EGMR Bsw78060/01

EGMRBsw78060/0114.10.2008

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Petrina gegen Rumänien, Urteil vom 14.10.2008, Bsw. 78060/01.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK - Schädigung des guten Rufs eines Politikers.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

In einer Fernsehsendung am 7.10.1997, die einen Gesetzesentwurf über den Zugang zu den in den Archiven des ehemaligen kommunistischen Staatssicherheitsdienstes Securitate verwahrten Akten betraf, behauptete der Journalist C. I., unter den Mitgliedern der nationalen Bauernpartei P. N. T. wären ehemalige Akteure der Securitate, darunter auch der Bf. Er bezeichnete diese als „falsche Helden", die aus „anderen Gründen" im Gefängnis gesessen hätten, sich aber als „ehemalige politische Gefangene" ausgeben würden. Der Bf. sei als Mitglied der Securitate „illegal in die nationale Bauernpartei eingeschleust" worden.

Am 27.10.1997 erschien in der Wochenzeitschrift Catavencu ein Artikel von C. I., in dem der Bf. als ehemaliger Staatssekretär des Außenministeriums und führende Persönlichkeit der Securitate sowie als „undichte Stelle" innerhalb der P. N. T. dargestellt wurde. Wegen dieser Behauptungen erhob der Bf. gegen C. I. Strafanzeige wegen Beleidigung und Verleumdung. C. I. wurde jedoch am 30.3.2000 vom Bezirksgericht mit der Begründung freigesprochen, es hätte sich um allgemeine und ungenaue Behauptungen gehandelt, die wegen fehlenden Vorsatzes kein Vergehen darstellten.

Am 18.7.2000 wurde die gegen das Urteil erhobene Berufung des Bf. abgewiesen. Das Landesgericht Bukarest befand, die Behauptungen des C. I. seien im Rahmen der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit gehaltene Werturteile. Diese Freiheiten würden nämlich auch für Informationen und Ideen gelten, die verletzend, schockierend oder beunruhigend seien. Das Gericht betonte, dass die Medien die Grenze zum Recht auf Schutz des guten Rufs nicht überschreiten dürfen, es aber deren Aufgabe sei, die Bevölkerung zu informieren, was bei Informationen über Politiker und das politische Leben umso wichtiger sei. Auch Politikern komme ein gewisser Schutz zu, sogar wenn sie nicht im Bereich ihres Privatlebens handeln. In einem solchen Fall müsse aber ein Ausgleich mit dem Interesse an einer freien Diskussion politischer Fragen geschaffen werden.

Am 13.1.1998 brachte der Bf. Strafanzeige wegen Beleidigung und Rufschädigung gegen den Journalisten M. D. ein. Dieser hatte in einem Artikel der Zeitschrift Catavencu behauptet, der Bf. hätte eine führende Position in der Securitate innegehabt. In der Folge sprach das Bezirksgericht M. D. frei. Der Artikel habe nämlich keine konkreten, ausreichend individualisierten Beschuldigungen enthalten. Die dagegen erhobene Berufung des Bf. wurde am 18.7.2000 abgewiesen. Am 14.12.2004 fügte der Bf. den Akten eine Bescheinigung des mit der Untersuchung der Staatssicherheitsarchive beauftragten Teils des Parlaments bei, mit der bestätigt wurde, dass der Bf. nicht mit den Organen der Securitate kollaboriert hatte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. bringt unter Bezugnahme auf Art. 10 EMRK vor, sein guter Ruf und seine Ehre seien durch die medialen Behauptungen von C. I. und M. D. verletzt worden. Er habe nie für die Securitate gearbeitet. Der GH erinnert zunächst daran, dass er für die rechtliche Qualifikation der ihm vorgelegten Tatsachen zuständig ist. Wie bereits früher festgestellt, fällt das Recht auf Schutz des guten Rufs in den Bereich des Privatlebens und ist daher von Art. 8 EMRK umfasst.

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung wendet ein, die Beschwerde sei ratione materiae unvereinbar mit der Konvention und daher zurückzuweisen. Ihrer Ansicht nach stellen die von C. I. und M. D. in den Medien erhobenen Behauptungen keine Beeinträchtigung des Privatlebens des Bf. dar, denn die Frage der Mitwirkung des politisch tätigen Bf. in der Securitate betreffe allein dessen Leben in der Öffentlichkeit. Die Anschuldigungen der Journalisten seien nämlich im Rahmen einer öffentlichen Debatte betreffend die Nominierung des Bf. für einen Posten im Bereich des Außenministeriums vorgebracht worden. Der GH erinnert daran, dass der Begriff des Privatlebens auch Elemente umfasst, die die Identität einer Person betreffen, wie deren Name und Bild sowie ihre physische und psychische Integrität. Art. 8 EMRK schützt grundsätzlich die ungestörte Entwicklung der Persönlichkeit jedes Einzelnen in Beziehung zu seinen Mitmenschen. Bei der Interaktion mit Dritten gibt es daher Bereiche, die, wenn auch in einem öffentlichen Kontext, unter den Begriff des Privatlebens subsumierbar sind.

