Normen
AVG §33 Abs3
AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
PostmarktG 2009 §3 Z6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §7 Abs4
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021080053.L00
Spruch:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 13. Februar 2020 sprach die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (im Folgenden: SVS) aus, dass der Revisionswerber verpflichtet sei, einen noch offenen Betrag an rückständigen Sozialversicherungsbeiträgen samt Verzugszinsen und Nebengebühren zu zahlen.
2 Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ wegen Verspätung zurück. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig.
3 Nach den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses sei der Bescheid dem Revisionswerber zuhanden seines Vertreters am 17. Februar 2020 zugestellt worden und habe eine zutreffende Rechtsmittelbelehrung über die Möglichkeit der Einbringung einer Beschwerde innerhalb von vier Wochen ab Zustellung enthalten. Die gegen diesen Bescheid mit Schriftsatz vom 13. März 2020 erhobene Beschwerde des Revisionswerbers sei am 25. März 2020 bei der SVS eingelangt. Die Beschwerde sei „mittels Absenderfreistempelmaschine mit 16.03.2020 freigemacht“ worden. Es habe nicht festgestellt werden können, „wann die Beschwerde an die Post (Zustelldienst) übergeben“ worden sei.
4 Diese Feststellungen stützte das Bundesverwaltungsgericht auf den im Akt befindlichen Rückschein, aus dem sich die Zustellung des Bescheides am 17. Februar 2020 ergebe, sowie eine Auskunft der Österreichischen Post AG (betreffend das Datum der Freimachung mittels Absenderfreistempelmaschine). Dass der Zeitpunkt der Übergabe der Beschwerde an die Post nicht habe festgestellt werden können, begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass es sich beim Datum auf dem Briefumschlag bloß um das Datum der Frankierung handle, dass es sich bei der Frankierung mittels Absenderfreistempelmaschine nicht um einen (zum Beweis des „Posteingangs“ tauglichen) Poststempel handle, sondern um einen „Stempel, der seitens des Beschwerdeführers jederzeit angebracht werden konnte“. Den Nachweis für eine rechtzeitige Postaufgabe hätte der Beschwerdeführer erbringen müssen. Es habe „trotz Covid‑19“ zum Zeitpunkt der Aufgabe der Beschwerde keine Gründe gegeben, „die für einen Postlauf von 9 Tagen innerhalb Wiens sprechen würden“, sodass davon auszugehen sei, dass die Beschwerde zwar mit 16. März 2020 frankiert, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich zur Post gegeben worden sei.
5 Der Erlassung des angefochtenen Beschlusses gingen die folgenden Verfahrensschritte voran: Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde vom Revisionswerber bereits im Beschwerdeschriftsatz beantragt. Nachdem die SVS in einer Stellungnahme anlässlich der Beschwerdevorlage an das Bundesverwaltungsgericht die Verspätung der Beschwerde geltend gemacht hatte, richtete das Bundesverwaltungsgericht einen entsprechenden Vorhalt an den Revisionswerber. Dieser brachte in einer Äußerung vom 22. Mai 2020 vor, dass die Beschwerde „am 16.03.2020, innerhalb der vierwöchigen Frist, zur Post gegeben“ worden sei, nahm unter anderem auf einen „entsprechenden Eintrag im Postausgangsbuch“ Bezug und beantragte die Einvernahme eines Zeugen. In einer weiteren Stellungnahme („Beweismittelvorlage“) vom 4. Juni 2020 führte der Revisionswerber unter anderem aus, dass die Beschwerde „mit Datum 16.3.2020 fristgerecht versendet“ worden sei und dies auch durch die „Kopie der diesbezüglichen Seite des Postausgangsbuchs“ sowie durch den (näher genannten) Zeugen „dokumentiert“ werden könne. Der Revisionswerber hielt (in einer weiteren Stellungnahme vom 10. Juli 2020) unter anderem fest, dass „zum Beweis, dass die Beschwerde am 16.3.2020 zur Post gegeben“ worden sei, „bereits die Einvernahme von Zeugen beantragt“ worden sei, „dies für den Fall, dass das Postausgangsbuch nicht zum Beweis ausreichend“ sei und gab weiters (in einer Äußerung vom 31. Juli 2020) bekannt, dass er „sämtliche Beweisanträge betreffend [die] rechtzeitige Beschwerdeerhebung“ aufrecht erhalte.
