VwGH Ra 2021/08/0010

VwGHRa 2021/08/001024.5.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des H B, BA, in W, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. November 2020, W141 2226639‑1/20E, betreffend Verlust des Anspruches auf Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Austria Campus), zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §10
AlVG 1977 §10 Abs1 Z1
AlVG 1977 §38
AlVG 1977 §9 Abs2
AVG §37

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021080010.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Zur Vorgeschichte wird zunächst auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29. September 2020, Ra 2020/08/0104, verwiesen, mit dem das im ersten Rechtsgang ergangene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgrund der Nichtdurchführung der nach § 24 VwGVG gebotenen Verhandlung aufgehoben wurde.

2 Hervorzuheben ist, dass die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Dresdner Straße (nunmehr [vgl. § 4 Arbeitsmarktsprengelverordnung, BGBl. Nr. 928/1994, idF BGBl. II Nr. 283/2019]: Arbeitsmarktservice Wien Austria Campus; in der Folge: AMS) mit Bescheid vom 16. August 2019 aussprach, der Revisionswerber habe gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG in der Zeit von 8. August 2019 bis 18. September 2019 den Anspruch auf Notstandshilfe verloren. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 19. November 2019 als unbegründet ab.

3 Begründend führte das AMS aus, dem Revisionswerber, der Berufserfahrung als Taxifahrer habe, sei ein Stellenangebot eines Taxiunternehmens übermittelt worden. Im Zuge eines Vorstellungsgespräches habe er zum Ausdruck gebracht, anstatt die Stelle anzutreten, lieber weiterhin einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen und Arbeitslosengeld beziehen zu wollen. Er habe sich somit arbeitsunwillig gezeigt, sodass der Tatbestand der Vereitelung nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG erfüllt sei.

4 Der Revisionswerber stellte einen Vorlageantrag. Er brachte im Beschwerdeverfahren vor, es treffe nicht zu, dass er das Zustandekommen der Beschäftigung durch gezeigtes Desinteresse vereitelt hätte. Bei dem Vorstellungsgespräch mit dem potentiellen Dienstgeber habe es sich nur um ein kurzes Telefonat gehandelt. Im Zuge dessen habe der Dienstgeber angesprochen, dass von den bei ihm beschäftigten Taxifahrern im Fall der Beschädigung eines PKW durch einen verschuldeten Unfall ein „Selbstbehalt“ zu tragen sei. Der Revisionswerber habe seinerseits angemerkt, dass es einen solchen „Selbstbehalt“ in dem Unternehmen, in dem er derzeit geringfügig beschäftigt sei, nicht gebe. Darauf sei das Gespräch vom Dienstgeber auch schon wieder beendet worden. Die geschilderten Äußerungen seien nicht kausal für das Nichtzustandekommen der Beschäftigung gewesen. In rechtlicher Hinsicht stehe die Vereinbarung eines „pauschalen Selbstbehalts“ auch im Widerspruch zum Dienstnehmerhaftpflichtgesetz (DHG) sowie zum Kollektivvertrag für das Personenbeförderungsgewerbe mit PKW.

5 Mit dem nunmehr in Revision gezogenen ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen ‑ Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers neuerlich als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

6 In seiner Begründung gab das Bundesverwaltungsgericht den Verfahrensgang und das Vorbringen der Parteien wieder und stellte fest, dem Revisionswerber sei vom AMS am 6. August 2019 ein Stellenangebot für eine Stelle als Taxifahrer bei einer näher bezeichneten GmbH übermittelt worden. Am 8. August 2019 habe der „potentielle Dienstgeber“ (Anmerkung: erkennbar gemeint der Geschäftsführer dieses Unternehmens) den Revisionswerber angerufen. Bei dem Telefongespräch habe der Revisionswerber sich „aufgrund seiner geringfügigen Beschäftigung bei einem anderen Dienstgeber nicht interessiert an einer Vollbeschäftigung“ gezeigt, weshalb das Dienstverhältnis nicht zustande gekommen sei.

