European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1985:0080OB00587.85.0711.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
Die am *1974 geborene Sonja A* ist österreichische und deutsche Staatsangehörige. Sie entstammt der Ehe des in Österreich wohnhaften österreichischen Staatsangehörigen Erich A* mit der in der BRD wohnhaften deutschen Staatsangehörigen Rosina B*. Die Ehe der Eltern wurde mit Urteil des Landesgerichtes Traunstein vom 19. 7. 1976, 3 R 1502/76, geschieden. Mit Beschluß des Amtsgerichtes Laufen vom 16. 11. 1976 wurde die elterliche Gewalt über das Kind zunächst der Mutter übertragen. Mit Beschluß vom 10. 3. 1980, F 174/78, übertrug das Amtsgericht Laufen in Abänderung seines ursprünglichen Beschlusses die elterliche Sorge über das Kind dem Vater. Das Kind befand sich seit Weihnachten 1979 beim Vater in Österreich und wuchs hier im Haushalt des Vaters auf. Ein am 26. 3. 1982 gestellter Antrag der Mutter, ihr die Elternrechte zu übertragen, wurde vom Bezirksgericht Scheibbs mit Beschluß vom 17. 12. 1982 abgewiesen (ON 18); ein gegen diese Entscheidung erhobener Rekurs der Mutter blieb erfolglos (ON 23). Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 11. 4. 1984 (ON 36) wurde der Mutter ein Besuchsrecht für die Dauer von 4 Wochen während der Sommerferien und für die Zeit vom 25. 12. bis 2. 1. jedes Jahres eingeräumt; die Mutter wurde ermächtigt, das Kind während dieser Besuchszeiten zu sich zu nehmen.
Nach Ausübung des Sommerbesuchsrechtes 1984 brachte die Mutter das Kind nicht mehr zum Vater zurück. Mit einer am 14. 9. 1984 beim Erstgericht eingelangten Eingabe stellte sie den Antrag, ihr das Sorgerecht für ihre Tochter zu übertragen (ON 53).
Das Erstgericht ordnete über Antrag des Vaters mit Beschluß vom 7. 8. 1984 (ON 38) zunächst die Abnahme des Kindes von der Mutter und die Übergabe an den Vater an; ein von der Mutter gegen diesen Beschluß erhobenes Rechtsmittel blieb erfolglos (ON 44). In der Folge ordnete das Erstgericht mit Beschluß vom 24. 8. 1984 (ON 45) an, daß mit dem Vollzug des Beschlusses ON 38 innezuhalten sei.
Mit Beschluß vom 24. 10. 1984 (ON 61) übertrug das Erstgericht die Elternrechte nach § 144 ABGB der Mutter.
Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Wenngleich die äußeren Verhältnisse in der Familie des in zweiter Ehe verheirateten Vaters geordnet sind, konnte die minderjährige Sonja Gefühle von Zurücksetzung und Eifersucht gegenüber ihrem derzeit fünfjährigen Halbbruder nicht überwinden und ist es ihr nicht gelungen, zur Gattin des Vaters eine stabile und vorbehaltslose Beziehung zu finden. Die minderjährige Sonja fühlte sich „in dieser Familie irgendwie ausgeschlossen“. Sie legte diese Haltung von Anfang an an den Tag; dies konnte vom Vater und seiner Gattin nicht geändert werden. Obwohl die Mutter nur ein Weihnachts‑ und Sommerbesuchsrecht zu ihrer Tochter hatte, ist trotz des 5 1/2‑jährigen Aufenthaltes des Kindes in der Familie des Vaters keine Entfremdung zur Mutter eingetreten und blieb es für das Kind stets ein Bedürfnis, die Mutter zu besuchen. Ihre Abneigung gegen die Gattin des Vaters brachte die Minderjährige auch schriftlich unter anderem in einem Brief an ihre Mutter zum Ausdruck, den sie um den Muttertag herum schrieb; ihre Zuneigung und Liebe zur Mutter ist aus allen übrigen Briefen des Kindes zu entnehmen.
