Normen
AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §46
AVG §73 Abs1
B-VG Art130 Abs1 Z3
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §8 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022220086.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine 1975 geborene nigerianische Staatsangehörige, beantragte am 24. Juli 2014 ‑ gestützt auf die mit dem ungarischen Staatsangehörigen K B geschlossene Ehe ‑ die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG). Am 10. August 2015 wurde der Revisionswerberin die beantragte Karte mit einer Gültigkeit bis zum 27. Juli 2020 vom Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) ausgefolgt.
2 Am 7. Mai 2020 (bei der belangten Behörde eingelangt am 25. Juni 2020) beantragte die Revisionswerberin die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gemäß § 54a NAG. Mit Schreiben vom 23. November 2020 forderte die belangte Behörde die Revisionswerberin auf, eine Reihe näher bezeichneter Unterlagen (wie etwa Nachweise über den tatsächlichen Aufenthalt von K B in einem bestimmten Zeitraum sowie über ausreichende Existenzmittel) vorzulegen oder den Antrag auf Ausstellung einer (bloßen) Aufenthaltskarte zu modifizieren und den Nachweis über ein aufrechtes Dienstverhältnis von K B (oder eine AMS‑Bestätigung) vorzulegen. Am 21. Dezember 2020 modifizierte die Revisionswerberin ihren Antrag auf Ausstellung einer (weiteren) Aufenthaltskarte und übermittelte eine Anmeldung von K B bei der ÖGK.
3 Am 22. März 2021 erhob die Revisionswerberin eine erste Säumnisbeschwerde, die mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 7. Mai 2021 mangels überwiegenden Verschuldens der belangten Behörde abgewiesen wurde.
4 Am 14. Februar 2022 erhob die Revisionswerberin erneut eine Säumnisbeschwerde.
5 Am 17. Februar 2022 übermittelte die (mit Schreiben der belangten Behörde vom 18. November 2021 vom Verdacht des Vorliegens einer Aufenthaltsehe zwischen der Revisionswerberin und K B verständigte und um diesbezügliche Erhebungen ersuchte) Landespolizeidirektion (LPD) Wien eine Sachverhaltsdarstellung an die belangte Behörde, in der abschließend festgehalten wurde, dass von einer Aufenthaltsehe ausgegangen werde.
6 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 21. April 2022 wies das Verwaltungsgericht Wien die (weitere) Säumnisbeschwerde der Revisionswerberin gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG ab. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG für unzulässig erklärt.
7 Begründend hielt das Verwaltungsgericht zunächst fest, es sei nicht ersichtlich, dass die Revisionswerberin die (im Schreiben der belangten Behörde vom 23. November 2020) angeforderten Unterlagen vorgelegt habe. Das seitens der belangten Behörde am 18. November 2021 an die LPD Wien gestellte Ermittlungsersuchen sei nach der Aktenlage noch offen.
8 In der Folge prüfte das Verwaltungsgericht, ob die Modifikation des Antrags vom 7. Mai 2020 auf (nunmehr) Ausstellung einer „Aufenthaltskarte“ eine wesentliche Antragsänderung iSd § 13 Abs. 8 AVG darstelle und verneinte dies mit näherer Begründung. Die Entscheidungsfrist sei demnach am 27. Dezember 2020 abgelaufen. Allerdings habe die Revisionswerberin die von der belangten Behörde verlangten, konkret bezeichneten Unterlagen nur teilweise vorgelegt. Die Versäumung der abgelaufenen Entscheidungsfrist sei daher in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Revisionswerberin der Aufforderung zur Vorlage von Unterlagen nicht nachgekommen sei. Dies sei ‑ neben dem unerledigten Ermittlungsersuchen an die LPD Wien ‑ für den Eintritt der Fristversäumnis ausschlaggebend gewesen. In Ermangelung eines überwiegenden Verschuldens der Behörde sei die Säumnisbeschwerde daher abzuweisen gewesen.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
10 Die belangte Behörde nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:
11 Die Revisionswerberin bringt vor, sie habe keinerlei Schritte gesetzt oder unterlassen, die einer raschen Entscheidungsfindung entgegenstanden wären. Sie habe alle Unterlagen vorgelegt, die im Hinblick auf die Modifizierung ihres Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte erforderlich gewesen seien. Die Befassung der LPD Wien sei grundlos erfolgt und die belangte Behörde habe den Verfahrensablauf überwiegend schuldhaft verzögert. Das angefochtene Erkenntnis weiche somit von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab.
12 Die Revision ist im Hinblick darauf unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig und aus nachstehenden Erwägungen auch berechtigt.