Im vorliegenden Fall liegen Behauptungen vor, die geeignet sind, den guten Ruf des Bf. zu beeinträchtigen. Nach Ansicht des GH ist das Recht auf Schutz des guten Rufs Teil des Privatlebens und fällt damit unter Art. 8 EMRK. So erkannte der GH im Fall Chauvy/F in der durch eine Buchpublikation bewirkten Beeinträchtigung des guten Rufs einer Person einen Eingriff in Art. 8 EMRK und untersuchte, ob zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Schutz des Privatlebens ein gerechter Ausgleich geschaffen worden war. Im Fall Pfeifer/A stellte der GH fest, der gute Ruf sei ein Teil der persönlichen und psychischen Identität einer Person und gehöre, auch in Zusammenhang mit einer in einer öffentlichen Debatte vorgebrachten Kritik, zu deren Privatleben.

Infolge dieser Rechtsprechung findet Art. 8 EMRK auch im vorliegenden Fall Anwendung. Die Einrede der Regierung ist somit zurückzuweisen. Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. beschwert sich nicht über eine Handlung des Staates, sondern über das Fehlen ausreichender Maßnahmen zum Schutz seines guten Rufs. Wesentlicher Inhalt von Art. 8 EMRK ist der Schutz des Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Hand. Neben Unterlassungspflichten können dem Staat dabei auch positive, aus der Achtung des Privat- und Familienlebens erwachsende Verpflichtungen obliegen. Diese können sogar Maßnahmen erforderlich machen, die die Beziehung der einzelnen Menschen untereinander betreffen. Positive und negative Verpflichtungen lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen. In beiden Fällen muss aber ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit und jenen des Einzelnen geschaffen werden, wobei dem Staat ein gewisser Ermessensspielraum verbleibt. Der GH hat im vorliegenden Fall festzustellen, ob der Staat in Hinblick auf seine positiven Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK einen gerechten Ausgleich zwischen dem Schutz des guten Rufs des Bf. und dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geschaffen hat.

Mit seinen Äußerungen in Fernsehen und Zeitung bezichtigte der Journalist C. I. den Bf. der Kollaboration mit der Securitate. Er ließ keinen Zweifel an dieser Feststellung und gab sogar an, der Bf. hätte eine hohe Position im Staatssicherheitsdienst innegehabt. Der von M. D. verfasste Artikel enthielt ähnliche Anschuldigungen. Nach Ansicht des GH sind alle drei Veröffentlichungen Teil einer Debatte im Zuge einer Pressekampagne gegen den Bf.

Wie der GH betont, ist die Meinungsäußerungsfreiheit ein wichtiges Element einer demokratischen Gesellschaft und gilt auch für Informationen und Ideen, die verletzend, schockierend oder beunruhigend sind. Die Medien spielen in einer demokratischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Auch wenn sie die Grenzen zum Schutz des guten Rufs des Betroffenen zu wahren haben, ist es doch ihre Aufgabe, Informationen und Ideen zu allen im Allgemein­interesse liegenden Fragen zu übermitteln. Die Pressefreiheit erlaubt dabei auch ein gewisses Maß an Übertreibung oder sogar Provokation. Die aus Art. 8 EMRK folgenden positiven Verpflichtungen des Staates kommen in diesem Zusammenhang dann zum Tragen, wenn die Grenzen einer akzeptablen Kritik im Sinne von Art. 10 EMRK überschritten wurden. Der GH erinnert weiters daran, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK bei politischen Angelegenheiten oder bei im Interesse der Allgemeinheit gelegenen Fragen kaum Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit zulässt. Vielmehr ist Kritik an Politikern in weiterem Umfang zulässig als im Normalfall. Politiker setzen sich bewusst und unausweichlich der Kontrolle der Medien und der Bevölkerung aus, weshalb von ihnen ein größeres Maß an Toleranz verlangt werden kann. Der GH unterscheidet in seiner Rechtsprechung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen. Während die Existenz von Tatsachen nachgewiesen werden kann, ist bei Werturteilen die Erbringung eines Beweises nicht möglich. Dies zu verlangen würde selbst zu einer Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit führen. Sind konkretisierte Personen unmittelbar von einer Behauptung betroffen, muss es dafür eine ausreichende Tatsachengrundlage geben. Liegt eine solche nicht vor, kann auch ein Werturteil überschießend sein. In Anbetracht des vorliegenden Falls ist der GH der Ansicht, dass es sich bei der öffentlichen medialen Debatte über die Aufdeckung der Kollaborateure der Securitate um eine im besonderen Interesse der gesamten Bevölkerung liegende Angelegenheit handelt. Diese betrifft ein sehr sensibles, soziales und moralisches Thema mit Bezug zu einem spezifischen Teil der Geschichte Rumäniens.