Das Kind hat somit schon lange und nicht aus oberflächlichen Motiven heraus eine klare Präferenz für die Mutter. Seine Beziehung zu deren Gatten Heinz B* ist ebenfalls in Ordnung; gemeinsame Kinder des Ehepaares B* gibt es derzeit noch nicht. Die Wohnverhältnisse bei der Mutter sind sehr gut. Sie bewohnt mit ihrem Ehegatten in B* ein eigenes Haus mit Garten und Kinderzimmer.
Einer der ursprünglichen Gründe für die Zuteilung der Elternrechte an den Vater, nämlich der Alkoholismus der Mutter, ist seit 1982 nicht mehr nachgewiesen. Vielmehr liegt ein vom 15. 3. 1982 datiertes Attest eines Internisten in Traunstein vor, wonach sich die Mutter seit 7. 9. 1981 in seiner ständigen Behandlung befunden hat und ärztlicherseits keinerlei Hinweise auf weiteren Alkoholkonsum bestehen. Von einem ihrer Dienstgeber, der Gemeinde P*, wurde sie als „pünktlich, fleißig und gewissenhaft“ bezeichnet, aus welchem Grund ihr auch die Kassengeschäfte übertragen werden sollten. Sie hat ab 15. 8. 1984 eine Stelle als Bedienung im Hotel „D*“ mit einer Arbeitszeit abwechselnd von 7,30 bis 14,30 Uhr oder von 6 bis 10 Uhr in Aussicht. Sie und ihr Gatte sind wegen des Alkoholproblems in ständigem Kontakt mit der Caritasstelle für B*. Im Falle eines ständigen Verbleibes des Kindes in der Familie ist von Seiten der Caritas zugesagt, daß mindestens einmal in der Woche mit den Eheleuten der Kontakt aufrechterhalten wird, damit Schwierigkeiten rechtzeitig erkannt und behoben werden.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß die Mutter das Kind wohl zunächst widerrechtlich bei sich behalten habe, daß aber berücksichtigt werden müsse, daß es das Kind sei, das den Wechsel verlangt habe und daß dieser Wunsch des Kindes nicht einer augenblicklichen Laune entsprungen oder auf Verhetzung oder irgendwelche Versprechungen der Mutter zurückzuführen sei, sondern auf einen mehr oder weniger latenten Dauerkonflikt mit Gattin und Sohn des Vaters. Der Wille des Kindes sei zwar nicht allein für die Entscheidung maßgeblich, aber doch so weit berücksichtigungswürdig, als er nicht das Wohl des Kindes gefährde. Von einer Gefährdung des Wohles des Kindes durch den Weiterverbleib bei der Mutter könne aber nicht die Rede sein. Vielmehr würde die Rückkehr des Kindes zum Vater gegen seinen eigenen Willen erfolgen und nur den Dauerkonflikt mit der Familie des Vaters wieder aufleben lassen daher tatsächlich nachteilige Wirkungen für das Wohl des Kindes nach sich ziehen.
Dem gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs des Vaters gab das Rekursgericht mit dem angefochtenen Beschluß Folge. Es änderte die Entscheidung des Erstgerichtes im Sinne der Abweisung des Antrages der Mutter, ihr die elterlichen Rechte und Pflichten zu übertragen, ab.
Das Rekursgericht traf im wesentlichen folgende ergänzende Feststellungen:
Der Vater hat am 15. 7. 1978 seine jetzige Ehefrau Ehrentraud, geboren am 10. 7. 1958, geheiratet. Dieser Ehe entstammen zwei Söhne, und zwar Martin, geboren am *1978, und Erich, geboren am *1982. Bis 1982 hatte die Familie ihren Wohnsitz in W*. Seither bewohnt sie eine Wohnung im Haus der Eltern der Ehefrau in H*, in welchem Ort Erich A* als Gendarmeriebeamter Dienst versieht.
