Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022200132.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte am 16. April 2015 nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Mit Bescheid vom 8. Mai 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 8. April 2022 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
7 Der Revisionswerber wendet sich in der Begründung der Zulässigkeit der Revision ausschließlich gegen die im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) vorgenommene Interessenabwägung.
8 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. VwGH 15.3.2022, Ra 2022/20/0045 bis 0046, mwN).
9 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 3.3.2022, Ra 2022/14/0042, mwN).
10 Die durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 1.3.2022, Ra 2021/14/0050, mwN).
11 Soweit der Revisionswerber seinen nunmehr fast siebenjährigen Aufenthalt und seine Integration im Bundesgebiet anspricht und rügt, dieser Umstand sei vom Bundesverwaltungsgericht mit der Vorläufigkeit des Aufenthaltsrechts und den damit einhergehenden unsicheren Aufenthaltsstatus relativiert worden, so ist dazu festzuhalten, dass das persönliche Interesse an einem Aufenthalt im Bundesgebiet zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zunimmt, die bloße Aufenthaltsdauer jedoch nicht allein maßgeblich ist, sondern vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. etwa VwGH 9.3.2022, Ra 2022/14/0044 bis 0047, mwN).
12 Richtig ist, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Ansicht vertritt, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. etwa VwGH 28.2.2022, Ra 2022/14/0038, mwN).
13 Daraus ist jedoch nicht – wie die Revision meint - der Umkehrschluss zulässig, dass bei einem Übersteigen der Aufenthaltsdauer von fünf Jahren jedenfalls von einem Überwiegen der privaten Interessen auszugehen ist, wenn ein Fremder gewisse über das gewöhnliche Maß hinausgehende Integrationsschritte gesetzt hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Aufenthalt von unrechtmäßig aufhältigen Fremden ist erst bei einem Aufenthalt von mehr als zehn Jahren regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessenan einem Verbleib in Österreich auszugehen und nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (oder die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels) ausnahmsweise nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen wurde (vgl. etwa aus Vielen VwGH 20.12.2021, Ra 2021/20/0437, mwN).
14 Entgegen dem Revisionsvorbringen berücksichtigte das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen einer ausführlich und sorgfältig begründeten Interessenabwägung sämtliche von der Revision angesprochenen Umstände im Einzelnen, darunter auch den etwas mehr als sechsjährigen Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet sowie seine sozialen und beruflichen Integrationsbemühungen. Entgegen den Revisionsausführungen traf das Bundesverwaltungsgericht auch Feststellungen zu der Selbsterhaltungsfähigkeit sowie zur beruflichen Integration des Revisionswerbers. Inwiefern das Bundesverwaltungsgericht darüber hinaus dazu verpflichtet gewesen wäre, Feststellungen zu einem allfälligen Krankenversicherungsschutz bzw. der Unterkunftnahme des Revisionswerbers zu treffen und weshalb sich daraus die Unvertretbarkeit der vorgenommenen Abwägung ergäben hätte, ist dem Zulässigkeitsvorbringen der Revision nicht zu entnehmen.
15 Zutreffend hat das Bundesverwaltungsgericht in seine Erwägungen auch einbezogen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn ‑ wie hier ‑ integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Unvertretbar wäre eine derartige Begründung etwa dann, wenn das Bundesverwaltungsgericht davon ausginge, dass einer in dieser Zeit erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei (vgl. dazu etwa VwGH 8.7.2021, Ra 2021/20/0080, mwN). Dies lag im vorliegenden Fall jedoch nicht vor.
16 Sofern der Revisionswerber darzulegen versucht, dass aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Ansätze erkennbar seien, dass bei einem fünfjährigen Aufenthalt keine außergewöhnlichen Integrationsmerkmale nachzuweisen seien, „was durch den gesetzgeberischen Willen im Hinblick auf § 56 AsylG 2005 und § 11a Abs. 6 StbG gedeckt“ sei, bleibt er die Darlegung einer solchen Judikatur schuldig und wird damit den Anforderungen an eine Zulassungsbegründung nicht gerecht (vgl. VwGH 17.1.2022, Ra 2021/20/0465, mwN). Lediglich pauschale Behauptungen erfüllen diese Voraussetzungen nicht.
17 Soweit der Revisionswerber die überlange Verfahrensdauer anspricht, käme einer solchen lediglich dann Relevanz für den Verfahrensausgang zu, wenn sich während der Verfahrensdauer schützenswerte familiäre oder private Interessen herausgebildet hätten (vgl. VwGH 30.12.2021, Ra 2021/19/0446, mwN). Dass dies hier der Fall wäre, legt die Revision jedoch nicht dar.
18 Im Gesamten gelingt es der Revision nicht aufzuzeigen, dass das Bundesverwaltungsgericht bei seinen im Rahmen der Interessenabwägung vorgenommenen Erwägungen die in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien nicht beachtet oder in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte.
19 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 30. Mai 2022
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