Die den Bf. betreffenden Zeitungsartikel waren nach Meinung des GH trotz des satirischen Charakters der Zeitschrift Catavencu verletzend, da sie auf kein Indiz für die Beteiligung des Bf. in der Securitate hinwiesen und ihre Aussage klar, direkt und ohne einen Ansatz von Witz oder Ironie war.

Aufgabe der Medien ist es, der Öffentlichkeit zu berichten, wenn sie vermutlich unterschlagene Informationen über Abgeordnete oder öffentliche Funktionäre erhält. Werden Personen direkt mit Namen und Funktion angeführt, muss es für die aufgestellten Behauptungen aber eine ausreichende Tatsachengrundlage geben. Im vorliegenden Fall lagen jedoch weder belegte historische Tatsachen, noch offizielle Berichte oder vom Bf. selbst getätigte Aussagen zu seiner Vergangenheit vor, die eine solche Grundlage geschaffen hätten. Die gegen den Bf. gerichteten Anschuldigungen, dieser habe als in der neuen rumänischen Demokratie bekannter Politiker eine wichtige Position im Unterdrückungsapparat der Kommunisten bekleidet und sich nach der Revolution 1989 als Verfechter der Demokratie ausgegeben, sind wenig missverständliche Tatsachenbehauptungen. Der GH ist davon überzeugt, dass diese Beschuldigungen direkt gegen die Person des Bf. und nicht bloß auf seine beruflichen Kapazitäten gerichtet waren. Aus diesen Gründen und in Anbetracht dessen, dass durch die Beamten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes ein Zustand des Terrors geschaffen wurde, teilt der GH die Meinung der nationalen Gerichte nicht, nach der die Behauptungen der Journalisten „allgemein und indifferent" gehalten waren. Zudem sind die Äußerungen unzweifelhaft als Tatsachenbehauptungen zu qualifizieren. Man kann sich wohl auch nicht darauf berufen, es läge eine im Sinne von Art. 10 EMRK erlaubte Übertreibung oder Provokation vor. Nach Ansicht des GH handelt es sich nämlich um realitätsverzerrende Darstellungen, die jeder tatsächlichen Grundlage entbehren.

Der GH kommt zu dem Schluss, dass die Behauptungen der Journalisten über die Mitgliedschaft des Bf. in einer mit Unterdrückung und Terror agierenden Gruppierung über das akzeptable Maß hinausgegangen sind. Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Behauptungen gesetzlich noch kein öffentlicher Zugang zu den Akten der Securitate gegeben war. Dies sollte nicht zu Lasten des Bf. gehen. Auch wenn man davon ausginge, es handle sich im konkreten Fall um Werturteile, mangelte es an der erforderlichen Tatsachengrundlage, da es keine Hinweise auf Zusammenarbeit des Bf. mit der Securitate gab. Die offizielle Bescheinigung des Parlaments im Jahr 2004 bestätigt außerdem das Fehlen jeglicher Verbindung des Bf. zum ehemaligen Staatssicherheitsdienst.

Was den von der Regierung angeführten Fall Zdanoka/LT betrifft, handelte es sich dabei nach Meinung des GH um eine gänzlich andere Sachlage. Die Behauptungen in diesem Fall waren nämlich weder geheim noch vertraulich, sondern sogar für die Öffentlichkeit einsehbar. In Anbetracht all dieser Umstände ist der GH nicht überzeugt, dass die von den innerstaatlichen Gerichten zum Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit vorgebrachten Gründe ausreichend waren, um gegenüber dem Schutz des guten Rufes des Bf. zu überwiegen. Es wurde kein angemessener Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen geschaffen. Der GH stellt daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 5.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bladet Tromso und Stensaas/N v. 20.5.1999, NL 1999, 96; EuGRZ 1999,

453; ÖJZ 2000, 232.

Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814. Zdanoka/LV v. 6.3.2003 (ZE).

Von Hannover/D v. 24.6.2004, NL 2004, 144; EuGRZ 2004, 404; ÖJZ 2005,

588.

Chauvy u.a./F v. 26.6.2004.

Pfeifer/A v. 15.11.2007, NL 2007, 307; ÖJZ 2008, 161.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.10.2008, Bsw. 78060/01, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 287) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_5/Petrina.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte