OGH 11Os25/93

OGH11Os25/9318.5.1993

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Mai 1993 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Rzeszut als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Reisenleitner, Dr. Hager, Dr. Mayrhofer und Dr. Ebner als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Hautz als Schriftführer, in der Strafsache gegen Dr. Michael B* wegen des Vergehens der üblen Nachrede nach dem § 111 Abs. 1 und 2 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz vom 28. Februar 1991, AZ 9 Bs 330/90, soweit Dr. Michael B* darin in teilweiser Stattgebung der Berufung des Privatanklägers Dr. Hartmut R* des Vergehens der üblen Nachrede nach dem § 111 Abs. 1 und 2 StGB schuldig erkannt wurde, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Generalanwaltes Dr. Hauptmann, und des Verteidigers Dr. Mory, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten und des Privatanklägers, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1993:E34442

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Strafsache gegen Dr. Michael B* wegen des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs. 1 und 2 StGB und eines weiteren Deliktes, AZ 15 E Vr 278/87 des Landesgerichtes Salzburg, ist durch das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz vom 28. Februar 1991, 9 Bs 330/90, soweit Dr. Michael B* darin in teilweiser Stattgebung der Berufung des Privatanklägers Dr. Hartmut R* des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs. 1 und 2 StGB schuldig erkannt wurde, das Gesetz in der Bestimmung des § 111 Abs. 1 StGB verletzt.

Gemäß § 292 letzter Satz StPO wird dieses Urteil, das nur in der Teilabweisung der Berufung des Privatanklägers Dr. Hartmut R* und im Ausspruch über dessen daraus resultierende Kostenersatzpflicht unberührt bleibt, im übrigen aufgehoben, und es wird gemäß § 288 Abs. 2 Z 3 StPO in der Sache selbst erkannt:

Der Berufung des Privatanklägers Dr. Hartmut R* wird auch insoweit, als sie gegen den Freispruch des Angeklagten Dr. Michael B* vom Vorwurf des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs. 1 und 2 StGB gerichtet ist, nicht Folge gegeben.

Gemäß dem § 390 a Abs. 1 StPO fallen dem Privatankläger Dr. Hartmut R* auch die hierauf bezüglichen Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

 

Gründe:

 

Mit dem oben bezeichneten Urteil vom 28. Februar 1991 (GZ 15 EVr 278/87‑46 des Landesgerichtes Salzburg) hob das Oberlandesgericht Linz in teilweiser Stattgebung der Berufung des Privatanklägers Dr. Hartmut R* das Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes Salzburg vom 17. September 1990, GZ 15 E Vr 278/87‑40, im freisprechenden Teil, im darauf bezüglichen Kostenausspruch und in der auf § 39 Abs. 2 MedienG gegründeten Ermächtigung auf, erkannte den Angeklagten Dr. Michael B* des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs. 1 und 2 StGB schuldig und verhängte deswegen über ihn eine für eine einjährige Probezeit bedingt nachgesehene Geldstrafe von fünfzig Tagessätzen zu je 400 S (Ersatzfreiheitsstrafe fünfundzwanzig Tage). Damit verband es Aussprüche nach § 389 Abs. 1, 390 a Abs. 1 StPO sowie nach §§ 6 Abs. 1, 34 Abs. 1 und 35 Abs. 1 MedienG. Der Berufung des Privatanklägers in Ansehung des (wegen des eintätigen Zusammentreffens des formell verfehlten) Freispruches Dris. Michael B* vom Vorwurf des Vergehens der Kreditschädigung nach § 152 Abs. 1 StGB wurde hingegen unter Ausspruch der insoweit für die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bestehenden Ersatzpflicht des Privatanklägers nicht Folge gegeben.

Dem erst im Berufungsverfahren gefällten Schuldspruch zufolge hatte Dr. Michael B* in Z* in der BLIZ‑NOTIZ Nr 16 vom Jänner 1987, sohin in einem Druckwerk, den Rechtsanwalt Dr. Hartmut R* in einer für einen Dritten wahrnehmbaren Weise eines unehrenhaften Verhaltens beschuldigt, das geeignet war, ihn in der öffentlichen Meinung herabzusetzen, indem er ihn zu Unrecht einer schuldhaft fehlerhaften Vertretung der Privatbeteiligten Firma F* in einem gerichtlichen Strafverfahren bezichtigte.

