EGMR Bsw34438/04

EGMRBsw34438/0416.4.2009

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Egeland und Hanseid gegen Norwegen, Urteil vom 16.4.2009, Bsw. 34438/04.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Verbot der Aufnahme von Fotos einer Verurteilten.

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde betrifft die Berichterstattung über ein spektakuläres, medial intensiv aufbereitetes Strafverfahren, in dem vier Personen des dreifachen Mordes angeklagt waren. Dasselbe Verfahren war auch Gegenstand der Entscheidung P4 Radio Hele Norge ASA/N.

Im aktuellen Fall geht es um Fotos, die im Rahmen der Berichterstattung über die am 22.6.2001 erfolgte Urteilsverkündung in den Tageszeitungen Dagbladet bzw. Aftenposten veröffentlicht wurden. Diese Fotos zeigten die für schuldig befundene und zu 21 Jahren Haft verurteilte Angeklagte B. ca. 20 Minuten nach Urteilsverkündung beim Verlassen des Gerichtsgebäudes auf dem Weg zu einem Polizeiauto. B. war dabei bestürzt und in Tränen aufgelöst bzw. mit einem Taschentuch vor dem Gesicht zu sehen. Die Fotos nahmen den Großteil der Zeitungsseite ein. B. hatte der Aufnahme dieser Fotos nicht zugestimmt.

Auf Betreiben des Anwalts von B. wurden die Bf. als Chefredakteure der beiden Zeitungen sowie drei Fotografen angeklagt, § 131A des Gerichtsverfahrensgesetzes 1915 verletzt zu haben, der u.a. die Aufnahme von Fotos eines Angeklagten oder Verurteilten auf seinem Weg zu oder beim Verlassen einer Gerichtsverhandlung verbietet. Das Bezirksgericht Nedre Romerike sprach die Angeklagten jedoch frei, da es die besonderen Umstände des Falles verhindern würden, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen. Die umstrittenen Fotos hätten vor allem dazu gedient, die Allgemeinheit über die Verhaftung von B. und das vorläufige Ende des viel diskutierten Strafverfahrens zu informieren.

Hingegen befand der Oberste Gerichtshof die Bf. infolge einer Berufung des Staatsanwalts für schuldig und verurteilte sie am 23.3.2004 zu einer Geldstrafe von NOK 10.000,-. Er führte aus, die umstrittene gesetzliche Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit sei notwendig, um die Privatsphäre der Verurteilten bzw. die Prinzipien eines fairen Verfahrens zu schützen, und widerspreche deshalb auch nicht Art. 10 EMRK. Im Gegensatz zur Annahme des Bezirksgerichts würden keine solch außergewöhnlichen Umstände vorliegen, die die Aufnahme von Fotos entgegen § 131A des Gesetzes von 1915 rechtfertigen würden. Bei seiner Begründung verwies der Oberste Gerichtshof auf die Entscheidung im Fall P4 Radio Hele Norge ASA/N, in der der EGMR die Beschwerde über eine ähnliche Beschränkung der Pressefreiheit für unzulässig erklärt hatte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. bringen vor, das Urteil des Obersten Gerichtshofs habe zu einer Verletzung ihres Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK geführt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs, mit dem die Bf. jeweils zu einer Geldstrafe von NOK 10.000,- verurteilt worden waren, stellt zweifellos einen Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung dar. Dieser war durch die Bestimmungen des Gerichtsverfahrensgesetzes 1915 gesetzlich vorgesehen und verfolgte die nach Art. 10 Abs. 2 EMRK legitimen Ziele, den Ruf und die Rechte anderer zu schützen und die Autorität und Unabhängigkeit der Justiz zu wahren. Unklar ist jedoch, ob die vorliegende Beschränkung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

1. Allgemeine Grundsätze:

Der GH hat zu prüfen, ob der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach, verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen war und ob die Regierung relevante und ausreichende Argumente für dessen Rechtfertigung vorgebracht hat. Den Staaten steht in diesem Zusammenhang ein gewisser Ermessensspielraum zu, der aber von einer Kontrolle durch den GH begleitet ist.

