European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1984:0080OB00573.840.0704.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
Das Erstgericht übertrug mit Beschluss vom 14. 12. 1983 die elterlichen Rechte bezüglich der minderjährigen Sonja vorläufig dem Vater Jürgen S*****, wobei es von folgenden Feststellungen ausging: Die Ehe der Eltern ist aufrecht, beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien ist ein Scheidungsverfahren anhängig. Der letzte gemeinsame Wohnsitz der Ehegatten und der Minderjährigen befand sich in Deutschland in *****. Aufgrund von immer häufiger werdenden Schwierigkeiten zwischen den Ehegatten zog der Vater Jürgen S***** mit der minderjährigen Sonja am 11. 5. 1983 aus der ehelichen Wohnung aus und übersiedelte nach *****. Er muss sich vorübergehend in der Schweiz aufhalten, da er dort eine Schulung absolvieren muss, die für seine künftige Berufstätigkeit von Bedeutung ist. Die minderjährige Sonja besucht in der Schweiz einen Tageskindergarten. Jürgen S***** hat die Absicht, nach erfolgter Einschulung mit der Minderjährigen wieder nach Österreich zurückzukehren und in *****, zu wohnen.
Das Erstgericht hielt die inländische Gerichtsbarkeit und seine Zuständigkeit gemäß § 110 JN für gegeben, da die minderjährige Sonja S***** österreichische Staatsbürgerin sei. Infolge der guten Beziehung zum Vater sei das Wohl des Kindes auch nicht durch den vorübergehenden Aufenthalt in der Schweiz gefährdet. Eine Beeinträchtigung des Wohles des Kindes läge eher im nochmaligen Wechsel der Bezugsperson und der Trennung vom Vater, mit dem es die letzten sieben Monate verbracht hat. Nach der Rückkehr des Vaters aus der Schweiz und Durchführung eingehender Erhebungen werde eine endgültige Entscheidung zu treffen sein.
Infolge Rekurses der Mutter Ingeborg S***** hob das Rekursgericht den Beschluss des Erstgerichts auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Das Rekursgericht traf folgende ergänzende Feststellungen:
Der Vater Jürgen S***** stellte am 20. 6. 1983 an das Bezirksgericht Döbling den Antrag auf Übertragung der elterlichen Rechte bezüglich der minderjährigen Sonja sowie auf Festsetzung der Unterhaltsverpflichtung der Mutter und brachte hiezu vor, dass er mit der Minderjährigen seit 11. 5. 1983 unter der Anschrift *****, wohnhaft sei. Am 11. 7. 1983 sprach das Bezirksjugendamt für den ***** Bezirk aus, dass keine Bedenken gegen den Verbleib der Minderjährigen beim Vater bestehen, dass es sich bei der gegenständlichen Wohnung um die Wohnung einer Tante des Vaters handle, die sich aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands in einem Pflegeheim befinde. Der Vater sei durch die schlechte Wirtschaftslage seines früheren Dienstgebers arbeitslos geworden, habe jedoch die Absicht, sich in Österreich eine neue Existenz aufzubauen. In seiner Stellungnahme vom 29. 6. 1983 teilte das Bezirksjugendamt für den ***** Bezirk dem Bezirksgericht Döbling mit, dass sich der Vater derzeit mit der minderjährigen Sonja in der Schweiz aufhalte, das Kind dort ganztags ein Kindertagesheim besuche, dieser Aufenthalt aus beruflichen Gründen des Vaters notwendig sei und er nach mindestens sechs Monaten Einarbeitungszeit in der österreichischen Niederlassung dieses Unternehmens werde arbeiten können. Der Aufenthalt des Vaters mit der minderjährigen Sonja in der Schweiz sei nur vorübergehend. Am 5. 1. 1984 langte beim Bezirksgericht Döbling ein Schreiben des Amtsgerichts Besigheim in Deutschland ein, in welchem mitgeteilt wurde, dass die Mutter Ingeborg S***** auch beim Amtsgerichtspräsidenten Luzern/Schweiz den Antrag gestellt habe, die Tochter Sonja unter die elterliche Obhut der Mutter zu stellen und welchem die Kopie eines Aktenvermerks des Amtsgerichts Dieburg (BRD) angeschlossen war, wonach am 22. 10. 1983 im dort anhängigen Pflegschaftsverfahren die Mutter Ingeborg S*****, sowie die Schwester des Vaters Jürgen S*****, deren Ehegatten und die minderjährige Sonja anwesend waren, und die Schwester des Vaters Jürgen S***** angab, sie habe vom Vater Jürgen S***** den Auftrag bekommen, das Kind zu beaufsichtigen, ihres Wissens werde es in der nächsten Zeit wieder in das Kinderheim in der Schweiz zurückgebracht werden.