Die inkriminierte Veröffentlichung (S 4 des Druckwerks) lautet wie folgt: "Was bei diesem Prozeß auch sehr aufgefallen ist, war die auffällige Zurückhaltung des 'Privatbeteiligten F*'. Die F* müßte doch auch äußerst daran interessiert sein, fast eine Million verluderter Steuergelder zurückzubekommen. Diesen Anschein erweckte Frau Dr. N.N., Konzipientin im Büro Dr. R* ganz und gar nicht. Diesem Faktum wird die B* verstärktes Augenmerk widmen! Warum entsandte die F* in einem derart schwierigen Fall eine juristische Anfängerin?".

Nach den dem Schuldspruch zugrundeliegenden Feststellungen, die nur zum Teil mit dem erstgerichtlichen Urteilssachverhalt übereinstimmen (siehe auch die berichtigenden und ergänzenden Feststellungen des Berufungsgerichtes AS 258 ff), ist Dr. Michael B* Obmann der Bürgerliste Z* (B*), Verein zur Erhaltung der Umwelt und Demokratisierung aller Lebensbereiche, und seit 1984 als deren Repräsentant auch Gemeindevertreter in der Stadtgemeinde Z*. Er nimmt seine Tätigkeit als Gemeindemandatar sehr ernst und fühlt sich dazu berufen, Mißstände, besonders im kommunalen Bereich, aufzuzeigen und deren Beseitigung zu erreichen. Insbesondere war er seit März 1985 bestrebt, den "Finanzskandal" bei der Firma F* aufzuklären. Er beantragte in diesem Zusammenhang die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und stellte eine Vielzahl von Anfragen im Gemeinderat. In zahlreichen Ausgaben des viermal jährlich erscheinenden Druckwerks der Bürgerliste Z* B* erfolgten diesbezügliche Berichte. Dr. Hartmut R*, Rechtsanwalt in Salzburg, war ihm nicht nur als Vertreter der Firma F*, sondern auch aus mehreren gerichtlichen Privatanklageverfahren bekannt, in welchen Dr. R* die Gegenseite vertrat. Aus diesen Prozessen schöpfte der Angeklagte, der Handelswissenschaft studiert hatte und an der Handelsakademie und der Bundeshandelsschule Z* Staatsbürgerkunde unterrichtet, eine gewisse Prozeßerfahrung.

Die Unregelmäßigkeiten bei der Firma F* führten unter anderem zu dem Strafverfahren AZ 15 Vr 1214/85 des Landesgerichtes Salzburg gegen eine ihrer Angestellten, welches mit deren Verurteilung wegen des Verbrechens der Veruntreuung nach § 133 Abs. 1 und 2 zweiter Fall StGB, begangen in der Zeit zwischen dem 26. Februar 1983 und 11. März 1985 durch Zueignung anvertrauten Bargeldes der Firma F* in der Gesamthöhe von 259.271 S endete. Dieser Betrag wurde der Privatbeteiligten Firma F* gemäß § 369 Abs. 1 StPO zugesprochen. Vom Vorwurf weiterer Malversationen im Volumen von insgesamt 182.126,71 S wurde die Angeklagte freigesprochen. Die Firma F* war in der fast ganztägigen Hauptverhandlung am 19. Dezember 1986 in dieser Strafsache durch Dr. Ulrike H*, eine Konzipientin des Rechtsanwaltes Dr. R*, vertreten. Diese hatte in der Zeit vom 1. Juni 1984 bis 28. April 1985 ihre Gerichtspraxis absolviert und seither in mehreren Rechtsanwaltskanzleien in der Stadt Salzburg als Konzipientin gearbeitet. Sie war Dr. B*, der die Hauptverhandlung besuchte und ihren Verlauf sowie die Tatsache, daß die Privatbeteiligtenvertreterin nur eine einzige Frage stellte, zum Zwecke späterer Information der Z* Gemeindebürger festhielt, nicht bekannt. Ihren Namen hatte er, als er zu Beginn der Hauptverhandlung gefallen war, nicht verstanden.

