OGH 10Ob2028/96z

OGH10Ob2028/96z25.6.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Steinbauer, Dr.Tittel und Dr.Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Andrea H*****, vertreten durch Dr.Heinz Meller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Magdalena S*****, Korneuburgerstraße 41, vertreten durch Dr.Manfred Pilgerstorfer, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 93.500,- sA infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Korneuburg als Berufungsgerichtes vom 3.Oktober 1995, GZ 25 R 349/95-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Korneuburg vom 25.April 1995, GZ 3 C 628/94p-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben; dem Berufungsgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Klägerin ist Eigentümerin des Hauses K***** in B*****. Sie beauftragte am 11.9.1993 die Realitätenkanzlei W.K***** Immobilien GmbH mit der Vermittlung eines Mietvertrages und schloß am 1.4.1994 mit der Beklagten den als Beilage I im Akt erliegenden Mietvertrag. Danach begann das Mietverhältnis am 1.4.1994 und wurde auf die Dauer von fünf Jahren bis zum 30.3.1999 abgeschlossen. Laut § 3 Z 2 desselben sollte der frei vereinbarte Hauptmietzins inklusive Betriebskosten und Umsatzsteuer S 8.500,- monatlich betragen. Zum Zwecke der Gebührenbemessung wurde der auf den Mietgegenstand entfallende Gesamtmietzins nach § 8 des Vertrages mit S 102.000,-

festgelegt. In einer Zusatzvereinbarung (ohne Datum) zum Mietvertrag wurde zwischen den Streitteilen des weiteren eine Mietzinsvorauszahlung von S 200.000,- vereinbart, welche anteilmäßig bei einer Beendigung des Mietverhältnisses innerhalb von fünf Jahren aliquot an die Mieterin rückerstattet werden sollte; die Beklagte hat diesen Betrag am 8.4.1994 mittels Schecks bezahlt.

Die Klägerin begehrt mit der Behauptung, daß über diesen Hauptmietzins hinaus noch ein weiterer monatlicher Bestandzins von S 3.333,33 zu bezahlen vereinbart worden sei, und die Beklagte seit Mai 1994 auch die Mieten über S 8.500,- nicht mehr bezahlt habe, nach zweimaliger Ausdehnung letztlich deren Verurteilung zur Zahlung von S 93.500,- sA. Die Mietzinsvorauszahlung von S 200.000,- sei nicht statt, sondern neben den laufenden Mietzinsen von S 8.500,- zu bezahlen gewesen. In der letzten Streitverhandlung wurde überdies noch ein Räumungsbegehren wegen qualifizierten Mietzinsrückstandes gestellt, welche Klagsänderung jedoch - unbekämpft - vom Erstgericht mit Beschluß nicht zugelassen wurde.

Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren mit der Behauptung, daß durch die vereinbarungsgemäß bezahlte Mietzinsvorauszahlung von S 200.000,- der monatliche Mietzins S 8.500,- für die behaupteten Monate bereits entrichtet sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es beurteilte den in den Seiten 3 bis 5 des Urteils (= AS 67 ff) festgestellten Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß die Auslegung der schriftlichen Vertragsurkunden in Verbindung mit der Unklarheitenregel des § 915 ABGB ergeben habe, daß die Mietzinse durch die Mietzinsvorauszahlung tatsächlich bereits befriedigt seien.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung ab. Zu diesem Zwecke und "nach Erörterung iS des § 488 ZPO" verlas es den gesamten Akt und stellte - abweichend vom Erstgericht - ua neu fest, daß zwischen den Streitteilen vor der Vertragsunterfertigung am 1.4.1994 durchbesprochen worden sei, daß sich die Mietzinsvorauszahlung nicht als Teil des vereinbarten monatlichen Entgelts, sondern als zusätzliche Leistung verstehe, und die Beklagte hiegegen auch keine Einwände hatte. Rechtlich folgerte das Berufungsgericht daraus die Unvereinbarkeit der Einwendungen der Beklagten gegen das Zahlungsbegehren der Klägerin. Da die Auslegung eines Mietvertrages im Einzelfall und vor allem Tatfragen zu lösen gewesen sei, wurde die ordentliche Revision nicht zugelassen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei, in der als Revisionsgründe wesentliche Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht werden.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt, hat doch das Berufungsgericht durch das Treffen zusätzlicher und abweichender Feststellungen einen Verfahrensverstoß begangen, der eine erhebliche Verletzung des Prozeßrechtes im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO begründet. Nach § 488 Abs 4 ZPO darf das Berufungsgericht nämlich, wenn es erwägt, von den Feststellungen des Erstgerichtes abzuweichen, nur dann von der neuerlichen Aufnahme eines in erster Instanz unmittelbar aufgenommenen Beweises Abstand nehmen und sich mit der Verlesung der Protokolle hierüber begnügen, wenn es vorher den Parteien bekanntgegeben hat, daß es gegen die Würdigung dieses Beweises durch das Erstgericht Bedenken habe und ihnen Gelegenheit gegeben hat, die neuerliche Aufnahme dieses Beweises durch das Berufungsgericht zu beantragen. Zweck dieser erst durch die WGN 1989 BGBl 343 eingeführten Bestimmung ist es, die Parteien davor zu schützen, daß für sie überraschend die Entscheidungsgrundlage verändert wird (JA 991 BlgNR 17. GP, 8; RZ 1991/20 und 1993/91; 9 ObA 165/94).