In rechtlicher Hinsicht führte das Rekursgericht aus, dass nach dem Haager Minderjährigenschutzabkommen BGBl 446/75 Voraussetzung für die Zuständigkeit des österreichischen Gerichts neben der Minderjährigkeit des Kindes und der Staatsangehörigkeit zu einem der Vertragsstaaten das Vorliegen des gewöhnlichen Aufenthalts in dem Vertragsstaat, dessen Behörde tätig werden soll, gehöre. Nach herrschender Auffassung sei der gewöhnliche Aufenthalt der Ort der faktischen Anwesenheit des Kindes, an dem es den Schwerpunkt seiner Bindungen, seinen „Lebensmittelpunkt“ habe. Dafür sei in der Regel eine längere (wenn auch nicht ununterbrochene) tatsächliche Anwesenheit erforderlich. Da das Problem naturgemäß in den Fällen virulent werde, in denen ein Ehegatte mit dem Kind ohne Zustimmung des anderen seinen Aufenthaltsort wechsle, das Herausreißen aus der vertrauen Umgebung zweifelsohne nicht dem Wohl des Kindes diene und die Frage der Beziehung des Kindes zu seinem Aufenthaltsort einer besonderen Prüfung bedürfe, sei bei der Annahme des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes eine besonders sorgfältige Abwägung aller (auch subjektiver) Umstände des Einzelfalls erforderlich. Im gegenständlichen Fall seien durch die Mitteilung des Amtsgerichts Besigheim vom 5. 1. 1984, aus welcher hervorgehe, dass sich die Minderjährige zumindest am 22. 10. 1983 bei der väterlichen Tante in Deutschland aufgehalten habe, sowie andererseits durch den Umstand, dass das Jugendamt im Oktober 1983 dem Bezirksgericht Döbling Mitteilung machte, dass der Vater wegen einer mehrmonatigen Ausbildung in der Schweiz lebe und die Minderjährige bei sich habe, Zweifel darüber aufgetreten, ob der gewöhnliche Aufenthalt der Minderjährigen in Wien angenommen werden könne. Wenn die Angabe des Vaters, er sehe Wien als seinen ordentlichen Wohnsitz an und werde nach der mehrmonatigen Ausbildung in der Schweiz mit der minderjährigen Sonja wieder in Wien leben, richtig sei, so sei zum jetzigen Zeitpunkt im Hinblick auf den dazwischen liegenden Zeitraum, überprüfbar, ob er diese Absicht auch verwirklicht habe. Sollte nämlich der Zeitraum, in dem die minderjährige Sonja sich mit ihrem Vater in Wien aufgehalten habe, lediglich einige Wochen im Sommer 1983 umfassen, so seien die Voraussetzungen für die Anwendung des Haager Minderjährigenschutzabkommens in Richtung der inländischen Jurisdiktion doch eher zweifelhaft. Aus den angeführten Erwägungen werde das Erstgericht im weiteren Verfahren nunmehr ergänzende Erhebungen durchzuführen haben, um das Vorliegen der Voraussetzungen der inländischen Jurisdiktion im Hinblick auf das Haager Minderjährigenschutzabkommen genauer beurteilen zu können.
Gegen den Beschluss des Rekursgerichts wendet sich der Revisionsrekurs des Vaters aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Wiederherstellung des Beschlusses des Erstgerichts. Der Vater versucht darzutun, dass die internationale Zuständigkeit des Bezirksgerichts Döbling gegeben sei und dessen Beschluss dem Kindeswohl entspreche. Die minderjährige Sonja befinde sich seit 11. 5. 1983 nicht mehr in der BRD; ab diesem Zeitpunkt sei der ordentliche Wohnsitz, der gewöhnliche Aufenthalt und auch der faktische Aufenthalt der Minderjährigen in Wien gewesen. Der Aufenthalt in der Schweiz sei nur vorübergehend.
