VwGH Ra 2023/22/0080

VwGHRa 2023/22/008023.2.2024

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision 1. der S K, 2. der R A, 3. der S A, 4. des A M, und 5. des J A, alle vertreten durch Mag. Dr. Vera M. Weld, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Weihburggasse 4/40, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 13. März 2023, 1. VGW‑151/013/9529/2022, 2. VGW‑151/013/9531/2022, 3. VGW‑151/013/9533/2022, 4. VGW‑151/013/9535/2022 und 5. VGW‑151/013/9537/2022, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §35
EURallg
MRK Art8
NAG 2005 §2 Abs1 Z9 idF 2021/I/206
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 litc idF 2022/I/106
NAG 2005 §46 idF 2022/I/206
VwGG §42 Abs2 Z1
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art10 Abs3 lita
62016CJ0550 A und S VORAB
62020CJ0560 CR u.a. VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2024:RA2023220080.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der erstrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind syrische Staatsangehörige. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien.

2 Mit Bescheiden vom 20. April 2022 wies die belangte Behörde (der Landeshauptmann von Wien) die Anträge der revisionswerbenden Parteien vom 13. Oktober 2021 auf Erteilung von Aufenthaltstiteln „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) jeweils mangels Erfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzungen ab.

3 Begründend führte die belangte Behörde aus, dem am 16. Mai 2003 geborenen Sohn der erstrevisionswerbenden Partei bzw. Bruder der weiteren revisionswerbenden Parteien syrischer Staatsangehörigkeit sei am 15. Juli 2020 aufgrund seines Antrags vom 17. Dezember 2019 im Alter von siebzehn Jahren der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden. Der Zusammenführende sei mittlerweile volljährig geworden. Die vorliegenden Anträge auf Familienzusammenführung gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG seien am 13. Oktober 2021 nach einer Terminreservierung am 7. Juli 2021 und somit nicht innerhalb von drei Monaten ab Zuerkennung des Flüchtlingsstatus eingebracht worden, weshalb die gegenständlichen Aufenthaltstitel nicht zu erteilen seien.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 13. März 2023 wies das Verwaltungsgericht Wien die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde der revisionswerbenden Parteien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

5 Das Verwaltungsgericht stellte fest, die revisionswerbenden Parteien hätten vor Eintritt der Volljährigkeit des Zusammenführenden, der als unbegleiteter Minderjähriger nach Österreich gekommen und dem „Mitte 2020“ der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei, bei der Österreichischen Botschaft Kairo Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln gemäß § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) gestellt. Diese Anträge seien nach Eintritt der Volljährigkeit des Zusammenführenden mit der Begründung abgewiesen worden, dass aufgrund von dessen nunmehriger Volljährigkeit eine Familienzusammenführung im Wege des § 35 AsylG 2005 nicht mehr in Betracht komme. Diese Entscheidung sei in Rechtskraft erwachsen. Weniger als zwei Monate nach Eintritt der Volljährigkeit des Zusammenführenden hätten die revisionswerbenden Parteien die Österreichische Botschaft Kairo erneut kontaktiert, um die gegenständlichen, „inhaltsgleichen“ Anträge gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG zu stellen. Dort habe man ihnen allerdings mitgeteilt, dass sie sich bei der elektronischen Terminvergabe anmelden müssten, bei der ihnen erst für den 13. Oktober 2021 ein Termin zugeteilt worden sei. Die persönliche Antragstellung sei am 13. Oktober 2021 bei der Österreichischen Botschaft Kairo erfolgt.