Obwohl Dr. B* bereits einmal einen Prozeß mit Privatbeteiligung miterlebt hatte, verfügte er über keine konkreten Kenntnisse über die dem Privatbeteiligtenvertreter zukommenden Aufgaben. Er war der Meinung, ein solcher müßte durch Ausschöpfung sämtlicher im Verfahren vorgeführter Beweismittel auch eine Basis dafür schaffen können, um in der Folge Forderungen, die nicht Gegenstand des gerichtlichen Anschlußverfahrens waren, leichter auf dem Zivilrechtsweg durchsetzen zu können. Er war, obwohl die Angeklagte und die Zeugen durch das Gericht und den Staatsanwalt einer intensiven Befragung unter zahlreichen Vorhalten unterzogen worden waren, der Ansicht, Dr. Ulrike H* hätte als Privatbeteiligtenvertreterin noch zahlreiche Fragen zu stellen gehabt. Auf Grund dieses Verhaltens und des jugendlichen Aussehens Dris. H* gewann er den Eindruck, diese agiere deshalb so unsicher, weil sie mit der schwierigen Materie überfordert sei. In einer Prozeßpause bestätigte ihn ein anderer Journalist in dieser subjektiven Einschätzung. Über diese Modalitäten der Privatbeteiligtenvertretung berichtete Dr. B* in der B* in der bereits zitierten Form. Er wollte hiedurch aufzeigen, daß Dr. Hartmut R* die Firma F* als Privatbeteiligte im Strafverfahren durch ihm anzulastende fehlerhafte Auswahl einer damit überforderten Person für die Verrichtung der Hauptverhandlung "in einer minderen Weise" vertreten habe. Tatsächlich war Dr. H* ihrer Rolle im Verfahren aber durchaus gewachsen gewesen und hatte in keiner anderen Weise agiert, als dies derartige Parteienvertreter in der Regel zu tun pflegen.

In rechtlicher Hinsicht führte das Berufungsgericht aus, das Recht zur freien Meinungsäußerung komme auch einem Journalisten nur zustatten, wenn er in kompetenter Weise sachbezogene Kritik in angemessener Ausdrucksweise übe. Dr. B* habe es an der entsprechenden Kompetenz und seiner Kritik daher an Sachbezogenheit gefehlt, weil er auf Grund unrichtiger Vorstellungen von den Möglichkeiten eines Privatbeteiligten lediglich aus der (angeblichen) relativen Untätigkeit der Privatbeteiligtenvertreterin im Zusammenhang mit ihrem jugendlichen Aussehen auf ihre Unsicherheit und Überforderung geschlossen habe. Dr. B* habe auch seiner journalistischen Sorgfaltspflicht nicht genügt, weil er sich nicht hinreichend sachkundig gemacht und auch keine kompetente Stelle über die Richtigkeit seines subjektiven Eindrucks befragt habe. Ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Veröffentlichung sei außerdem zu verneinen.

Mit Beschluß vom 25. Juni 1992, der mangels Zustellung an den Privatankläger noch nicht rechtskräftig ist, sprach das Landesgericht Salzburg die endgültige Strafnachsicht aus (ON 64). Dessenungeachtet ist bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte ein Verfahren über die von Dr. Michael B* am 28. Juni 1991 wegen Verletzung seines Rechtes auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 Abs. 1 MRK erhobene Beschwerde anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Den Ausführungen der Generalprokuratur in der Nichtigkeitsbeschwerde ist beizupflichten:

