Normen
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §35
AsylG 2005 §35 Abs2a
AsylG 2005 §60 Abs2
EURallg
NAG 2005 §2 Abs1 Z9
NAG 2005 §46
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 litc
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art10 Abs3
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art10 Abs3 lita
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art12 Abs1
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art12 Abs1 Unterabsatz 1
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art12 Abs1 Unterabsatz 3
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art7 Abs1
62016CJ0550 A und S VORAB
62017CJ0380 K und B VORAB
62020CJ0560 CR u.a. VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2024:RA2020220199.L00
Spruch:
Die angefochtenen Beschlüsse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die mitbeteiligten Parteien sind syrische Staatsangehörige und die Eltern des am 5. Juni 1998 geborenen A. Dieser war als unbegleiteter Minderjähriger nach Österreich eingereist und hatte am 15. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26. April 2017 war A der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden.
2 Am 21. Juni 2018 stellten die mitbeteiligten Parteien bei der Österreichischen Botschaft Damaskus jeweils einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 AsylG 2005. Diese Anträge wurden mit Bescheiden vom 4. Dezember 2018 unter Hinweis darauf, dass der Sohn der mitbeteiligten Parteien bereits volljährig sei, weshalb keine „gesetzliche Familieneigenschaft“ vorliege, abgewiesen.
3 Am 13. Februar 2019 stellten die mitbeteiligten Parteien im Wege der Österreichischen Botschaft Damaskus jeweils einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“. Mit Schreiben der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht (BH Urfahr-Umgebung) vom 28. März 2019 wurden die mitbeteiligten Parteien zur Vorlage von Unterlagen, unter anderem eines Nachweises über einen Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Unterkunft, einen in Österreich leistungspflichtigen und alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz sowie einen gesicherten Lebensunterhalt aufgefordert.
4 Daraufhin legten die mitbeteiligten Parteien mit Stellungnahme vom 15. April 2019 insbesondere unter Berufung auf die Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. April 2018, C‑550/16, A und S, sowie die darauf aufbauende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 3. Mai 2018, Ra 2017/19/0609, dar, dass ihnen die beantragten Aufenthaltstitel unabhängig von der Vorlage von Nachweisen über eine ortsübliche Unterkunft, eine ausreichende Krankenversicherung sowie einen gesicherten Lebensunterhalt zu erteilen seien.
5 Nach Übermittlung einer „Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme“ vom 19. Juni 2019 durch die BH Urfahr-Umgebung erstatteten die mitbeteiligten Parteien eine weitere Stellungnahme, in der sie sich neuerlich auf die bereits zitierte Rechtsprechung und darauf beriefen, dass ihnen die beantragten Aufenthaltstitel zu erteilen seien.
6 Mit Bescheiden der BH Urfahr-Umgebung vom 26. Juli 2019 wurden die Anträge der mitbeteiligten Parteien auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG jeweils abgewiesen. In den Bescheidbegründungen wurde unter Bezugnahme auf die von den mitbeteiligten Parteien in ihren Stellungnahmen angeführte Rechtsprechung dargelegt, dass im Hinblick auf die während dessen Asylverfahrens eingetretene Volljährigkeit ihres Sohnes eine Familienzusammenführung mit diesem aufgrund von § 35 AsylG 2005 nicht in Betracht komme. Weiters wurde ausgeführt, dass der EuGH in seiner Entscheidung vom 12. April 2018, C-550/16, A und S, zwar ausgesprochen habe, dass ein Zusammenführender auch dann als „unbegleiteter Minderjähriger“ iSd Art. 10 Abs. 3 lit. a RL 2003/86 anzusehen sei, wenn er während seines Asylverfahrens volljährig geworden sei; dies gelte nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch nur dann, wenn die Antragstellung auf Familienzusammenführung binnen drei Monaten ab Zuerkennung des Flüchtlingsstatus erfolge. Die mitbeteiligten Parteien hätten ihren Antrag auf Familienzusammenführung nach § 46 NAG nicht innerhalb von drei Monaten ab Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft am 26. April 2017 an ihren während seines Asylverfahrens volljährig gewordenen Sohn gestellt.