Nach dem gemäß § 215 Abs 1 ZPO vollen Beweis liefernden Protokoll über die Berufungsverhandlung vom 3.10.1995 haben sich die Parteien(vertreter) "nach Erörterung iS des § 488 ZPO mit der Verlesung der bisherigen Beweisergebnisse einverstanden erklärt", worauf "der Akt als verlesen gilt". Ein Beschluß auf Beweiswiederholung fehlt hierin jedoch ebenso wie der in § 488 Abs 4 ZPO geforderte ausdrückliche Hinweis des Berufungsgerichtes, daß es erwäge, von den Feststellungen des Erstgerichtes abzugehen (die in den Seiten 5 und 6 der Revisionsbeantwortung geschilderten Abläufe dieser Berufungsverhandlung finden im maßgeblichen Protokoll hierüber keine Deckung und müssen daher unbeachtlich bleiben). Bei der Würdigung der den Parteien durch diese Bestimmung verbrieften Verfahrensrechte setzt nämlich die Rechtswirksamkeit eines Einverständnisses mit der Verlesung von Protokollen über unmittelbare Beweisaufnahmen voraus, daß bei den Parteien Klarheit über die als bedenklich erachteten oder vermißten Feststellungen besteht (2 Ob 73/94 mwN). Unterläßt das Gericht diese vorherige Bekanntgabe und führt die Beweisaufnahme nur gemäß § 281 a ZPO unmittelbar durch, dann verursacht es einen erheblichen Verfahrensmangel, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führen muß. Demgemäß hat der Oberste Gerichtshof etwa bereits in der Entscheidung 7 Ob 656/90 ausgesprochen, daß die bloße Verkündung des Beschlusses auf Beweisergänzung durch Verlesung diverser in erster Instanz aufgenommener Protokolle durch den Vorsitzenden nach Umfrage keineswegs hinreiche, daß die Parteien diesen Beschluß nur in der Richtung hätten verstehen können, daß das Berufungsgericht ernsthafte Bedenken gegen die Beweiswürdigung des Erstgerichtes hegt. Umsomehr muß dies hier gelten, wo das Berufungsgericht nicht einmal einen derartigen Beweisbeschluß (sei es nach Umfrage, sei es nach Beratung) faßte, geschweige denn den Parteien seine Erwägungen, von den Feststellungen des Erstgerichtes abzugehen, eröffnete; der bloße Hinweis auf eine "Erörterung iS des § 488 ZPO" ist dafür zu wenig, zumal diese Bestimmung - nach dem bereits wiedergegebenen Willen des Gesetzgebers (JA 991 BlgNR 17. GP, 8) als Schutzvorschrift zur Hintanhaltung von Rechtsnachteilen der ansonsten von einer Änderung der Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht überraschten Parteien - damit jedenfalls streng und einschränkend, an diesem eindeutigen Zweck der Regelung orientiert auszulegen ist und nicht durch einen bloßen formalen Zitathinweis dieses ihr immanenten Regelungsinhaltes entkleidet werden darf. Die Unterlassung dieser Aufklärung stellt somit einen schwerwiegenden, auch die Anrufung des Obersten Gerichtshofes rechtfertigenden Mangel des Berufungsverfahrens im Sinne der §§ 502 Abs 1, 503 Z 2 ZPO dar (5 Ob 572/93). Ihm kommt - abstrakt beurteilt - auch Bedeutung zu, weil das Erstgericht seine anderslautenden Feststellungen neben den aktenkundigen Urkunden auf die Aussagen der Streitteile als Partei sowie der Zeugen W***** S*****, W***** K***** und Dr.H***** M***** gestützt und das Berufungsgericht diese Beweiswürdigung diametral umgewürdigt hat.

Das Berufungsgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren den Parteien mitzuteilen haben, gegen welche Feststellungen des Erstgerichtes Bedenken bestehen; erst danach wird es das Einverständnis der Parteien zur Durchführung der mittelbaren Beweisaufnahme einzuholen oder aber die Beweise im Umfang des mangelnden Einverständnisses neuerlich aufzunehmen haben (2 Ob 73/94). Schließlich wird es auf Grund der ohne Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (RZ 1991/20, 10 Ob 515/95) aufzunehmenden Beweisergebnisse entsprechende Fest- stellungen über die für die Entscheidung des Rechtsfalles maßgebliche Parteienabsicht anläßlich ihres Mietvertrags- abschlusses bezüglich des tatsächlichen (Haupt)Mietzinses einerseits und die von Seiten der Bestandnehmerin geleistete "Mietvorauszahlung" andererseits zu treffen haben. Dabei ist - rechtlich - darauf hinzuweisen, daß nicht geklärt ist, ob der Mietgegenstand unter § 16 MRG fällt; zu prüfen wird damit auch sein, ob die von der Beklagten verlangte und unstrittig geleistete Einmalzahlung als eine echte Mietzinsvorauszahlung oder allenfalls eine nach § 27 MRG verbotene Leistung zu qualifizieren ist (siehe hiezu ua MietSlg 38.404, 41.304, EvBl 1986/29, WoBl 1988/79, 5 Ob 23/95, 5 Ob 1104/95 und jüngst 5 Ob 2077/96v). Das Berufungsgericht wird schließlich auch auf die von der Revisionswerberin unter Hinweis auf die Beweisurkunde Beilage 3 durchaus zutreffend als Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) monierte Rüge im Zusammenhang mit der - abweichend vom Erstgericht - getroffenen Feststellung zur Anzeige des Mietvertrages beim Finanzamt für Gebühren und Verkehrssteuern Wien Bedacht zu nehmen haben.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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