Aus einer Stellungnahme des Kinder‑ und Jugendpsychologischen Beratungsdienstes des Amtes der NÖ. Landesregierung vom 26. 8. 1982 geht hervor, daß Sonja in Österreich emotional stark verhaftet und in der Familie des Vaters gut integriert ist. Sie verfügt über tragfähige emotionale Bindungen zum Vater, zur Stiefmutter und auch zu ihrem jüngeren Halbbruder Martin, sodaß ein Wechsel zur Mutter für die Minderjährige eine psychische Entwurzelung bedeuten würde, da die vorhandenen emotionalen Bindungen an ihre Familie, die ihr emotionale Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, wegfallen würden. Zu der daraus resultierenden psychischen Belastung und Irritation käme hinzu, daß Sonja sich in einer neuen Umgebung einleben müßte, zu der sie keinen Bezug hat bzw. der sie sogar ablehnend gegenübersteht. Dazu kommt noch, daß Sonja durch die ambivalente Einstellung zur Mutter und durch die eher oberflächliche Beziehung zum Stiefvater kein ihrer psychischen Entwicklung zuträgliches emotionales Klima erleben kann. Eine derart gute emotionale Beziehung Sonjas zum Stiefvater, wie sie von diesem dargestellt wurde, erscheint nicht möglich, da die Minderjährige erst einige Wochen während ihrer Besuche bei der Mutter mit ihm verbracht hat und es nicht möglich erscheint, in dieser Zeit eine tragfähige emotionale Bindung aufzubauen, wie sie vom Stiefvater geschildert wird.
In einer weiteren Stellungnahme des Kinder‑ und Jugendpsychologischen Beratungsdienstes des Amtes der NÖ. Landesregierung vom 22. 3. 1984 ist festgehalten, daß Sonja ein körperlich altersentsprechend entwickeltes, äußerlich sehr ansprechendes Mädchen mit überdurchschnittlich guter intellektueller Begabung ist. Anfänglich ist sie im Kontakt eher zurückhaltend, aber gut zugänglich und emotional gut ansprechbar. Sie sagt, daß sie auf jeden Fall zu ihrer Mutter nach Deutschland fahren möchte, weil es ihr dort sehr gut gehe; sie könne dort mehr machen, aber das Wichtigste sei, daß sie dort eine sehr gute Freundin habe. Über Herrn B* könne sie sich „nicht beschweren“. Im weiteren Explorationsgespräch und in den projektiven Verfahren wird deutlich, daß die Minderjährige in der Familie des Vaters sehr gut integriert ist, sich momentan aber in einer emotionalen Auseinandersetzung mit Eltern‑ und Ersatzelternschaft befindet. Die Beziehung zu den beiden Halbgeschwistern erscheint als sehr innig.
Das Dienstverhältnis der Mutter bei der Gemeinde P* wurde von dieser zum 30. 6. 1983 aufgekündigt. Im Herbst 1984 war die Mutter als Serviererin im „D*“ beschäftigt. Dieses Lokal ist vom 1. 12. bis 28. 2. geschlossen. Am 1. 3. 1985 hat die Mutter dort wieder zu arbeiten begonnen.