7 Gegen diese Bescheide erhoben die mitbeteiligten Parteien jeweils fristgerecht Beschwerde. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich gab diesen Beschwerden mit den nunmehr angefochtenen Beschlüssen vom 24. Juni 2020 jeweils statt, behob die angefochtenen Bescheide und verwies die Verfahren zur Erlassung neuer Bescheide jeweils an die Behörde erster Instanz zurück. Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht jeweils gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für zulässig.
8 In seiner Entscheidungsbegründung verwies das Verwaltungsgericht zunächst darauf, dass die mitbeteiligten Parteien als Mutter bzw. Vater ihres volljährigen Sohnes nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG jeweils nicht als dessen „Familienangehörige“ anzusehen seien. Allerdings habe der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung dargetan, dass es zur Vermeidung verfassungswidriger oder unionsrechtswidriger Ergebnisse geboten sein könne, im Einzelfall den in der Bestimmung über die Familienzusammenführung in § 46 NAG verwendeten Begriff „Familienangehöriger“ von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG „zu entkoppeln“ (Hinweis auf VwGH 20.7.2016, Ra 2016/22/0025).
9 Weiters führte das Verwaltungsgericht ins Treffen, der EuGH habe in seiner Entscheidung vom 12. April 2018, C-550/16, A und S, ausgesprochen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates und der Stellung seines Asylantrages minderjährig war und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ iSd Art. 10 Abs. 3 lit a RL 2003/86 anzusehen sei. Allerdings habe der EuGH auch ausgeführt, dass es mit dem Ziel der RL 2003/86 unvereinbar wäre, wenn sich ein Flüchtling, der zum Zeitpunkt seines Antrages die Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen besessen habe, aber während seines Asylverfahrens volljährig geworden sei, ohne jede zeitliche Begrenzung auf diese Vorschrift berufen könne, um eine Familienzusammenführung zu erwirken. Deshalb sei nach dieser Rechtsprechung des EuGH in einer solchen Situation ein Antrag auf Familienzusammenführung grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden sei.
10 Die mitbeteiligten Parteien hätten ihren Antrag auf Familienzusammenführung nach § 46 NAG am 13. Februar 2019 und damit ein Jahr und zehn Monate nach der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an ihren bereits während seines Asylverfahrens volljährig gewordenen Sohn gestellt. Die nach der Rechtsprechung des EuGH „grundsätzlich“ anzuwendende Frist von drei Monaten sei damit deutlich überschritten worden.
11 Allerdings habe es der EuGH in einer weiteren Entscheidung zur Frage der Einhaltung der Dreimonatsfrist nach Art. 12 Abs. 1 UAbs. 3 RL 2003/86 , demgemäß es den Mitgliedstaaten freisteht, bei der Familienzusammenführung mit einem Flüchtling Nachweise über eine ortsübliche Unterkunft, eine ausreichende Krankenversicherung und einen gesicherten Lebensunterhalt zu verlangen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde, für maßgeblich erachtet, ob die Versäumung der Frist „aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar“ gewesen sei (Hinweis auf EuGH, 7. November 2018, C‑380/17, K und B). Aufgrund des Verweises auf Art. 12 RL 2003/86 im Urteil des EuGH vom 12. April 2018, C-550/16, A und S, sei davon auszugehen, dass diese Rechtsprechung auch auf die entscheidungsgegenständliche Konstellation übertragbar sei.
12 Fallbezogen sei davon auszugehen, dass die Nichteinhaltung der dreimonatigen Frist durch die mitbeteiligten Parteien „objektiv entschuldbar“ sei, da sie nach ihrem Vorbringen erst mit der Abweisung ihrer Anträge nach § 35 AsylG 2005 darüber informiert worden seien, dass sie innerhalb einer dreimonatigen Frist einen Antrag nach § 46 NAG zu stellen gehabt hätten. Auch sei ihnen ‑ der Antragstellung nach § 35 AsylG 2005 zeitlich vorgelagert ‑ aufgrund einer Anfrage bezüglich einer „Asyl-Zusammenführung“ mit ihrem Sohn ein „Befragungsformular im Einreiseverfahren gemäß § 35 AsylG 2005“ übermittelt worden.