Für die Klärung der genannten Fragen bedeutend ist die essentielle Funktion der Medien in einer demokratischen Gesellschaft, deren Aufgabe darin besteht, innerhalb gewisser Grenzen Informationen und Ideen zu übermitteln, die Gegenstand des öffentlichen Interesses sind. Darunter fällt auch die Berichterstattung über gerichtliche Verfahren, wenn sie dazu beiträgt, mündliche Verhandlungen - wie in Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgesehen - für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es ist nicht nur Aufgabe der Medien, Informationen zu verbreiten; die Öffentlichkeit hat auch ein Recht darauf, diese zu empfangen.

Der GH darf sich bei der Behandlung der Beschwerde nicht an die Stelle der nationalen Behörden setzen, sondern muss die aufgrund des staatlichen Beurteilungsspielraums ergangenen Entscheidungen anhand einer Gesamtbetrachtung des Falles prüfen. Was dies betrifft, ist anzumerken, dass der Oberste Gerichtshof die Entscheidung P4 Radio Hele Norge ASA/N in seine Erwägungen miteinbezogen hat. Diese betraf ebenfalls das gegen B. und ihre Mitangeklagten geführte Strafverfahren. Im Verbot, die mündliche Verhandlung live zu übertragen, sah der GH hier keine generelle Verletzung von Art. 10 EMRK und erkannte dem Staat einen weiten Ermessensspielraum zu. Ebenso wie die Untersagung der Live-Übertragung stellte auch das im vorliegenden Fall relevante Verbot, die Verurteilten nach Ende des Verfahrens außerhalb des Gerichtsgebäudes zu fotografieren, eine Beschränkung bei der Wahl journalistischer Mittel dar und diente dazu, zusätzlichen Druck von den am Verfahren Beteiligten fernzuhalten. Die Gründe für den im früheren Fall gewährten Ermessensspielraum müssen deshalb auch hier Berücksichtigung finden.

Der vorliegende Fall betrifft einerseits das von Art. 10 EMRK garantierte Recht der Presse, die Allgemeinheit über die im öffentlichen Interesse gelegenen Aspekte eines Strafverfahrens zu informieren. Andererseits sind diesem Recht die dem Staat aus Art. 8 bzw. Art. 6 EMRK erwachsenden Verpflichtungen gegenübergestellt, die Privatsphäre von verurteilten Personen zu schützen bzw. einen fairen Verfahrensablauf zu garantieren. Norwegen ist nicht der einzige Staat, der in seiner Rechtsordnung ein Verbot für das Fotografieren von Verurteilten in Zusammenhang mit Strafverfahren vorsieht. Ähnliche Regelungen gibt es etwa in Zypern, England, Österreich und Dänemark. Ein europäischer Konsens ist in diesem Zusammenhang nicht auszumachen. Bei der Abwägung der genannten widerstreitenden Interessen sollte den innerstaatlichen Behörden daher ein weiter Ermessensspielraum belassen werden.

2. Anwendung im vorliegenden Fall:

Das in § 131A Abs. 1 des Gesetzes von 1915 vorgesehene Verbot, einen Verurteilten ohne dessen Einverständnis auf seinem Weg von oder zu einer Verhandlung zu fotografieren, gilt nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht absolut. Stellen die nationalen Gerichte einen Konflikt mit Art. 10 EMRK fest, wird § 131A von diesem verdrängt. Der GH wird deshalb untersuchen, wie die Bestimmung im vorliegenden Fall angewendet wurde.

Der Oberste Gerichtshof stützte seine Entscheidung zum Teil auf Erwägungen zum Schutz der Privatsphäre, zum Teil auf das Erfordernis, ein faires Verfahren zu garantieren. Dadurch wurde jedenfalls der in Art. 10 Abs. 2 EMRK vorgesehenen Voraussetzung der Notwendigkeit entsprochen. Es bleibt zu prüfen, ob die genannten Gründe auch ausreichend waren.

