VwGH Ra 2022/09/0059

VwGHRa 2022/09/00598.8.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, Hofrat Mag. Feiel sowie Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die außerordentliche Revision der A B, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 6/5, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich vom 17. Februar 2022, LVwG‑701111/2/KI/CG, betreffend Übertretung des COVID‑19‑Maßnahmengesetzes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Rohrbach), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §44 Abs1
VwGVG 2014 §44 Abs2
VwGVG 2014 §44 Abs3
VwGVG 2014 §44 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022090059.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 1.1. Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom 23. Mai 2021 wurde der Revisionswerberin zur Last gelegt, sie habe sich am 20. Jänner 2021 um 16:00 Uhr in der Gaststube eines näher bezeichneten Gasthauses und somit außerhalb des eigenen privaten Wohnbereiches aufgehalten, obwohl zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 und zur Verhinderung eines Zusammenbruchs der medizinischen Versorgung das Verlassen des eigenen privaten Wohnbereiches und der Aufenthalt außerhalb des eigenen privaten Wohnbereiches in der Zeit vom 15. bis 24. Jänner 2021 nur zu den näher angeführten Zwecken zulässig gewesen sei, wobei es sich bei der Teilnahme an einem Totenmahl um keinen der angeführten Gründe gehandelt habe. Die Revisionswerberin habe dadurch „§§ 8 Abs. 5, 5 Abs. 1 COVID‑19‑MG iVm § 1 Abs. 1 2. COVID‑19‑NotMV, BGBl. II Nr. 598/2020, zuletzt geändert durch BGBl. II Nr. 17/2021“, verletzt, weshalb über sie gemäß „§ 8 Abs. 5 COVID-19-MG, BGBl. I Nr. 12/2020, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 104/2020“, eine Geldstrafe in Höhe von € 140,‑‑ (Ersatzfreiheitsstrafe 2 Tage und 16 Stunden) verhängt sowie ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens in Höhe von € 14,‑‑ festgesetzt wurde.

2 1.2. In der dagegen von der Revisionswerberin erhobenen Beschwerde vom 24. Juni 2021 wurde u.a. die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

3 2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (Verwaltungsgericht) der Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung insofern statt, als die Geldstrafe und die Ersatzfreiheitsstrafe aufgehoben wurden und von der Verhängung einer Strafe unter Erteilung einer Ermahnung abgesehen wurde. Das Verwaltungsgericht sprach zudem aus, dass jegliche Verfahrenskostenbeiträge entfielen und erklärte eine Revision für unzulässig.

4 2.2. Die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht damit, dass seitens der Revisionswerberin kein gegenteiliges Vorbringen zum Sachverhalt geäußert worden sei sowie keine Beweisanträge gestellt oder Beweise namhaft gemacht worden seien. Der zugrundeliegende Sachverhalt sei unstrittig und von der Revisionswerberin zugestanden. In der Beschwerde seien lediglich rechtliche Bedenken geäußert und es sei keine € 500,‑‑ übersteigende Geldstrafe verhängt worden. Der Akt lasse erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse und einem Entfall der Verhandlung stehe weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegen. Von einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 44 Abs. 3 und Abs. 4 VwGVG abgesehen werden können.

5 3.1. Mit der vorliegenden außerordentlichen Revision begehrt die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

6 3.2. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die kostenpflichtige Abweisung der Revision. Aufgrund der Aktenlage sei der Sachverhalt festgestanden, es sei daher vom Verwaltungsgericht zu Recht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet worden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 4.1. Die Revision erweist sich mit ihrem Vorbringen zur Verletzung der Verhandlungspflicht durch das Verwaltungsgericht als zulässig und begründet.

8 4.2. Das Verwaltungsgericht hat gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG in Verwaltungsstrafsachen grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In den Abs. 2 bis 5 leg. cit. finden sich zulässige Ausnahmen von der Verhandlungspflicht. Ein Absehen von der Verhandlung ist nach dieser Bestimmung zu beurteilen und zu begründen (vgl. VwGH 7.6.2016, Ro 2015/09/0012; 14.12.2018, Ra 2018/02/0294, jeweils mwN).

9 4.3. Wenn das Verwaltungsgericht zunächst vermeint, das Unterbleiben der mündlichen Verhandlung trotz des ausdrücklichen Antrages der Revisionswerberin in ihrer Beschwerde auf Durchführung einer solchen auf § 44 Abs. 3 VwGVG stützen zu dürfen, übersieht es hierbei, dass die in dieser Bestimmung normierten Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen. Ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist demnach nur dann zulässig, wenn ‑ neben der Erfüllung einer der Tatbestände des § 44 Abs. 3 VwGVG ‑ keine Partei die Durchführung einer solchen beantragt hat (vgl. hierzu VwGH 22.3.2021, Ra 2020/17/0132, sowie 16.9.2021, Ra 2021/02/0167, jeweils mwN).

10 Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes kommt auch ein Absehen von der Verhandlung nach § 44 Abs. 4 VwGVG nicht in Betracht. Zwar ermöglicht § 44 Abs. 4 VwGVG ungeachtet eines Parteiantrages von der Durchführung einer Verhandlung abzusehen, jedoch setzt dies u.a. eine Beschlussfassung voraus (vgl. VwGH 4.3.2022, Ra 2020/02/0248, mwN).

11 Im Übrigen hätte die Abstandnahme von der Verhandlung auch nicht auf § 44 Abs. 2 VwGVG gestützt werden können, weil das Straferkenntnis mit dem angefochtenen Erkenntnis nicht behoben wurde.

12 4.4. Da somit die Voraussetzungen für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung nach § 44 VwGVG nicht vorlagen, wäre das Verwaltungsgericht verpflichtet gewesen, die beantragte mündliche Verhandlung durchzuführen.

13 5. Dieser Verfahrensmangel war im Hinblick auf Art. 6 EMRK jedenfalls wesentlich und führt zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften (vgl. erneut VwGH 4.3.2022, Ra 2020/02/0248, sowie VwGH 14.9.2020, Ra 2020/02/0162, jeweils mwN), weshalb das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben war.

14 6.1. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

15 6.2. Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 8. August 2022

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