7 Im Zuge seiner Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Angaben des Revisionswerbers seien nicht glaubwürdig. Der Revisionswerber habe „allein schon durch den Verweis auf sein geringfügiges Dienstverhältnis, bei welchem er keinen Selbstbehalt zahlen müsse, beim Telefonat mit dem potentiellen Dienstgeber eine Vereitelungshandlung gesetzt“. Im Übrigen sei „wahrscheinlich“, dass der Revisionswerber selbst „die angebotene Beschäftigung wegen eines allfälligen Selbstbehaltes im Falle eines selbstverursachten Unfalles abgelehnt“ habe.

8 In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, das Verhalten des Revisionswerbers sei als Vereitelung nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG zu qualifizieren. Der Revisionswerber habe sich nicht arbeitswillig gezeigt, indem er „die angebotene Beschäftigung aufgrund des Selbstbehaltes“ abgelehnt habe. Er habe gegenüber dem potentiellen Dienstgeber kein „ernsthaftes Interesse kundgetan“ und damit billigend in Kauf genommen, dass das Beschäftigungsverhältnis nicht zustande komme.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Zur Zulässigkeit der Revision wird zusammengefasst geltend gemacht, dem angefochtenen Erkenntnis seien keine eindeutigen Fehlstellungen dazu zu entnehmen, welches konkrete Verhalten beim Vorstellungsgespräch dem Revisionswerber vorgeworfen werde. Eine Vereitelung des Zustandekommens der Beschäftigung nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG im Sinn der (näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei aus den Feststellungen nicht abzuleiten.

11 Die Revision ist aus dem aufgezeigten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.

12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedarf es, um sich in Bezug auf eine von der regionalen Geschäftsstelle des AMS vermittelte zumutbare Beschäftigung arbeitswillig zu zeigen, grundsätzlich einerseits eines auf die Erlangung dieses Arbeitsplatzes ausgerichteten, unverzüglich zu entfaltenden aktiven Handelns der bzw. des Arbeitslosen und andererseits auch der Unterlassung jedes Verhaltens, welches objektiv geeignet ist, das Zustandekommen des konkret angebotenen Beschäftigungsverhältnisses zu verhindern. Das Nichtzustandekommen eines die Arbeitslosigkeit beendenden zumutbaren Beschäftigungsverhältnisses kann vom Arbeitslosen abgesehen vom Fall der ausdrücklichen Weigerung, eine angebotene Beschäftigung anzunehmen, somit auf zwei Wegen verschuldet, die Annahme der Beschäftigung also auf zwei Wegen vereitelt werden: Nämlich dadurch, dass der Arbeitslose ein auf die Erlangung des Arbeitsplatzes ausgerichtetes Handeln erst gar nicht entfaltet (etwa durch Unterlassen der Vereinbarung eines Vorstellungstermins oder Nichtantritt der Arbeit), oder dadurch, dass er den Erfolg seiner (nach außen zu Tage getretenen) Bemühungen durch ein Verhalten, welches nach allgemeiner Erfahrung geeignet ist, den potentiellen Dienstgeber von der Einstellung des Arbeitslosen abzubringen, zunichtemacht (vgl. etwa VwGH 16.12.2021, Ra 2020/08/0170, mwN).

13 Bei der Beurteilung, ob ein bestimmtes Verhalten eines Vermittelten als Vereitelung im Sinne des § 10 Abs. 1 AlVG zu qualifizieren ist, kommt es zunächst darauf an, ob dieses Verhalten für das Nichtzustandekommen des (zumutbaren) Beschäftigungsverhältnisses ursächlich war. Ist die Kausalität zwischen dem Verhalten des Vermittelten und dem Nichtzustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses zu bejahen, dann muss geprüft werden, ob der Vermittelte vorsätzlich gehandelt hat, wobei bedingter Vorsatz (dolus eventualis) genügt. Ein bloß fahrlässiges Handeln, also die Außerachtlassung der gehörigen Sorgfalt, reicht zur Verwirklichung des Tatbestandes nicht hin (vgl. VwGH 29.6.2021, Ra 2020/08/0026, mwN).

