OGH 10ObS87/94

OGH10ObS87/942.9.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Heinrich Matzke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Lohr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ewald P*****, Pensionist, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld , infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14.Dezember 1993, GZ 5 Rs 110/93-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 19.August 1993, GZ 34 Cgs 37/93p-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil des Berufungsgerichtes und, soweit es dem Klagebegehren teilweise stattgab, auch das Urteil des Erstgerichtes werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Text

Begründung

Der am 7.10.1927 geborene Kläger bezieht von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter eine Invaliditätspension. Er leidet an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus mit ausgeprägter Polyneuropathie und Gangstörungen und an einer Epilepsie. Wegen starker Anfallshäufigkeit war dem Kläger von der Beklagten auch der Hilflosenzuschuß zuerkannt worden. Aufgrund einer im Jänner 1993 durchgeführten Nachuntersuchung wurde die Invaliditätspension mit Bescheid der Beklagten vom 30.1.1993 mit Ablauf des Monats März 1993 um den auf den Hilflosenzuschuß entfallenden Betrag herabgesetzt, da die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hilflosenzuschuß infolge Besserung des Gesundheitszustandes nicht mehr gegeben seien.

Der Kläger begehrte mit rechtzeitiger Klage die Weitergewährung des Hilflosenzuschusses über den 31.3.1993 hinaus. Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies - insoweit rechtskräftig - das Klagebegehren auf Hilflosenzuschuß für die Zeit vom 1.4. bis 30.6.1993 ab. Es gab aber dem Klagebegehren insofern statt, als es dem Kläger ab 1.7.1993 das Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 zuerkannte. Das Erstgericht stellte eine Besserung im Zustand des Klägers insofern fest, als er nunmehr wieder imstande sei, mit einem Stock das Haus zu verlassen. Er habe nach wie vor massive Gangstörungen, längeres Stehen könnte zu Schwierigkeiten und Stürzen führen. Danach benötige er fremde Hilfe für die Wohnungsreinigung, die Besorgung der Wäsche, die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, Mobilitätshilfe im weiteren Sinn, insbesondere für Wege zum Arzt und zu Behörden und für die gründliche Körperreinigung (Duschen bzw Baden).

In rechtlicher Würdigung dieses Sachverhalts verneinte das Erstgreicht zwar das Vorliegen einer Hilflosigkeit nach § 105a ASVG für die Zeit bis 30.6.1993 im Sinne der bisherigen Judikatur, kam aber zu dem Ergebnis, daß der Kläger ab 1.7.1993 die Voraussetzungen für die erste Stufe des Pflegegelds nach dem BPGG habe, weil sein Pflegebedarf 55 Stunden monatlich betrage und damit über dem in § 4 Abs 2 BPGG genannten Wert liege. Bei dieser Berechnung sei der in der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz (EinstV) für den täglichen Körperpflegeaufwand vorgesehene Zeitaufwand von zweimal 25 Minuten halbiert worden, weil der Kläger die einfache Körperpflege selbst durchführen könne und nur zum Baden und Duschen fremder Hilfe bedürfe.

Das Berufungsgericht gab der nur von der Beklagten erhobenen Berufung nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen des gerügten Verfahrensmangels und trat auch der erstgerichtlichen Beweiswürdigung bei. Im Hinblick darauf, daß der Kläger auch über Inkontinenzstörungen klage, die ihn außer Haus sogar zum Tragen von Binden nötigen, sei die gutachterliche Beurteilung ungeachtet der Argumente der Beklagten nachvollziehbar, daß beim Kläger ein tägliches Baden geboten sei. In Beantwortung der Rechtsrüge führte das Berufungsgericht aus, aufgrund der festgestellten Geh- und Stehprobleme des Klägers mit Sturzgefahr bestehe kein Widerspruch zwischen der Feststellung, daß er zwar mit einem Stock das Haus verlassen und auch im Garten gewisse Verrichtungen ausführen könne, mit der weiteren Feststellung, daß er für Wege zum Arzt und zu Behörden eine Begleitperson benötige. Es sei auch nicht zutreffend, daß die Hilfe beim Baden im Rahmen der Mobilitätshilfe mitberücksichtigt wäre, weil die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn nur die damit gemeinten Hilfen abdecke und mit 10 Stunden pauschaliert sei. Der Hilfsaufwand, den der Kläger zusätzlich für die Körperpflege in Anspruch nehmen müsse, sei dabei nicht mitberücksichtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Zunächst ist klarzustellen, daß Gegenstand des Verfahrens nicht die Frage ist, ob dem Kläger der Hilflosenzuschuß mit Recht entzogen wurde, weil die Abweisung des auf Weitergewährung des Hilflosenzuschusses über den 31.3.1993 hinaus gerichteten Klagebegehrens durch das Erstgericht in Rechtskraft erwachsen ist. Zu prüfen ist daher lediglich, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes nach dem am 1.7.1993 in Kraft getretenen BPGG erfüllt. Ein Vergleich mit den seinerzeitigen, zur Gewährung des Hilflosenzuschusses führenden Sachverhaltsgrundlagen hat daher nicht stattzufinden.