Bei Schulbeginn im Herbst 1984 kam es zu erheblichen Problemen mit der minderjährigen Sonja. Aus dem Bericht des Kreisjugendamtes Berchtesgadener Land vom 8. 3. 1985 ergibt sich, daß Sonja bis zum 6. Lebensjahr in B* im Haushalt der Mutter und der mütterlichen Großmutter aufwuchs. Sie hat hier eine schöne Kindheit erlebt und diese Zeit in guter Erinnerung behalten. Bei dem Wohnungswechsel zum Vater gab es keine wesentlichen Probleme, aber Sonja hat in Erinnerung, daß sie gern in B* geblieben wäre und in der ersten Zeit beim Vater viel Heimweh hatte. Dann kamen die Stiefmutter und die Stiefgeschwister in den Lebensbereich und damit neue Schwierigkeiten. Nach der Schilderung Sonjas würde die Erinnerung an die Kindheit in B* und die dort erlebten Ferientage immer schöner und der Wunsch, zur Mutter zu kommen, immer größer, zumal sie keine allzu negative Erinnerung an die Mutter hatte. Die Freude hielt hier auch in den ersten Monaten an. Als das Leben zu Beginn der Schulzeit zum Alltag überging, kamen die ersten Schwierigkeiten: Die Eingewöhnung in der Schule, Meinungsverschiedenheiten mit der Mutter über die Freizeitgestaltung und dann – nach einer sehr langen Pause – der Rückfall der Mutter in ihr Alkoholproblem. Sonja hatte plötzlich keine Bindung mehr, keine Wünsche, wie sie sich ihr Leben vorstellen konnte. In Zusammenarbeit mit der Sozialarbeiterin der Caritas wurde Sonja im Kinderheim B* untergebracht. Die Heimunterbringung brachte für sie keine Schwierigkeiten, weil sie das Haus von einem kurzen Besuchsaufenthalte kannte. Es handelt sich um einen Bauernhof in M* in einer sehr ländlichen Umgebung mit gemischten Gruppen – Mädchen und Buben verschiedenen Alters –, die sich sehr frei entfalten können, von Fachkräften angeleitet werden, einen Teil der Hausarbeiten mit übernehmen und individuelle Freizeitgestaltung und Zusammenleben in der Gemeinschaft lernen. Am 2. 1. 1985 wurde mit der Mutter der Vertrag über die Heimunterbringung im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe vereinbart. Zu dieser Zeit war dem Jugendamt noch nicht bekannt, daß der Vater gegen den Beschluß des Erstgerichtes vom 24. 10. 1984 Rekurs erhoben hatte.
Sonja ist mit Erwartungen nach B* gekommen, die sich nicht nach ihren Vorstellungen erfüllen ließen. Durch viele Vernehmungen und Gespräche zur Klärung ihrer Situation hat sie jetzt jede Leitlinie verloren. Sie fühlt sich als ungeliebtes Kind und kann diese Gefühle ziemlich genau begründen. Sie bemüht sich immer wieder, um eine Klärung in ihrer Zuneigung und ihrer Vorstellung für die Zukunft zu finden. Raten und Führen ist hier sehr schwierig, weil sie das Gefühl für eine richtige Geborgenheit verloren hat.
In einem Bericht der psychologischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche Berchtesgaden vom 20. 3. 1985 wird ausgeführt, daß Sonja angibt, von Vater wie Mutter enttäuscht zu sein, die Enttäuschung der Mutter aber nicht so übel zu nehmen wie dem Vater. In der Beziehung zum Vater scheint doch eine erhebliche Störung eingetreten zu sein, die durch eine Rückkehr eher noch verschärft zu werden droht. Zwischen der Frau des Vaters und Sonja scheint eine tiefgreifende gegenseitige Ablehnung zu bestehen. Offensichtlich ist Sonja in heftiger Konkurrenz mit dieser Frau bezüglich des Vaters und sie kann es dem Vater nicht verzeihen, daß er nicht ihretwillen die Beziehung und Solidarität zu seiner Partnerin in Frage stellt.
Nach diesem Bericht sollte eine Änderung der Lebenssituation des Kindes zum gegenwärtigen Zeitpunkt vermieden werden.
Rechtlich führte das Rekursgericht im wesentlichen aus, daß die inländische Gerichtsbarkeit und die örtliche Zuständigkeit des Erstgerichtes gegeben sei und österreichisches Recht zur Anwendung zu kommen habe.