Das dem Schuldspruch zugrundeliegende Verhalten des Angeklagten Dr. B* ist dem Tatbestand des § 111 Abs. 1 StGB bei verfassungskonformer ‑ insbesondere an Art 10 MRK orientierter ‑ Auslegung nicht zu unterstellen: Kritik an Leistungen, Entscheidungen und Erklärungen anderer, wie beispielsweise an wissenschaftlichen Arbeiten, Gerichtsurteilen, künstlerischen oder literarischen Werken bedeutet freie Meinungsäußerung, auf die gemäß Art 10 Abs. 1 MRK jedermann ‑ grundsätzlich (vgl Abs. 2 dieser Konventionsbestimmung) ‑ Anspruch hat (vgl Art 13 des Staatsgrundgesetzes über die Allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl Nr 142; Art 6 Abs. 1 des Staatsvertrages von Wien, BGBl 152/1955, und Art 19 des Weltmenschenrechtspaktes, BGBl 591/1978). Ob sich der sachlich Kritisierte irritiert oder verletzt fühlt, ist unmaßgeblich (Kienapfel, BT I3, Vorbem §§ 111 ff StGB, RN 11 f). An der Tatbildmäßigkeit fehlt es auch einem auf unbestrittene oder erwiesene, wenigstens aber auf gutgläubig behauptete Tatsachen gestützten Werturteil (EvBl 1987/126; siehe auch Kienapfel, aaO). Solche Werturteile, die keinen Wahrheitsbeweis zulassen (vgl insbesondere Lingens‑Urteil, MR 1986/4, 11; Oberschlick‑Urteil, EvBl 1991, 641 sowie das auszugsweise im "Newsletter" des Österreichischen Instituts für Menschenrechte 1992/5/13 ‑ GH wiedergegebene Urteil des EGMR vom 28. August 1992 im Fall Schwabe gegen Österreich, A/242‑B) und die daher ‑ im Gegensatz zu den ihnen zugrundeliegenden Tatsachen (vgl Mayerhofer‑Rieder, Nebenstrafrecht3 Anm 1 zu § 29 MedienG) ‑ auch für den Nachweis der Aufwendung gebotener journalistischer Sorgfalt nicht in Betracht kommen, sind daher sorgfältig von Fakten zu unterscheiden (vgl erneut die Ausführungen des EGMR im Lingens‑Urteil). Dies auch dann, wenn sie in engem Zusammenhang mit Tatsachenmitteilungen geäußert werden. Im Lichte der jedermann garantierten Meinungsfreiheit kann das Recht zur kritischen Bewertung von Tatsachen auch nicht allein jenen vorbehalten bleiben, die mit hinlänglicher Fachkompetenz ausgestattet sind: "Die Meinung eines Außenseiters, Querdenkers oder Dilettanten ist ebenso zu respektieren wie die eines Experten" (Kienapfel aaO, RN 13). Tatbildlich sind jedoch Wertungsexzesse, das heißt durch ein überzogenes Werturteil ehrverletzende Kritik, formale Ehrenbeleidigungen, bei denen sich die Ehrverletzung schon aus der Form der Äußerung ergibt, und solche abfällige Werturteile, die wegen des Fehlens eines entsprechenden Sachverhaltssubstrats jenseits sachlicher Kritik liegen (Kienapfel aaO, RN 8, 14‑17, sowie ‑ speziell zur politischen Kritik ‑ RN 23 und 24).

Ein Werturteil ist ‑ der Beschwerde weiter folgend ‑ in den inkriminierten Äußerungen vor allem insoweit enthalten, als sie zum Ausdruck bringen, die als Privatbeteiligtenvertreterin in der Hauptverhandlung auftretende Konzipientin der Rechtsanwaltskanzlei Dr. R* habe "ganz und gar nicht" den Anschein äußersten Interesses der Privatbeteiligten an der Rückerlangung fast einer Million "verluderter Steuergelder" erweckt. Dieses (Un‑)Werturteil über die Durchführung der Privatbeteiligtenvertretung, das objektiv auch auf den in diesem Zusammenhang namentlich genannten Rechtsanwalt bezogen werden kann und ihn nach der vom Berufungsgericht festgestellten Absicht Dris. B* auch tatsächlich treffen sollte, entbehrt keineswegs eines Sachverhaltssubstrats, sondern steht in erkennbarem Zusammenhang mit der zunächst als auffällig bezeichneten "Zurückhaltung" der Privatbeteiligten, also der vermeintlichen Passivität ihrer Vertreterin. Soweit die Privatbeteiligtenvertreterin als "juristische Anfängerin" (deren "Entsendung durch die Privatbeteiligte" in einem derart schwierigen Fall fragwürdig erscheinen müsse) bezeichnet wird, wird gleichfalls an ihr Prozeßverhalten, sohin an ein reales Geschehen, ein Werturteil geknüpft.

Daß der Angeklagte bei der Wiedergabe des tatsächlichen Prozeßgeschehens wenigstens gutgläubig handelte, steht auch dem Berufungsurteil zufolge fest. Wird doch in der Begründung des Schuldspruches darauf hingewiesen, daß die Wiedergabe dem subjektiven Eindruck entsprach, den der Angeklagte mangels konkreter Kenntnisse über die Aufgaben eines Privatbeteiligtenvertreters und über Einzelheiten des Vertretungsauftrages auf Grund des Verhaltens der jugendlich aussehenden Privatbeteiligtenvertreterin in der Hauptverhandlung selbst gewann und sich von einem anderen Journalisten noch bestätigen ließ (US 9). Da die Werturteile, die demnach auf wenigstens gutgläubigen Tatsachenbehauptungen beruhen, keinesfalls als formale Ehrenbeleidigung geäußert wurden, könnte die darin enthaltene Kritik nur dann als tatbildlich im Sinne des § 111 Abs. 1 StGB beurteilt werden, wenn ein Wertungsexzeß vorläge, die Äußerungen mithin als völlig unverhältnismäßig überzogen anzusehen wären oder jedes Maß an Sachlichkeit vermissen ließen.