13 Zur Zurückverweisung gemäß § 28 VwGVG führte das Verwaltungsgericht ins Treffen, die Behörde habe sich, „ohne auf die weiteren Aspekte und Voraussetzungen des NAG einzugehen“, auf die Frage konzentriert, ob die mitbeteiligten Parteien ihre Anträge „rechtzeitig“ gestellt hätten. Daher sei „die diesbezügliche Sachverhaltsermittlung und Darstellung unberücksichtigt“ geblieben. Dies gelte insbesondere für die Voraussetzungen für die Erteilung des jeweils beantragten Aufenthaltstitels, die von der Behörde „effektiv“ erhoben werden könnten.
14 Die Zulassung der ordentlichen Revision begründete das Verwaltungsgericht damit, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage fehle, ob die in der Rechtsprechung des EuGH zum Ausdruck kommende „grundsätzlich dreimonatige Frist“ auch in jenen Fällen gelten solle, in denen der Asylstatus vor dem einschlägigen EuGH-Urteil vom 12. April 2018, C‑550/16, zuerkannt worden sei.
15 Gegen diese Beschlüsse richten sich die vorliegenden ordentlichen Amtsrevisionen mit dem Antrag, den jeweils angefochtenen Beschluss wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, hilfsweise wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Die mitbeteiligten Parteien erstatteten keine Revisionsbeantwortung.
17 Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revisionsverfahren wegen ihres persönlichen, sachlichen und rechtlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung sowie Entscheidung verbunden und erwogen:
18 Zur Begründung der Zulässigkeit seiner Revisionen verweist der Revisionswerber zunächst auf die Zulassungsbegründung des Verwaltungsgerichtes und macht diesbezüglich im Übrigen geltend, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dem Begriff der „besonderen Umstände“, die ein „Versäumen der Drei‑Monats‑Frist“ objektiv entschuldbar machten. Mit diesem Vorbringen wird jedoch die Zulässigkeit der vorliegenden Amtsrevisionen nicht aufgezeigt.
19 Wie der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits festgehalten hat, hat der EuGH in seinem Urteil vom 12. April 2018, C-550/16, A und S, für den speziellen Fall des Erreichens der Volljährigkeit während des anhängigen Asylverfahrens ausgesprochen, dass der Antrag auf Familienzusammenführung in einem engen zeitlichen Konnex - grundsätzlich innerhalb von drei Monaten - zu der Entscheidung über die Anerkennung des Minderjährigen als Flüchtling zu erfolgen hat, und hat er damit die Möglichkeit des begünstigten Familiennachzugs zu unbegleiteten Minderjährigen gemäß Art. 10 Abs. 3 RL 2003/86 auf die Zeit nach Erreichen der Volljährigkeit der Asylberechtigten ausgedehnt. Dies jedoch wiederum unter Berücksichtigung der Dreimonatsfrist nach Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86 (vgl. VwGH 8.2.2021, Ro 2020/22/0014, Rn. 8).
20 Diese Auslegung des Art. 10 Abs. 3 RL 2003/86 hat der EuGH jüngst in seinem Urteil vom 30. Jänner 2024, C‑560/20, CR ua, nochmals bekräftigt und dabei klargestellt, dass mit dem Erfordernis der Einhaltung einer solchen Frist insbesondere die Gefahr verhindert werden soll, dass das Recht auf Familienzusammenführung in dem Fall, dass der Flüchtling bereits während des Asylverfahrens und somit noch vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, ohne jede zeitliche Begrenzung geltend gemacht werden kann (vgl. Rn. 39).
21 Vor diesem Hintergrund ist zunächst beachtlich, dass der Sohn der mitbeteiligten Parteien, dem mit Bescheid vom 26. April 2017 der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, am 5. Juni 2016 volljährig geworden war. Die mitbeteiligten Parteien stellten - nachdem ihre zunächst am 21. Juni 2018 gestellten Anträge nach § 35 AsylG 2005 abgewiesen worden waren - die nunmehr verfahrensgegenständlichen Anträge nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG am 13. Februar 2019 und sohin rund ein Jahr und zehn Monate nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Zusammenführenden. Damit haben die mitbeteiligten Parteien die verfahrensgegenständlichen Anträge auf Familienzusammenführung nicht in der nach den Entscheidungen des EuGH vom 12. April 2018, C-550/16, A und S, und vom 30. Jänner 2024, C‑560/20, CR ua, für eine Berufung auf Art. 10 Abs. 3 lit. a RL 2003/86 bei Eintritt der Volljährigkeit während des Asylverfahrens grundsätzlich maßgeblichen Frist von drei Monaten nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an ihren Sohn gestellt.
22 Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits auf das Urteil des EuGH vom 7. November 2018, C-380/17, K und B, hingewiesen, wonach Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86 einer nationalen Regelung, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung, der für einen Familienangehörigen eines Flüchtlings gemäß den für Flüchtlinge geltenden günstigeren Bestimmungen des Kapitels V dieser Richtlinie gestellt worden ist, abgelehnt werden kann, weil er mehr als drei Monate nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus an den Zusammenführenden gestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern diese Regelung unter anderem vorsieht, dass ein solcher Ablehnungsgrund in Fällen unzulässig ist, in denen die verspätete Stellung des ersten Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist. Der EuGH hat dargelegt, dass Art. 12 Abs. 1 UAbs. 3 RL 2003/86 klarstellt, dass die Mitgliedstaaten von dem Flüchtling die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 RL 2003/86 genannten Voraussetzungen verlangen können, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wurde. Diese Bestimmung kann nicht dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten davon auszugehen hätten, dass die Überschreitung ‑ ohne triftigen Grund ‑ der Frist für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung nach der in Art. 12 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2003/86 vorgesehenen günstigeren Regelung nur ein Gesichtspunkt ist, der neben weiteren bei der Gesamtbeurteilung der Begründetheit dieses Antrags zu berücksichtigen ist und durch andere Erwägungen ausgeglichen werden kann. Eine nationale Regelung, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung abgelehnt werden kann, weil er mehr als drei Monate, nachdem dem Zusammenführenden der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden war, gestellt wurde, die jedoch die Möglichkeit bietet, im Rahmen einer anderen Regelung einen neuen Antrag zu stellen, ist als solche nicht geeignet, die Ausübung des durch die Richtlinie verliehenen Rechts auf Familienzusammenführung praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Allerdings verhielte es sich anders, wenn die Ablehnung des ersten Antrags auf Familienzusammenführung in Fällen erfolgen könnte, in denen die verspätete Stellung dieses Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0568, Rn. 15 f).
23 Der in diesem Urteil des EuGH zum Ausdruck kommende Grundsatz, wonach das Versäumen der in Art. 12 Abs. 1 UAbs. 3 RL 2003/86 genannten dreimonatigen Frist nur dann zur Ablehnung eines Antrages führen darf, wenn die verspätete Antragstellung nicht „aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar“ ist, ist dabei ‑ im Hinblick darauf, dass der EuGH zur Auslegung des Art. 10 Abs. 3 lit a auf ebendiese Bestimmung des Art. 12 Abs. 1 UAbs. 3 RL 2003/86 Bezug genommen hat ‑ zu übertragen.
24 Folglich ist ‑ wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat ‑ in weiterer Folge zu prüfen, ob eine Berufung auf Art. 10 Abs. 3 lit. a RL 2003/86 im gegebenen Fall deshalb zulässig ist, weil die verspätete Stellung der verfahrensgegenständlichen Anträge im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 7. November 2018, C‑380/17, K und B, „aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar“ war.
25 Die einzelfallbezogene Beurteilung, ob eine außerhalb der in Rede stehenden Dreimonatsfrist erfolgte Antragseinbringung „aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar“ war, ist dabei - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - grundsätzlich nicht revisibel. Eine in diesem Sinn unvertretbare Beurteilung des Verwaltungsgerichtes liegt nicht vor.
26 Der Verwaltungsgerichtshof hatte in seiner vor 2018 ergangenen Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Beurteilung, ob ein Einreisetitel zu den in § 35 Abs. 1 AsylG 2005 genannten Zwecken an einen Elternteil eines minderjährigen Kindes auszustellen ist, ‑ vor dem Hintergrund, dass gemäß § 35 Abs. 1 AsylG 2005 (sowohl in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 24/2016 als auch danach) nur „Familienangehörige gemäß Abs. 5“ den maßgeblichen Antrag stellen „können“ ‑ an der Relevanz der in § 35 Abs. 5 AsylG 2005 enthaltenen Definition des „Familienangehörigen“ kein Zweifel bestehen kann, und dass ein Verständnis dahingehend, dass bei antragstellenden Eltern bezüglich des Kriteriums der Minderjährigkeit ihres in Österreich Asyl oder subsidiären Schutz erhalten habenden Kindes auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen wäre, nicht in Betracht kommt (grundlegend VwGH 28.1.2016, Ra 2015/21/0230 und 0231 sowie darauf Bezug nehmend etwa VwGH 26.1.2017, Ra 2016/20/0231 bis 0234, Rn. 12, mwN).
27 Dass ungeachtet dessen, dass gemäß der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nur minderjährige Kinder als Familienangehörige iSd NAG gelten, aufgrund einer ‑ unionsrechtlich gebotenen ‑ Abkoppelung des in § 46 NAG verwendeten Begriffs des Familienangehörigen, eine Berufung auf die Familienangehörigeneigenschaft zum Zwecke der Familienzusammenführung nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG in einer Konstellation, in der ein Kind während seines laufenden Asylverfahrens volljährig geworden ist, auch bei einer Antragstellung innerhalb von drei Monaten ab Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an dieses Kind möglich ist, hat der Verwaltungsgerichtshof ‑ unter Zugrundelegung der diesbezüglichen EuGH‑Entscheidung vom 12. April 2018, C‑550/16, A und S ‑ erstmals mit der Entscheidung VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609, festgehalten.
28 In den in den Amtsrevisionen zitierten früheren Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes war lediglich allgemein auf das Bestehen gesetzlicher Möglichkeiten der Familienzusammenführung und der Stellung entsprechender Einreiseanträge nach dem NAG bzw. dem FPG (Hinweis auf VwGH 21.2.2017, Ra 2016/18/0253 und 0254, Rn. 11) sowie auf die Möglichkeit der Familienzusammenführung nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG zwischen ‑ schon aufgrund des Wortlautes des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG als „Familienangehörige“ anzusehenden ‑ Ehegatten (Hinweis auf VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0218, Rn. 39) verwiesen worden.
29 Entgegen der vom Amtsrevisionswerber vertretenen Auffassung erweist sich die Beurteilung des Verwaltungsgerichtes, es sei aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar gewesen, dass die mitbeteiligten Parteien ihre Anträge auf Familienzusammenführung gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG nicht innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an ihren Sohn, der während seines Asylverfahrens volljährig geworden war, und damit zu einem Zeitpunkt gestellt hatten, als zur entgegen dem klaren Gesetzeswortlaut bestehenden Möglichkeit einer solchen Antragstellung noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vorgelegen hatte, als nicht unvertretbar.