Eine einmal getroffene Regelung, welchem Elternteil alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) allein zustehen sollten, könne nicht bereits bei geringfügigen Änderungen der Interessenlage, sondern nur dann geändert werden, wenn das Wohl des Kindes gefährdet sei, wenn also besonders wichtige Gründe gegeben seien und eine Änderung dringend geboten erscheine.
Derartige Gründe lägen nicht vor. Es könne weder davon die Rede sein, daß die Weiterbetreuung der minderjährigen Sonja bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter ihr Wohl gefährden würde noch davon, daß es bei einer Betreuung bei der Mutter zu einer beachtlichen Verbesserung der Lage des Mädchens und seiner Zukunftserwartungen kommen werde. Dabei werde nicht verkannt, daß sich die minderjährige Sonja derzeit sich in einer schwierigen Situation befinde; mit derartigen Schwierigkeiten würden aber leider nahezu alle Kinder aus geschiedenen Ehen konfrontiert.
Daß die Erziehung der minderjährigen Sonja beim Vater gewisse Schwierigkeiten mit sich gebracht habe, ergebe sich insbesondere aus den wiedergegebenen Berichten. Es müsse als nahezu natürlich und selbstverständlich angesehen werden, daß der minderjährigen Sonja in ihrer Stiefmutter und ihren Halbgeschwistern Martin und Erich gleichsam Mitkonkurrenten gegenüber dem Vater erwachsen seien, welcher Umstand ihr offenbar in der letzten Zeit durch die altersbedingte Reifung besonders bewußt geworden und von ihr auch nachteilig empfunden worden sei. Es sei auch durchaus verständlich, daß sie bei dieser Situation die Pflege und die Erziehung durch die Mutter als angenehmer und beglückender erhofft und zunächst vielleicht auch so empfunden habe, doch habe sich diese Hoffnung auf Grund der gegebenen Verhältnisse, insbesondere der Persönlichkeit der Mutter und des Kindes, als trügerisch erweisen müssen.
Es erscheine nicht zielführend, die minderjährige Sonja weiterhin im Heim zu belassen und mit einer Entscheidung zuzuwarten. Es sei vielmehr die Pflege und Erziehung im intakten Familienverband des Vaters, auch wenn es dort entsprechende Probleme gebe, einer Heimerziehung vorzuziehen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem erkennbaren Antrag, den angefochtenen Beschluß im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes abzuändern.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist nicht berechtigt.
Aus Anlaß des vorliegenden Rechtsmittels der Mutter war zunächst die Frage der inländischen Gerichtsbarkeit zu prüfen. Sie ist nach den Bestimmungen des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens BGBl. 1975/446 (MSA) zu beurteilen. Österreich hat sich gemäß Art 13 Abs. 3 MSA vorbehalten, die Anwendung des Übereinkommens auf Minderjährige zu beschränken, die einem der Vertragsstaaten angehören. Die minderjährige Sonja ist österreichische und deutsche Staatsangehörige; die BRD ist ebenso wie Österreich Vertragsstaat. Die Anwendbarkeit des MSA blieb sowohl vom Inkrafttreten des IPRG unberührt (§ 53 IPRG) als auch vom Inkrafttreten der Bestimmungen der ZVN 1983 (insbesondere § 110 JN; vgl. EB zur RV 669 BlgNR 15. GP zu § 110 JN, Punkt 5). Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat (EvBl. 1978/128; EFSlg. 39.799; 8 Ob 573/84 ua.), umfaßt der Sachanwendungsbereich des MSA alle Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen (Art. 1, 2, 4 MSA). Dazu gehört auch die hier zur Beurteilung stehende Regelung der Obsorge für ein Kind aus einer geschiedenen Ehe.