Das Strafverfahren gegen B. und die anderen Angeklagten wurde wegen der Grausamkeit der ihnen vorgeworfenen Taten in den Medien groß aufbereitet. Verurteilung und Verhaftung von B. waren ohne Zweifel Angelegenheiten von öffentlichem Interesse. Nach Art. 10 Abs. 2 EMRK ist die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit jedoch mit Verantwortung und Verpflichtungen verbunden, die auch von der Presse zu achten sind. Vorliegend betrifft dies insbesondere den guten Ruf und die Rechte anderer bzw. die Wahrung der Autorität und Unabhängigkeit der Justiz. Diese Verpflichtungen sind vor allem bei der breiten Veröffentlichung von Fotos zu beachten, die sehr persönliche und vertrauliche Informationen vermitteln. Wie der GH erinnert, umfasst der Begriff des Privatlebens nach Art. 8 EMRK auch die Identität einer Person, wie etwa deren Namen oder deren Bild. Zwar war die Identität von B. zum Zeitpunkt der Aufnahme der Fotos in der Öffentlichkeit bereits wohlbekannt und es bestand deshalb auch kein Grund, die Preisgabe ihrer Identität zu verhindern. Trotzdem muss geprüft werden, ob der Inhalt der Fotos in Zusammenhang mit ihrer Publikmachung eine Beschränkung der Veröffentlichung gerechtfertigt hat.

Die veröffentlichten Fotos zeigten B. bestürzt mit einem Taschentuch dicht vor ihrem Gesicht und in einem Zustand heftiger Emotionen. Sie war gerade wegen dreifachen Mordes zu 21 Jahren Haft verurteilt und festgenommen worden. Man muss annehmen, dass die in Tränen aufgelöste und verzweifelte B. von heftigen Gefühlsschwankungen erfasst und psychisch äußerst verletzlich war. Wie von den nationalen Gerichten festgestellt wurde, befand sie sich in einem Zustand verminderter Selbstkontrolle und damit in einer Situation, die im Kern des Schutzes der umstrittenen Bestimmung steht. Auch wenn die Bilder an einem öffentlichen Ort in Zusammenhang mit einem öffentlichen Ereignis gemacht wurden, erfolgte durch deren Veröffentlichung eine besonders aufdringliche Darstellung von B. Diese hatte zudem weder der Aufnahme noch der Veröffentlichung der Fotos zugestimmt.

Die Bf. sind der Meinung, die fehlende Zustimmung von B. sei irrelevant, da B. bereits zu früheren Gelegenheiten mit der Presse kooperiert habe. Der GH teilt diese Ansicht jedoch nicht. Die Situation von B. ist nicht mit der einer Person vergleichbar, die sich in ihrer Rolle als Politiker, als eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens oder als Teilnehmer an einer im allgemeinen Interesse gelegenen öffentlichen Debatte der Öffentlichkeit aussetzt. Das Argument der Bf. kann es deshalb nicht rechtfertigen, B. des Schutzes vor Veröffentlichung der Fotos zu berauben.

Aus diesen Gründen ist nach Ansicht des GH die Notwendigkeit, die Privatsphäre von B. zu schützen, gleich wichtig wie jene, ein faires Verfahren zu garantieren. Im Gegensatz zum Obersten Gerichtshof misst der GH ersterer das größere Gewicht bei, beide Gründe stellen aber ein dringendes soziales Bedürfnis dar und waren auch ausreichend. Das Interesse, die Veröffentlichung der Fotos zu beschränken, überwog gegenüber jenem der Presse, die Allgemeinheit über öffentliche Angelegenheiten zu informieren.

Der GH kommt deshalb zu dem Schluss, dass das Verbot der Aufnahme und Veröffentlichung der Fotos von B. im Rahmen des dem Staat zustehenden Ermessensspielraums lag. Der durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs erfolgte Eingriff in die Rechte der Bf. auf freie Meinungsäußerung beruhte auf relevanten und ausreichenden Gründen und war verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen. Es liegt somit keine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986, A/103, EuGRZ 1986, 424.

Fressoz und Roire/F v. 21.1.1999 (GK), NL 1999, 11; EuGRZ 1999, 5; ÖJZ 1999, 774.

Bladet Tromso und Stensaas/N v. 20.5.1999 (GK), NL 1999, 96; EuGRZ 1999, 453; ÖJZ 2000, 232.

Nilsen und Johnsen/N v. 25.11.1999 (GK), NL 1999, 197.

News Verlags GmbH & Co. KG/A v. 11.1.2000, NL 2000, 24; ÖJZ 2000, 394.

Peck/GB v. 28.1.2003, NL 2003, 19; ÖJZ 2004, 651.

P4 Radio Hele Norge ASA/N v. 6.5.2003 (ZE).

Von Hannover/D v. 24.6.2004, NL 2004, 144; EuGRZ 2004, 404; ÖJZ 2005, 588.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.4.2009, Bsw. 34438/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 104) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_2/Egeland.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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