6 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, in Anbetracht der Rechtslage sowie angesichts der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0218, VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609 bis 0611, sowie VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0568) bestehe keine rechtliche Grundlage dafür, dass nach einem Verfahren gemäß § 35 AsylG 2005 mit negativem Ausgang noch ein zweites Verfahren gemäß § 46 NAG geführt und dass die Überschreitung der Dreimonatsfrist in diesem „Zweitverfahren“ damit gerechtfertigt werden könnte, dass man den Ausgang des ersten Verfahrens (nach § 35 AsylG 2005) habe abwarten wollen. Die „zweifache Berücksichtigung“ der Richtlinie 2003/86/EG gewährleiste nur, dass die Vorgaben dieser Richtlinie in beiden Verfahren (jenem nach dem AsylG 2005 sowie jenem nach dem NAG) eingehalten werden könnten. Hingegen sei weder aus der genannten Richtlinie noch aus der Tatsache ihrer „zweifachen Umsetzung“ noch aus der dazu ergangenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung abzuleiten, dass dem Elternteil des Asylberechtigten hintereinander zwei Gelegenheiten zur Verfügung stünden, um mit seinem Antrag auf Familienzusammenführung durchzudringen. Folglich sei der gegenständliche Antrag der Erstrevisionswerberin abzuweisen gewesen, was auch die Abweisung der Anträge der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien zur Konsequenz habe.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die in ihrer Zulässigkeitsbegründung - unter dem Aspekt einer Abweichung von der hg. Rechtsprechung - u.a. geltend macht, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass in der vorliegenden Konstellation die nach Abweisung der Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln gemäß § 35 AsylG 2005 erfolgte Beantragung von Aufenthaltstiteln nach dem NAG zwecks Familienzusammenführung mit dem mittlerweile volljährigen Zusammenführenden nicht als unzulässig zu betrachten sei.

8 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision erweist sich aus dem von ihr dargelegten Grund als zulässig. Sie ist auch begründet.

10 Gemäß Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG gestatten die Mitgliedstaaten, wenn es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, ungeachtet der in Art. 4 Abs. 2 lit. a genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung.

11 Gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 206/2021 ist im Sinne dieses Bundesgesetzes Familienangehöriger, wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben.

12 Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 106/2022 ein Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, und ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht gilt.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mit Hinweis auf den asylspezifischen Zweck des § 35 AsylG 2005 entschieden, dass die Familienzusammenführung in Fällen, in denen den nachziehenden Familienangehörigen ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 nach Einreise in das Bundesgebiet nicht offensteht, über das NAG zu erfolgen habe (siehe grundlegend VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609 bis 0611, Rn. 27 ff.).

14 Die Vorgangsweise der revisionswerbenden Parteien, die zu einem Zeitpunkt, als der Zusammenführende minderjährig war und als die Konstellation noch § 34 Abs. 2 AsylG 2005 unterlag, die Familienzusammenführung gemäß § 35 AsylG 2005 beantragten und die angesichts der nachfolgend eingetretenen Volljährigkeit des Zusammenführenden (die dazu führte, dass die Konstellation § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht mehr unterlag, weshalb ihre auf § 35 AsylG 2005 gestützten Anträge abgewiesen wurden) den Weg einer Antragstellung gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG beschritten, entsprach der zu diesen Bestimmungen insbesondere im Lichte der Urteile EuGH 12.4.2018, A und S, C‑550/16, sowie EuGH 7.11.2018, K und B, C‑380/17, ergangenen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0568, Rn. 25, sowie erneut VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609 bis 0611, Rn. 27 ff; siehe ferner aus vielen VwGH 24.5.2018, Ra 2018/19/0042, Rn. 8/9; VwGH 29.5.2018, Ro 2018/20/0003 bis 0010, Rn. 8/9). Dass den gegenständlichen Anträgen der revisionswerbenden Parteien auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach dem NAG aufgrund der vorangegangenen Verfahren gemäß § 35 AsylG 2005 der Erfolg zu versagen wäre, ist somit entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts aus der hg. Judikatur gerade nicht abzuleiten. Schon insoweit hat das Verwaltungsgericht die Rechtslage verkannt.

15 Im Übrigen ist auf das jüngst ergangene Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) (GK) 30.1.2024, CR, GF, TY gegen Landeshauptmann von Wien, C‑560/20, Rz. 41 bis 43, zu verweisen. Das dort zu beurteilende Ausgangsverfahren betraf eine Situation, in der ‑ wie hier ‑ zu einem Zeitpunkt, als der Zusammenführende minderjährig war, Anträge auf Familienzusammenführung gemäß § 35 AsylG 2005 gestellt und nach Abweisung dieser Anträge wegen mittlerweile eingetretener Volljährigkeit des Zusammenführenden Anträge auf Familienzusammenführung gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG eingebracht wurden.