Unbestritten ist, daß der Kläger Hilfe bei der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, bei der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie bei der Pflege der Leib- und Bettwäsche benötigt. Für jede dieser Hilfsverrichtungen ist nach § 2 Abs 3 der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz, BGBl 1993/314 (EinstV) ein - auf einen Monat bezogener - fixer Zeitwert von 10 Stunden anzunehmen. Strittig ist lediglich, inwieweit der Kläger Betreuung bei täglicher Körperpflege und Mobilitätshilfe im weiteren Sinn bedarf, weil nur dadurch ein Pflegebedarf von mehr als 50 Stunden monatlich begründet werden könnte.

Unter Betreuung sind nach § 1 Abs 1 EinstV alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Zu diesen Verrichtungen zählen nach Abs 2 insbesondere auch solche bei der Körperpflege und bei der Mobilitätshilfe im engeren Sinn. Für tägliche Körperpflege werden nach Abs 4 zeitliche Mindestwerte von zweimal 25 Minuten täglich festgelegt. Unter Hilfe sind nach § 2 Abs 1 EinstV aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind. Zu diesen Hilfsverrichtungen gehört die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn (Abs 2). Die unter dem Begriff Mobilitätshilfe gemeinten Verrichtungen werden von der EinstV also zum Teil der Betreuung, zum Teil aber der Hilfe zugeordnet. Was unter Mobilitätshilfe im engeren und solcher im weiteren Sinn verstanden werden soll, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Zur Betreuung können Maßnahmen der Mobilitätshilfe nur gehören, wenn deren Unterbleiben den pflegebedürftigen Menschen der Verwahrlosung aussetzte (§ 1 Abs 1 EinstV). Diese Gefahr sah der Verordnungsgeber offenbar beim Unterbleiben von folgenden Verrichtungen als gegeben an: Aufstehen und Zubettgehen, Umlagern, Stehen und Treppensteigen, also bei allen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Ortswechseln im häuslichen Bereich sowie bei allen im Ablauf des täglichen Lebens vorkommenden Lagewechseln, weiters bei der Hilfe beim An- und Ablegen von Körperersatzstücken, die der Förderung der Mobilität dienen. Dieser Katalog ist daher auf den häuslichen Bereich ausgerichtet. Der diesbezügliche Bedarf ist im konkreten Einzelfall festzustellen. Ein fixer Zeitwert von 10 Stunden monatlich ist dagegen für jene Mobilitätshilfe "im weiteren Sinn" zu veranschlagen, die im Sinne des § 2 Abs 1 EinstV zur Sicherung der Existenz erforderlich ist. Nach der offenkundigen Auffassung des Verordnungsgebers zählen dazu insbesondere die Begleitung zum Arzt oder zur Therapie. Auch die Beschaffung notwendiger Bedarfsgüter des täglichen Lebens ist wohl hier zu subsumieren, es muß sich aber um Gegenstände handeln, die nicht bereits einer anderen Gruppe von Hilfsverrichtungen zugeordnet sind wie zB Nahrungsmittel, Medikamente oder Heizmaterial. Überdies muß die Anwesenheit des Pflegebedürftigen etwa im Geschäftslokal selbst erforderlich sein, was etwa bei der Anschaffung neuer Schuhe, neuer Brillen usw der Fall wäre. In der Sache geht es also um die Begleitung der pflegebedürftigen Person bei unbedingt erforderlichen Verrichtungen außer Haus. Hier ist es offenkundig zu einer gewissen Erweiterung im Vergleich zur bisherigen Praxis gekommen (vgl Pfeil, Pflegebedürftigkeit als Rechtsproblem, dritter Teil, Abschnitt 2, III.3.5.4 - in Druck).

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß Verrichtungen bei der Körperpflege (§ 1 Abs 2 EinstV) oder bei der täglichen Körperpflege (§ 1 Abs 4 EinstV) schon begrifflich nicht zur Mobilitätshilfe im weiteren Sinn gerechnet werden können. Zutreffend verweist die Revisionswerberin aber auf den den Feststellungsbereich betreffenden Widerspruch, daß der Kläger einerseits infolge Besserung seiner Gehfähigkeit mit einem Stock wieder das Haus verlassen kann, andererseits - ohne jede nähere Umschreibung - Mobilitätshilfe im weiteren Sinn benötigt. Die Feststellung, der Kläger benötige Mobilitätshilfe im weiteren Sinn, reicht nicht aus, weil damit ein rechtlicher Begriff umschrieben wird, dessen Vorliegen mangels jeglicher Tatsachenfeststellungen nicht überprüft werden kann. Diesbezüglich erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.

Der Senat hat bereits wiederholt ausgesprochen (10 Ob S 139/94, 10 Ob S 143/94 ua), daß zu den in § 1 Abs 2 EinstV genannten Verrichtungen bei der Körperpflege auch solche im Zusammenhang mit einem Vollbad in der Badewanne gehören. Dabei wurde betont, daß ein zweimaliges Wannenbad pro Woche als ausreichend anzusehen ist, wenn nicht eine medizinische Indikation häufigeres Baden erforderlich machen würde, weil im allgemeinen ein Pflegebedürftiger auch dann nicht der Verwahrlosung ausgesetzt wäre, wenn er pro Woche nur zwei Wannenbäder nehmen könnte. Damit fällt aber ein Wannenbad nicht unter den Begriff der "täglichen" Körperpflege im § 1 Abs 4 EinstV, wenngleich sich die Bewertung des Betreuungsaufwandes an den dort angeführten Werten zu orientieren hat und mit etwa 25 Minuten pro Wannenbad angenommen wurde. Das vom Berufungsgericht ins Treffen geführte Argument, der Kläger leide an Inkontinenzstörungen, so daß tägliches Baden geboten sei, findet in den Feststellungen des Erstgerichtes keine Deckung, wurde aber offenbar unterstellt, weil sonst der Betreuungsaufwand von 15 Stunden für die gründliche Körperreinigung beim Duschen bzw Baden nicht erklärlich wäre. Insoweit liegt ebenfalls ein Feststellungsmangel vor, der einer abschließenden rechtlichen Beurteilung entgegensteht. Es wird im fortgesetzten Verfahren insbesondere festzustellen sein, ob der Kläger tatsächlich an Inkontinenz leidet, welche Betreuungsmaßnahmen damit verbunden sind (nach § 1 Abs 3 EinstV ist für die Reinigung bei inkontinenten Patienten ein Richtwert von viermal 10 Minuten täglich angenommen), und ob trotz der üblichen Reinigung von inkontinenten Patienten ein tägliches Vollbad in der Wanne (oder etwa tägliches Duschen) medizinisch indiziert ist. Auch das Berufungsgericht hat - infolge Entscheidung in nichtöffentlicher Sitzung ohne Beweiswiederholung oder Beweisergänzung - keine ergänzenden Feststellungen getroffen, sondern in seiner Behandlung der Beweisrüge lediglich ausgeführt, die "gutachterliche Beurteilung", daß beim Kläger ein tägliches Baden geboten sei, sei nachvollziehbar. Über die medizinische Notwendigkeit eines täglichen Wannenvollbades hat sich aber keiner der in erster Instanz vernommenen Sachverständigen ausdrücklich geäußert. Dabei ist schließlich auch zu beachten, daß nach § 3 EinstV Pflegebedarf insoweit nicht anzunehmen ist, als die notwendigen Verrichtungen von Anspruchswerber durch die Verwendung einfacher Hilfsmittel selbständig vorgenommen werden können oder könnten und ihm der Gebrauch dieser Hilfsmittel mit Rücksicht auf seinen physischen und psychischen Zustand zumutbar ist. Ein Betreuungsbedarf bei der Körperreinigung ist beispielsweise dann nicht anzunehmen, wenn der Betroffene zwar keine Badewanne benützen kann, aber in der Lage ist, auf einem Duschsessel Platz zu nehmen und sich sitzend zu reinigen (Pfeil aaO 4.1.2 unter Bezugnahme auf die - nicht veröffentlichten - Erläuterungen zur EinstV). Auch dazu werden ergänzende Feststellungen getroffen werden müssen.

Der Revision war daher im aufgezeigten Umfang Folge zu geben.

Kosten des Rechtsmittelverfahrens wurden nicht verzeichnet.

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