6 Im Rahmen seiner Begründung für die Abstandnahme von weiteren Beweisaufnahmen und einer mündlichen Verhandlung führte das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss Folgendes aus:
„Für die in der Stellungnahme der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 10.07.2020 beantragten Zeugeneinvernahmen zum Beweis dafür, dass die Beschwerde am 16.03.2020 zur Post gegeben wurde, hat sich aus Sicht des erkennenden Gerichts keine Notwendigkeit ergeben, den als geklärt erscheinenden Sachverhalt durch die Einvernahme der beantragten Zeugen näher zu erörtern (vgl. VwGH 23.01.2003, 2002/20/0533, VwGH 01.04.2004, 2001/20/0291). Es ergibt sich aufgrund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ein hinreichend schlüssiges Gesamtbild, sodass im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu den getroffenen Feststellungen gelangt werden konnte (vgl. VwGH 21.03.1991, 90/09/0097; 19.03.1992, 91/09/0187; 16.10.1997, 96/06/0004; 13.09.2002, 99/12/0139; 12.03.1991, 87/07/0054.“
7 Gegen diesen Beschluss wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ erwogen hat:
8 Die Revision ist aus den in der Zulässigkeitsbegründung der Revision angeführten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.
9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zur Feststellung des Zeitpunktes, in dem das Schriftstück der Post zur Weiterbeförderung übergeben wurde, grundsätzlich der auf der Briefsendung angebrachte Datumsstempel (Poststempel) als Beweismittel heranzuziehen (nichts anderes ergibt sich auch aus dem in der Zulässigkeitsbegründung der vorliegenden Revision ins Treffen geführten Erkenntnis vom 22. April 2010, 2008/09/0247, in dem aber auch festgehalten wurde, dass auch das einem Poststempel zu entnehmende Datum einem Gegenbeweis zugänglich ist).
10 Im Revisionsfall wies der die Beschwerde enthaltende Briefumschlag keinen Poststempel auf, sondern den von einer Absenderfreistempelmaschine herrührenden Aufdruck samt Datum. Dem Freistempelaufdruck kommt weder die Wirkung zu, den Postlauf in Gang zu setzen, noch ‑ insbesondere angesichts einer gegenteiligen amtlichen Beurkundung ‑ ein Beweiswert in der Richtung, dass das Schriftstück an dem im Freistempelaufdruck bezeichneten Tag von der Post in Behandlung genommen worden wäre (VwGH 27.11.2000, 2000/17/0165; 22.12.2011, 2009/15/0133).
11 Fehlt es an einem urkundlichen Nachweis des Zeitpunktes der Postaufgabe, so unterliegt die Beurteilung des Aufgabezeitpunktes der freien Beweiswürdigung (vgl. VwGH 5.4.2017, Ra 2017/11/0003, mit Hinweisen auf VwGH 26.1.1972, 1650/71 [= Slg. Nr. 8154/A ‑ zum Verlust des Briefkuverts]; VwGH 14.3.1980, 3101, 3102/79 [= Slg. Nr. 10.070/A]; 18.1.1995, 93/01/0998; 27.6.1985, 85/16/0031 [zur Unleserlichkeit des Poststempels]).
12 Der Revisionswerber hat zum Nachweis für seine Behauptung, dass der Beschwerdeschriftsatz bereits am 16. März 2020 zur Post gegeben worden sei, unter anderem die Einvernahme eines Zeugen beantragt. Zu der vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Begründung für die Abstandnahme von den beantragten Beweisaufnahmen ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu verweisen, wonach dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht eine antizipierende Beweiswürdigung prinzipiell fremd ist. Eine unzulässige antizipierende Beweiswürdigung liegt dann vor, wenn ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorweggenommen wird. Beweisanträge bzw. eine Aufnahme von Beweisen von Amts wegen dürfen prinzipiell nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel ‑ ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung ‑ untauglich bzw. an sich nicht geeignet ist, über den beweiserheblichen Gegenstand einen Beweis zu liefern (vgl. etwa VwGH 30.7.2021, Ra 2020/17/0130, mwN).
13 Die beantragte Einvernahme kann nicht von vornherein als nicht dazu geeignet erachtet werden, einen Beweis hinsichtlich des Zeitpunkts der Postaufgabe der Beschwerde zu erbringen. Die Revision zeigt daher zutreffend auf, dass (unter anderem) diese Beweisaufnahme in einer mündlichen Verhandlung erforderlich gewesen wäre.
14 Der angefochtene Beschluss war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
15 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014. Eine Eingabengebühr war im Hinblick auf die sachliche Abgabenfreiheit gemäß § 12 SVSG nicht zu entrichten.
Wien, am 24. November 2022
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