13 Gemäß dem die Frist zur Erhebung der Säumnisbeschwerde regelnden § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B‑VG (Säumnisbeschwerde) erhoben werden, wenn die Behörde die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten, wenn gesetzlich eine kürzere oder längere Entscheidungsfrist vorgesehen ist, innerhalb dieser entschieden hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Sachentscheidung bei der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.
14 Unstrittig ist im vorliegenden Fall, dass die der belangten Behörde nach Einlangen des verfahrensgegenständlichen Antrags der Revisionswerberin zur Verfügung stehende Entscheidungsfrist zum Zeitpunkt der Erhebung der Säumnisbeschwerde bereits abgelaufen war. Strittig ist allerdings, ob die Verzögerung auf ein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde zurückzuführen war. Das Verwaltungsgericht erachtete die unterlassene Vorlage aller abverlangten Unterlagen durch die Revisionswerberin sowie das unerledigte Ermittlungsersuchen der belangten Behörde an die LPD Wien als für den Eintritt der Fristversäumnis ausschlaggebend und verneinte dem zufolge ein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde.
15 Zum zweiten vom Verwaltungsgericht ins Treffen geführten Aspekt (dem „unerledigten Ermittlungsersuchen“) ist festzuhalten, dass seitens der belangten Behörde erst im November 2021 ‑ und somit ca. elf Monate nach Ablauf der Entscheidungsfrist ‑ eine Verständigung der LPD Wien gemäß § 37 Abs. 4 NAG erfolgte, sodass ‑ abgesehen davon, dass sich im vorgelegten Verwaltungsakt ein vor der Vorlage der Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht bei der belangten Behörde eingelangter Erhebungsbericht der LPD Wien vom 17. Februar 2022 findet ‑ dieses Ermittlungsersuchen jedenfalls nicht geeignet ist, ein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde auszuschließen.
16 Zu der vom Verwaltungsgericht ins Treffen geführten Verletzung der Mitwirkungspflicht durch die Revisionswerberin ist wiederum Folgendes anzumerken:
17 Zunächst ist zum Verhältnis zwischen dem Grundsatz der Amtswegigkeit und der Verpflichtung der Partei zur Mitwirkung auf die Ausführungen im Erkenntnis VwGH 19.6.2018, Ra 2018/03/0021, Rn. 23 bis 26, zu verweisen. Dort hat der Verwaltungsgerichtshof abschließend festgehalten, dass die Verletzung der Obliegenheit einer Partei zur Mitwirkung bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes die belangte Behörde nicht von ihrer Verpflichtung enthebt, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt überhaupt festzustellen.
18 Auch im Zusammenhang mit einer Säumnisbeschwerde in einer Angelegenheit nach dem NAG hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass selbst eine Verletzung der Mitwirkungspflicht durch die Antragstellerin nicht dazu führen kann, dass die Behörde von ihrer Verpflichtung entbunden wird, über den Antrag innerhalb der Entscheidungsfrist einen Bescheid zu erlassen (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0089, Rn. 13, mwN).
19 Das Verwaltungsgericht hätte daher im vorliegenden Fall ‑ unabhängig davon, ob die in der Aufforderung vom 23. November 2020 abgeforderten Unterlagen für die Entscheidung über den auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte modifizierten Antrag alle notwendig gewesen wären und gegenständlich somit überhaupt eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorlag ‑ die nicht erfolgte Vorlage einzelner Unterlagen nicht als schuldhaftes Verhalten der Revisionswerberin im Rahmen der Abwägung des überwiegenden Verschuldens iSd § 8 Abs. 1 VwGVG werten dürfen, das die belangte Behörde an der fristgerechten Entscheidung gehindert hat. Vielmehr hätte die belangte Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) eine allenfalls unterbliebene Mitwirkung der Revisionswerberin würdigen und ihre (im Fall einer fehlenden Mitwirkung allenfalls auch negative) Entscheidung innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist treffen müssen.
20 Die Ansicht des Verwaltungsgerichtes, die Revisionswerberin habe durch die Unterlassung der Vorlage von abverlangten Unterlagen eine fristgerechte Entscheidung durch die belangte Behörde vereitelt, weshalb kein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde iSd § 8 Abs. 1 VwGVG vorliege, erweist sich daher als verfehlt. Das Verwaltungsgericht hätte somit keine abweisende Entscheidung über die Säumnisbeschwerde treffen dürfen.
21 Ausgehend davon war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
22 Die Kostentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren der Revisionswerberin war abzuweisen, weil in dem in der genannten Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits enthalten ist (vgl. VwGH 21.6.2022, Ro 2021/22/0001, Rn. 18, mwN).
Wien, am 24. August 2023
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