Das MSA hat eine „Verteilung der Zuständigkeiten“ für Schutzmaßnahmen auf den Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes (Art. 1 und 2) und auf den Heimatstaat (Art. 4) geschaffen, welche Zuständigkeiten nebeneinander bestehen (EvBl. 1978/128). Diese Zuständigkeitsregelung hat zur Folge, daß bei einem Mangel der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte nach dem MSA der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit begründet wird (EvBl. 1978/128). Bei Prüfung dieser Frage ist davon auszugehen, daß die internationale Zuständigkeit nach dem MSA im Zeitpunkt der Erlassung der Schutzmaßnahme gegeben sein muß, daß eine perpetuatio fori nicht eintritt und daß der nachträgliche Wegfall der Voraussetzungen der inländischen Gerichtsbarkeit rückwirkend die Nichtigkeit des vorangegangenen Verfahrens zur Folge hat (5 Ob 742/78, teilweise veröffentlicht in EFSlg. 34.273; JBl. 1984, 153 mit zustimmender Besprechung von Schwimann; 8 Ob 573/84).
Maßgebend für die Beurteilung der Frage, ob nach den Bestimmungen des MSA die inländische Gerichtsbarkeit zu bejahen ist, kann nach Ansicht des erkennenden Senates allerdings nur der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes erster Instanz sein (so auch 5 Ob 742/78). Denn der Wegfall der inländischen Gerichtsbarkeit während des Rechtsmittelverfahrens könnte an der Zulässigkeit der getroffenen Sachentscheidung des Erstgerichtes zur Zeit ihrer Fällung nichts ändern und die Beseitigung einer rite zum Vorteil eines Kindes getroffenen Schutzmaßnahmen wegen nachträglichen Wegfalles der inländischen Gerichtsbarkeit während des Rechtsmittelverfahrens wäre insbesondere dann, wenn von den nunmehr international zuständig gewordenen Behörden eines anderen Staates noch keine Schutzmaßnahmen ergriffen wurden, mit der Gefahr erheblicher Nachteile des zu schützenden Kindes verbunden. Die größere Gefahr für das Kind liegt nicht darin, daß allenfalls in verschiedenen Staaten verschiedene Schutzmaßnahmen getroffen werden, sondern darin, daß solche unterbleiben. Der erkennende Senat vertritt daher die Auffassung, daß trotz der im § 10 AußStrG normierten Möglichkeit der Geltendmachung von Neuerungen im Rekursverfahren nur der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes erster Instanz für die Beurteilung der Frage entscheidend sein kann, ob nach den Bestimmungen des MSA die inländische Gerichtsbarkeit zu bejahen ist.
Hauptanknüpfungspunkt für die internationale Zuständigkeit nach dem MSA ist der „gewöhnliche Aufenthalt“ des Minderjährigen (Art. 1 MSA). Der „gewöhnliche Aufenthalt“ wird nach der Lehre bei einer Aufenthaltsdauer von ungefähr 6 Monaten als begründet angenommen, doch bedarf es jedenfalls einer genauen Prüfung der jeweiligen Umstände (Schwimann, Grundriß 247; derselbe, Internationales Zivilverfahrensrecht 84 ff und in JBl. 1976, 235 ff). Der „Mittelpunkt der Lebensführung“ (EvBl. 1978/128; 5 Ob 742/78; EFSlg. 41.565; 8 Ob 573/84) muß am Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes liegen.