30 Als ebenso nicht unvertretbar erweist sich die Annahme des Verwaltungsgerichtes, dass die infolge der vorgelagerten Einbringung von Anträgen nach § 35 AsylG 2005 erst nach deren Abweisung mit Bescheiden vom 4. Dezember 2018 nochmals verzögerte Einbringung der nunmehr verfahrensgegenständlichen Anträge nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG am 13. Februar 2019 gleichermaßen „aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar“ war. Aufgrund der Feststellungen in den angefochtenen Beschlüssen ‑ denen die Amtsrevisionen nicht entgegengetreten sind ‑ hatte der Sohn der mitbeteiligten Parteien mit einer E-Mail unter dem Betreff „Asyl‑Familienzusammenführung“ um Übermittlung von Antragsformularen ersucht und war ihm daraufhin von der Österreichischen Botschaft Damaskus ein Befragungsformular im Einreiseverfahren gemäß § 35 AsylG 2005 übermittelt worden. Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls vertretbar, den Umstand, dass zunächst fälschlicherweise Anträge nach § 35 AsylG 2005 gestellt worden sind, nicht den mitbeteiligten Parteien anzulasten, zumal sie in der Folge in unmittelbarem zeitlichen Konnex mit der Abweisung dieser Anträge die verfahrensgegenständlichen Anträge nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. c NAG gestellt haben.
31 Die von den Amtsrevisionen in dieser Hinsicht ins Treffen geführte Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B‑VG liegt daher nicht vor.
32 Des Weiteren machen die Amtsrevisionen zur Begründung ihrer Zulässigkeit aber auch geltend, das Verwaltungsgericht sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGG abgewichen. Mit diesem Vorbringen erweisen sich die vorliegenden Amtsrevisionen als zulässig, sie sind auch berechtigt.
33 Zu den für kassatorische Entscheidungen gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG geltenden Voraussetzungen ist auf das Erkenntnis VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063 (siehe insbesondere Pkt. II.B.2.6.), zu verweisen. Demnach ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt. Die nach § 28 VwGVG verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidungspflicht sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt hat oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allfälligen mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (vgl. VwGH 24.8.2023, Ra 2022/22/0028, Rn. 6, mwN).
34 Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits hervorgehoben, dass das Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen hat, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit (ausnahmsweise) als nicht gegeben annimmt. Das Verwaltungsgericht hat daher darzulegen, dass und aus welchen Gründen die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung nach § 28 Abs. 2 VwGVG nicht erfüllt sind, insbesondere in welcher Weise der entscheidungsrelevante Sachverhalt nicht feststeht und inwiefern allenfalls erforderliche Ergänzungen nicht vom Verwaltungsgericht selbst vorzunehmen wären (vgl. neuerlich VwGH 24.8.2023, Ra 2022/22/0028, Rn. 7, mwN).
35 Zwar ist es fallbezogen zutreffend, dass es die BH Urfahr‑Umgebung ‑ ausgehend von der unrichtigen Annahme, den mitbeteiligten Parteien seien die beantragten Aufenthaltstitel schon deshalb nicht zu erteilen, weil sie nicht als Familienangehörige des Zusammenführenden iSd § 46 iVm § 2 Abs. 1 Z 9 NAG anzusehen seien ‑ unterlassen hat, weitere Ermittlungsschritte zum Vorliegen der weiteren Erteilungsvoraussetzungen der beantragten Aufenthaltstitel zu setzen. Alleine mit der vom Verwaltungsgericht ins Treffen geführten Annahme, die Behörde könne die notwendigen Erhebungen „effektiv“ durchführen, vermag es jedoch nicht nachvollziehbar zu begründen, weshalb es davon ausgeht, die Vervollständigung der Tatsachengrundlagen durch das Verwaltungsgericht selbst sei fallbezogen mit besonderen, ausnahmsweise eine Zurückverweisung rechtfertigenden Schwierigkeiten verbunden. Im Übrigen ist den angefochtenen Beschlüssen auch keine Begründung zu entnehmen, warum die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens durch das Verwaltungsgericht selbst nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre (vgl. zu diesem Begründungserfordernis VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0015, Rn. 11, mwN).
36 Da das Verwaltungsgericht somit zu Unrecht eine kassatorische Entscheidung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG getroffen hat, waren die angefochtenen Beschlüsse gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 20. März 2024
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