16 In dem genannten Urteil vom 30. Jänner 2024 hat der EuGH (unter Bezugnahme auf sein Urteil EuGH 12.4.2018, A und S, C‑550/16) ausgesprochen, dass Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG dahin auszulegen ist, dass die Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, wenn dieser zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährig ist und im Laufe des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird, nach dieser Bestimmung nicht dazu verpflichtet sind, den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit diesem Flüchtling innerhalb einer bestimmten Frist zu stellen, um das Recht auf Familienzusammenführung auf diese Bestimmung stützen und die darin vorgesehenen günstigeren Bedingungen in Anspruch nehmen zu können.

17 Im vorliegenden Fall wurden die Anträge auf Familienzusammenführung gemäß § 35 AsylG 2005 vor Eintritt der Volljährigkeit des Zusammenführenden gestellt. Eine Frist war dafür nicht einzuhalten (vgl. erneut EuGH C‑560/20, Rz. 41 bis 43).

18 Das Familienzusammenführungsverfahren der revisionswerbenden Parteien wurde zudem nur deshalb „zweistufig“ geführt, weil über ihre auf § 35 AsylG 2005 gestützten Anträge erst nach Eintritt der Volljährigkeit des Zusammenführenden entschieden wurde (vgl. dazu Rn. 14). Dass dieser Umstand nichts daran zu ändern vermag, dass der im Mai 2021 volljährig gewordene Zusammenführende in den anschließenden Verfahren nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG (Kontaktaufnahme mit der Österreichischen Botschaft Kairo zwecks Antragstellung am 7. Juli 2021; erster zugeteilter Termin am 13. Oktober 2021 und Antragstellung an diesem Tag) weiterhin als minderjährig zu betrachten ist, unterliegt keinem Zweifel (siehe in diesem Zusammenhang VwGH 9.9.2020, Ra 2017/22/0021, Pkt. 7; vgl. ferner EuGH 1.8.2022, SW, BL und BC, C‑273/20 und C‑355/20, Rz. 41 ff.; EuGH [GK] 30.1.2024, C-560/20, Rz. 28).

19 Eine Abweisung des gegenständlichen Antrags der Erstrevisionswerberin (der Mutter des Zusammenführenden, bei dem es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinn der Richtlinie 2003/86/EG gehandelt hat) aus den im angefochtenen Erkenntnis angeführten Gründen erweist sich folglich als rechtswidrig.

20 Daraus folgt auch die Rechtswidrigkeit der Abweisung der Anträge der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien, obgleich die revisionswerbenden Geschwister des Zusammenführenden unabhängig vom Zeitpunkt der jeweiligen Antragstellung sowie unabhängig von ihrem Alter bzw. dem Alter des Zusammenführenden nicht nur nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht als Familienangehörige zu qualifizieren sind, sondern auch ‑ anders als die Erstrevisionswerberin ‑ von vornherein nicht zu dem in Art. 10 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2003/86/EG genannten Personenkreis zählen. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels für die zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien käme nämlich dann in Betracht, wenn dies durch Art. 8 EMRK geboten wäre, was fallbezogen durch das Verwaltungsgericht (wegen der in Verkennung der Rechtslage erfolgten Abweisung des Antrags der Erstrevisionswerberin) nicht geprüft wurde (zu alldem siehe VwGH 18.11.2021, Ro 2021/22/0006 bis 0011, Rn. 26 bis 29).

21 Aus den dargelegten Erwägungen belastete das Verwaltungsgericht Wien das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

22 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff, insbesondere auf § 53 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren war abzuweisen, weil in dem in der genannten Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits enthalten ist (VwGH 28.11.2023, Ra 2022/22/0043, Rn. 25). Die ebenfalls geltend gemachte Eingabengebühr war nicht zuzusprechen, weil den revisionswerbenden Parteien diesbezüglich mit dem Beschluss VwGH 11.5.2023, Ra 2023/22/0080 bis 0084‑3, Verfahrenshilfe gewährt worden war.

Wien, am 23. Februar 2024

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