Für den vorliegenden Fall erscheint entscheidend, daß sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes seit Weihnachten 1979 beim Vater in Österreich befand und daß das Kind von der Mutter erst in Ausübung ihres Sommerbesuchsrechtes 1984 (also im Juli 1984, siehe dazu ON 36) in die BRD verbracht wurde, die Entscheidung des Erstgerichtes über die Übertragung der Elternrechte aber bereits am 24. 10. 1984, also rund 3 Monate nach der tatsächlichen Verbringung des Kindes aus der Obhut des Vaters, erfolgte. Unter diesen Umständen braucht zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen auch in Fällen sogenannter passiver Kindesentführung (Nichtrückgabe des Kindes an den Sorgeberechtigten nach Ausübung des Besuchsrechtes) ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes an dem Ort, an den es verbracht wurde, begründet wird, nicht im einzelnen eingegangen zu werden (siehe dazu etwa Schwimann, Internationales Zivilverfahrensrecht 85 f; Kropholler, MSA2, 60 ff; Oberloskamp, MSA 34 f; Otto, Ehe‑ und Familiensachen mit Ausländerbeteiligung und nach ausländischem Recht3 24 f ua.), weil jedenfalls die Aufenthaltsdauer des Kindes von rund 3 Monaten am Wohnort der Mutter im Zeitpunkt der Entscheidung des Erstgerichtes unter den dargestellten Umständen nicht hinreichte, um den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Sinne des Art. 1 MSA am Wohnort der Mutter zu begründen, sondern für diesen Zeitpunkt jedenfalls noch das Fortbestehen des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes am Wohnort des Vaters bejaht werden muß.
Daraus ergibt sich das Vorliegen der inländischen Gerichtsbarkeit für die Entscheidung über den am 14. 9. 1984 gestellten Antrag der Mutter, ihr die elterliche Gewalt über das Kind zu übertragen. Im Sinne des Art. 2 MSA ist über diesen Antrag nach den Vorschriften des österreichischen Rechtes zu entscheiden.
Das Rekursgericht ist mit Recht zur Abänderung der Entscheidung des Erstgerichtes im Sinne der Abweisung dieses Antrages gelangt. Es ist zutreffend davon ausgegangen, daß nach Lehre und ständiger Rechtsprechung die einem Elternteil zuerkannten rein persönlichen Rechte und Pflichten aus dem Eltern‑ und Kindesverhältnis nur dann auf den anderen zu übertragen sind, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs. 1 ABGB vorliegen; es müssten hiefür besonders wichtige die Änderung rechtfertigende Gründe gegeben sein (Gschnitzer, Familienrecht2 106; SZ 51/136; EFSlg. 33.600; 1 Ob 740/83; 8 Ob 655/84 uva.). Die Mutter macht in ihrem Revisionsrekurs im wesentlichen nur geltend, daß die minderjährige Sonja jedenfalls und unter allen Umständen bei ihr bleiben wolle und daß sie sogar gedroht habe, sich das Leben zu nehmen, wenn sie wieder zum Vater zurück müsse. Nun kann der Wille des Kindes bei der Entscheidung, welchem Elternteil die elterlichen Rechte und Pflichten zuzuerkennen sind, sicher nicht völlig außer Acht gelassen werden, zumal dann nicht, wenn es sich wie im vorliegenden Fall bereits um ein im 12. Lebensjahr stehendes Kind handelt. Wägt man aber im vorliegenden Fall gegeneinander ab, daß nach den Verfahrensergebnissen während des immerhin langen Zeitraumes von Weihnachten 1979 bis Juli 1984, in dem sich das Kind in der Obhut des Vaters befand, keinerlei schwerwiegende Erziehungsschwierigkeiten auftraten, während bereits der kurzdauernde Aufenthalt des Kindes in der Obhut der Mutter seit Juli 1984 dazu führte, daß zwischen Mutter und Kind „Meinungsverschiedenheiten über die Freizeitgestaltung“ entstanden, die Mutter wieder in ihren Alkoholismus verfiel und das Kind in einem Kinderheim untergebracht werden mußte, dann kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß kein Grund für die von der Mutter angestrebte Änderung der Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten besteht und daß diese von der Mutter angestrebte Maßnahme dem Kind nur zum Nachteil gereichen könnte. Unter diesen Umständen hat das Rekursgericht durchaus mit Recht die Entscheidung des Erstgerichtes im Sinne der Abweisung des Antrages der Mutter, ihr die elterlichen Rechte und Pflichten zu übertragen, abgeändert.
Dem Revisionsrekurs der Mutter mußte daher ein Erfolg versagt bleiben.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)