Rechtliche Beurteilung
Hiezu ist Folgendes auszuführen: Zutreffend hat das Rekursgericht die Anwendung des in Österreich am 11. 5. 1975 in Kraft getretenen Haager Minderjährigenschutzübereinkommens BGBl 1975/446 (MSA) bejaht. Österreich hat sich gemäß Art 13 Abs 3 MSA vorbehalten, die Anwendung des Übereinkommens auf Minderjährige zu beschränken, die einem der Vertragsstaaten angehören. Die minderjährige Sonja ist jedenfalls österreichische Staatsangehörige, sodass im vorliegenden Fall das Übereinkommen anzuwenden ist. Das Übereinkommen ist nämlich auch auf minderjährige österreichische Staatsangehörige anzuwenden, wenn diese ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben (vgl Schwimann , Grundriss des IPR, S 246 vor Anm 17). Die Anwendbarkeit des Übereinkommens blieb sowohl vom Inkrafttreten des IPRG unberührt (§ 53 IPRG), als auch vom Inkrafttreten der Bestimmungen der ZV‑Novelle 1983 (insbesondere § 110, vgl EB z. RV 669 BlgNR 15. GP zu § 110 JN, Punkt 5.). Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat (vgl EvBl 1978/128, EFSlg 39.799 ua), umfasst der Sachanwendungsbereich des MSA alle Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen (Art 1, 2, 4). Dazu gehört auch die hier zur Beurteilung stehende Regelung der Obsorge für Kinder bei Gentrenntleben der Eltern (vgl Schwind , „Handbuch des Österreichischen IPR“ 379; Schwimann „Das Haager Minderjährigenschutzabkomen“ JBl 1976, 239 ff; Kropholler „Das Haager Abkommen über den Schutz der Minderjährigen“ 65; Kropholler in ZfRV 1975, 210; Jayme „Zu Qualifikation und Inhalt der 'Schutzmaßnahmen' nach dem Haager Minderjährigenabkommen“ JR 1973, 182; Mähr „Zuständigkeiten im internationalen Kindschaftsrecht“ RZ 1977, 152). Da die Übertragung des elterlichen Sorgerechts an nur einen Teil im inländischen Gesetz (§ 177 Abs 2 ABGB) vorgesehen ist, ist der mit einer derartigen Regelung verbundene Eingriff in das ansonsten – im Inland – nach §§ 137 Abs 3, 144, ABGB zu beurteilende Gewaltsverhältnis (Art 3) zulässig.
Das Übereinkommen hat eine „Verteilung der Zuständigkeiten“ für Schutzmaßnahmen auf den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts (Art 1 und 2) und auf den Heimatstaat (Art 4) geschaffen, welche Zuständigkeiten nebeneinander bestehen (EvBl 1978/128). Diese Zuständigkeitsregelung hat zur Folge, dass bei einem Mangel der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte nach dem MSA – in welcher Lage des Verfahrens auch immer er eintreten mag ( Fasching I 228) – der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit und damit Nichtigkeit im Sinne des § 16 Abs 1 AußStrG begründet würde (EvBl 1978/128). Bei Prüfung dieser Frage ist davon auszugehen, dass die internationale Zuständigkeit nach dem MSA im Zeitpunkt der Erlassung der Schutzmaßnahme gegeben sein muss, dass eine perpetuatio fori nicht eintritt ( Kropholler , „Das Haager Abkommen über den Schutz der Minderjährigen“ 114) und dass der nachträgliche Wegfall der Voraussetzungen der inländischen Gerichtsbarkeit rückwirkend die Nichtigkeit des gesamten vorangegangenen Verfahrens zur Folge hat ( Fasching I 228 Anm 4 zu § 29 JN; ESFlg 34.273; 1 Ob 537/84 ua).
Hauptanknüpfungspunkt für die Zuständigkeit nach dem MSA ist der „gewöhnliche Aufenthalt“. Der „gewöhnliche Aufenthalt“ wird nach der Lehre bei einer Aufenthaltsdauer von ungefähr sechs Monaten als begründet angenommen, doch bedarf es jedenfalls einer genauen Prüfung der jeweiligen Umstände ( Schwimann „Grundriss des IPR“ 247, ders „Internationales Zivilverfahrensrecht“ 84, ders in JBl 1976, 235 ff; Schwind aaO 378 f). Der „Mittelpunkt der Lebensführung“ (EvBl 1978/128; 5 Ob 742/78; EFSlg 41.565 ua). Muss am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts liegen.
Von einer zutreffenden Rechtsansicht ausgehend hat daher das Rekursgericht dem Erstgericht die Vornahme ergänzender Erhebungen aufgetragen, um das Vorliegen der Voraussetzungen der inländischen Gerichtsbarkeit im Hinblick auf die Bestimmungen des MSA beurteilen zu können. Hiebei wird insbesondere mit Rücksicht auf die österreichische Staatsangehörigkeit der minderjährigen Sonja auf Art 4 MSA sowie auch auf Art 5 MSA Bedacht zu nehmen sein, da auch die Schweiz und die BRD Vertragsstaaten des Übereinkommens sind. Bei Beurteilung des „gewöhnlichen Aufenthaltes“ werden die Tatbestandsmerkmale des § 66 Abs 2 JN idF BGBl 1983/135 zu berücksichtigen sein.
Dem Revisionsrekurs war daher ein Erfolg zu versagen.
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