "Pendeln" wesentlich gestiegen. Die damit verbundene Einbuße, insbesondere an "Lebensqualität" kann nicht vernachlässigt werden. Muß sich auch ein Versicherter eine "Verweisung" auf den gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt gefallen lassen, womit ihm im Ergebnis ein Tages- oder Wochenpendeln zugemutet wird (vgl etwa SSV-NF 5/38; 6/4; 7/37), so kann diese, gegenüber der Versichertengemeinschaft bestehende, sich aus dem Sozialstaatsprinzip ergebende Verpflichtung nicht ohne weiteres auf die Interessenabwägung gemäß § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG übertragen werden (vgl zur eingeschränkten Zumutbarkeit des "Pendelns" im Hinblick auf familiäre Verhältnisse im Falle der Anrechnung gemäß § 1162 b ABGB bzw § 29 AngG: 9 ObA 231, 232/94). Mit dem Verkehrsabsetzbetrag (§ 16 Abs 1 Z 6 EStG) können die über die steuerrechtliche Pauschalierung hinausgehenden Aufwendungen für den Bereich der vorzunehmenden Interessenabwägung nicht abgetan werden, insbesondere kann ein Maßstab für die Wesentlichkeit der Interessenbeeinträchtigung daraus nicht abgeleitet werden.
Das "Nachschieben" von Anfechtungsgründen ist zwar grundsätzlich unzulässig (8 ObA 2308/96m). Die spätere Ergänzung des ursprünglichen Klagsvorbringens (ON 14, AS 37) hinsichtlich der durch das Pendeln bewirkten Einbußen, ist im Klagsvorbringen des vollständigen Einkommensentfalles durch die Kündigung (ON 1, AS 2) schon kraft Größenschlusses enthalten und konnte innerhalb der Klagsfrist des § 105 Abs 4 ArbVG noch nicht vorgebracht werden (die Klage langte am 18.12.1995 bei Gericht ein, der neue Arbeitsplatz wurde erst im Mai 1996 angetreten).
Die Zumutbarkeit des "Pendelns" wurde im Fall der Entscheidung 8 ObA 335/94 = RdW 1995, 272 aus der besonderen familiären Situation des Anfechtungsklägers (Witwer mit Sorgepflicht für drei schulpflichtige Kinder) im Zusammenhalt mit anderen Umständen verneint.
Muß auch der Arbeitnehmer gewisse Einbußen seines Einkommens im Lauf seines Arbeitslebens hinnehmen (SZ 65/43 = ZAS 1994/4, 59 mit Besprechungsaufsatz Pircher, Die Beeinträchtigung wesentlicher Interessen ZAS 1994, 51 mit Hinweis auf Entgelteinbuße von 10 % [58]), so bedarf es einer näheren Analyse, aufgrund welcher Erwägungen das Maß des Wesentlichen (§ 105 Abs 3 Z 2 ArbVG) erreicht oder nicht erreicht wird. Hier ist unter anderem auch das überdurchschnittliche Einkommen des Klägers zu berücksichtigen. Wenn überdies berücksichtigt wird, daß in zahlreichen Kollektivverträgen für den längeren Weg zu auswärtigen Arbeitsstätten Vergütungen vorgesehen sind (Weggeld als Entgeltbestandteil laut Gutachten des BEA beim BMAS 13/BEA/1991-3 vom 3.7.1991 zitiert nach ARD 4298/10/91), ist es nach dieser Wertung unzulässig, den dafür erforderlichen Aufwand an Zeit und Geld völlig außer Acht zu lassen. Dies darf jedoch auch nicht zum anderen Extrem führen, daß etwa Arbeitgeber an abgelegenen Standorten oder in geringer Entfernung vom Wohnort ihrer Arbeitnehmer diese nicht oder nur erheblich erschwert kündigen könnten, zumal eine weitgehende Mobilität von Arbeitnehmern vor dem Hintergrund struktureller Änderungen in der Wirtschaft als Beitrag zum Erhalt ihrer Arbeitsplätze erwartet wird. Diese Bewertung des Arbeitsweges zeigt, daß es überdies erforderlich ist, die von der beklagten Partei geltend gemachten, aber von den Vorinstanzen nicht weiter behandelten betrieblichen Gründe der Kündigung (Kündigungsrechtfertigungsgründe) zu erörtern.
Eine betriebsbedingte Kündigung hebt als Ausnahmetatbestand die Sozialwidrigkeit nicht schlechthin auf (Arb 10.771), es hat vielmehr eine Interessenabwägung zu erfolgen (DRdA 1994/20, 252 [Trost]). Die betriebsbedingte Kündigung (dazu Tomandl, Die sozialwidrige Kündigung, 49 f) kommt nur als ultima ratio (Münch AR/Berkowsky § 134 RdNr 61) in Betracht und erfordert eine weitgehende soziale Gestaltungspflicht des Arbeitgebers (Tomandl aaO 55; Runggaldier: OGH präzisiert soziale Gestaltungspflicht RdW 1995, 267 zu 8 ObA 335/94 = RdW 1995, 272).
Die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit der Rationalisierungsmaßnahmen (vgl Arb 10.771; Personalreduktion DRdA 1994/20, 252 [Trost]; dazu Tomandl aaO, 62 f) ist grundsätzlich vom Gericht nicht zu überprüfen; es besteht insoweit unternehmerische Entscheidungsfreiheit (Berkowsky aaO RdNr 37 ff) bei gegebener Dringlichkeit der betrieblichen Erfordernisse (Berkowsky aaO RdNr 52 ff). Die behauptete Entwicklung der Unternehmensdaten macht die Reduktion von Personalkosten schlüssig, zumal die beklagte Partei bzw deren für das wirtschaftliche Ergebnis des Unternehmens verantwortliche Geschäftsführer verpflichtet sind, schon vor einer fahrlässigen Krida (vgl § 159 Abs 2 StGB) Sparmaßnahmen zu ergreifen, um die übrigen Arbeitsplätze und das Unternehmen zu sichern (vgl auch die Ziele der Betriebsverfassung in § 39 Abs 1 ArbVG). Daher sind auch hochrentierliche Unternehmen frei in ihrer Entscheidung, rentabilitätserhöhende Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen (Berkowsky aaO RdNr 49; 8 ObA 96/97v).
Bei Zutreffen der in den Einwendungen der beklagten Partei behaupteten betriebswirtschaftlichen Entwicklung des Unternehmens wird sich die Kündigung des Klägers auch unter Berücksichtigung der für ihn mit dem "Pendeln" verbundenen wesentlichen Interessenbeeinträchtigung im Ergebnis als gerechtfertigt erweisen. Da dieser Aspekt bisher noch nicht geprüft worden ist (§ 496 Abs 1 Z 3 ZPO), erweist sich die Arbeitsrechtssache noch nicht als spruchreif.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO iVm § 58 Abs 1 ASGG.
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