14 Gemäß § 29 Abs. 1 VwGVG sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts zu begründen. Diese Begründung hat, wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Demnach sind in der Begründung die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige ‑ eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche ‑ konkrete Feststellung des zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, infolge derer bei Vorliegen widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung gerade jener Sachverhalt festgestellt wurde, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch der Entscheidung geführt haben (vgl. etwa VwGH 28.9.2018, Ra 2015/08/0080, mwN). Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. nochmals etwa VwGH Ra 2020/08/0170, mwN).

15 Steht ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ eine Vereitelung des Zustandekommens eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG durch das Verhalten einer arbeitssuchenden Person bei einem Vorstellungsgespräch in Frage, sind nach dem Gesagten präzise und in einem einwandfreien Verfahren getroffene Feststellungen über den Verlauf des Vorstellungsgespräches erforderlich (vgl. VwGH 16.11.2005, 2003/08/0116, mwN).

16 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis, wie die Revision zutreffend darlegt, nicht gerecht. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, der Revisionswerber habe sich gegenüber dem Dienstgeber aufgrund seiner aufrechten geringfügigen Beschäftigung nicht interessiert an einer Vollbeschäftigung gezeigt. Aus den Ausführungen zur Beweiswürdigung ist weiters abzuleiten, dass das Bundesverwaltungsgericht davon ausging, dass das aufrechte Bestehen einer geringfügigen Beschäftigung des Revisionswerbers sowie ein „Selbstbehalt“ ein Thema des Vorstellungsgespräches waren. Auch unter Berücksichtigung dieser disloziert im Zuge der Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen ist dem Erkenntnis jedoch nicht zu entnehmen, konkret durch welches Verhalten bzw. welche Äußerungen der Revisionswerber gegebenenfalls sein Desinteresse an der angebotenen Beschäftigung bzw. die Ablehnung der Aufnahme der Beschäftigung zum Ausdruck gebracht hat.

17 Soweit im Zuge der rechtlichen Beurteilung schließlich ausgeführt wird, der Revisionswerber habe die angebotene Beschäftigung gegenüber dem Dienstgeber „aufgrund des Selbstbehaltes abgelehnt“, stehen diese Ausführungen zunächst in einem Spannungsverhältnis mit den zuvor getroffenen Feststellungen. Im Übrigen setzt eine zumutbare Beschäftigung ‑ über die in § 9 Abs. 2 AlVG ausdrücklich genannten Zumutbarkeitskriterien hinaus ‑ voraus, dass der Dienstgeber für die Aufnahme des Beschäftigungsverhältnisses vom Arbeitslosen nicht die Annahme vertraglicher Bedingungen verlangt, die in wesentlichen Punkten zwingenden Rechtsnormen widersprechen (vgl. VwGH 17.5.2006, 2004/08/0177, mwN). In Fällen, in denen im Zuge einer Bewerbung zunächst unklar ist, ob die Bedingungen der angebotenen Beschäftigung mit dem Gesetz oder dem anzuwendenden Kollektivvertrag im Einklang stehen, ist die arbeitssuchende Person verhalten, sich durch entsprechende Rückfragen beim potentiellen Dienstgeber Klarheit zu verschaffen (vgl. VwGH 11.6.2014, 2013/08/0084, mwN).

18 Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher ‑ unter Berücksichtigung des Vorbringens des Revisionswerbers ‑ konkrete Feststellungen auch dazu treffen müssen, welche vertraglichen Bedingungen dem Revisionswerber für ein künftiges Arbeitsverhältnis in Aussicht gestellt wurden. Auf dieser Grundlage wäre zu beurteilen gewesen, ob diese Vertragsbestimmungen mit gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Bestimmungen im Widerspruch gestanden wären. Eine gegebenenfalls vorgeschlagene Regelung zur Tragung von Schäden, die durch einen Taxilenker am Personenkraftwagen seines Dienstgebers verursacht werden, wäre dabei an den Bestimmungen des DHG sowie an den im Sinn von § 5 DHG davon abweichenden Regelungen des anzuwendenden Kollektivvertrages (vgl. XI. des Kollektivvertrages für das Personenbeförderungsgewerbe mit PKW) zu messen gewesen.

19 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

20 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. Mai 2022

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