Davon kann aber hier nicht die Rede sein: Bei der Grenzziehung zwischen zulässiger und exzessiver Kritik an einem in einer öffentlichen Hauptverhandlung gesetzten Prozeßverhalten darf nicht übersehen werden, daß die grundsätzlich (Art 90 Abs. 1 B‑VG; Art 6 Abs. 1 MRK; §§ 228 ff StPO) gebotene Öffentlichkeit der Hauptverhandlung ua durch ihre Kontroll‑ und Präventivfunktion (vgl EvBl 1982/41) das Verantwortungsbewußtsein der Rechtspflegeorgane stärken soll und damit dem ‑ auch gemäß Art 10 Abs. 2 MRK zu gewährleistenden ‑ Ansehen der Rechtsprechung dient. Diese Kontrollfunktion kann aber nur wirksam werden, wenn an Vorgängen der öffentlichen Hauptverhandlung ebenso öffentlich, insbesondere durch die Presse, Kritik selbst in Form scharfer und subjektiv gefärbter Werturteile geäußert werden darf, und zwar nicht nur an Rechtspflegeorganen, sondern ‑ in Anbetracht ihrer Bedeutung für eine geordnete Strafrechtspflege ‑ jedenfalls auch an berufsmäßigen Vertretern von Beteiligten. Dies muß umsomehr für solche Verfahren gelten, in denen ‑ wie vorliegend ‑ Interessen der Allgemeinheit betroffen sein können. Mehr noch als andere an die Öffentlichkeit gelangende Arbeiten wissenschaftlicher Natur müssen in einem solchen Strafverfahren erbrachte juristische Leistungen der allgemeinen und nach dem oben Gesagten nicht auf Expertenmeinungen beschränkbaren Kritik zugänglich bleiben. Eine allzu enge Ziehung der Grenzen zulässiger Wertung würde der Bedeutung der freien Meinungsäußerung als einer der wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Gesellschaft nicht gerecht, wenn es auch Fälle gibt, in denen eine Beschränkung ‑ insbesondere im Interesse des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer ‑ unentbehrlich ist (Art 10 Abs. 2 MRK).

Die ‑ im Einzelfall zu prüfende (12 Os 24,25/92 mit Bezugnahme auf Ermacora, Grundriß der Menschenrechte in Österreich, Rz 681 f) ‑ Notwendigkeit einer Beschränkung der freien Meinungsäußerung ist hier umsomehr zu verneinen, als der Vorwurf der Passivität und des Desinteresses an der Erlangung von Ersatz für "verluderte Steuergelder" ‑ mag er auch den Privatbeteiligtenvertreter Dr. R* in die Kritik miteinbeziehen ‑ sich vor allem gegen die Privatbeteiligte selbst richtet und jedenfalls keine eindeutige Anschuldigung in sich schließt, Dr. R* habe die übernommene Privatbeteiligtenvertretung bewußt vernachlässigt oder in Verletzung der Treue zu seinem Mandanten geführt. Zum Schutz seines guten Rufes war es daher nicht erforderlich, die öffentliche Kritik an der vermeintlich allzu passiven Art der Vertretung der Privatbeteiligten im Strafprozeß als Vergehen der üblen Nachrede nach § 111 Abs. 1 (und 2) StGB strafrechtlich zu ahnden. Der in teilweiser Stattgebung der Berufung des Privatanklägers ergangene Schuldspruch verletzt daher zum Nachteil des Angeklagten (§ 292 letzter Satz StPO) das Gesetz in der Bestimmung des § 111 Abs. 1 StGB (iVm Art 10 Abs. 1 MRK).

Der von der Generalprokuratur gemäß dem § 33 Abs. 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher stattzugeben und ‑ unter endgültiger Wiederherstellung des umfassenden Freispruchs des Angeklagten laut erstinstanzlichem Urteil (zu dem lediglich festzuhalten ist, daß sich die dort ausgesprochene Kostenersatzpflicht des Privatanklägers richtig auf § 390 Abs. 1 StPO gründet) und des darauf beruhenden Ausspruchs nach § 39 Abs. 2 MedienG wie im Spruch zu erkennen (§§ 288 Abs. 2 Z 3, 292 StPO).

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