VwGH Ra 2021/14/0131

VwGHRa 2021/14/013128.4.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache des A B, vertreten durch Rast & Musliu Rechtsanwälte, 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. März 2021, W258 2147117‑1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8
MRK Art3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140131.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 29. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005, den er damit begründete, die Taliban würden ihn bedrohen, weil er eine Universität besucht habe und sein älterer Bruder Polizist sei.

2 Mit Bescheid vom 26. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die belangte Behörde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von näher zitierter Rechtsprechung abgewichen, weil es hinsichtlich der Bedrohung des Revisionswerbers durch die Taliban von der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens ausgehe, obwohl dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu entnehmen sei, dass Familienmitglieder von Angehörigen der Polizei einer Verfolgung ausgesetzt seien. Hätte das Verwaltungsgericht den Sachverhalt ausreichend berücksichtigt und die Beweiswürdigung nicht in einer unvertretbaren Weise vorgenommen, wäre es zum Ergebnis gelangt, dass die Verfolgung durch die Taliban hinreichend glaubhaft sei.

8 Die Frage, ob eine aktuelle Verfolgungsgefahr vorliegt, ist eine Einzelfallentscheidung, die grundsätzlich ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist (vgl. VwGH 7.10.2020, Ra 2020/14/0414, mwN).

9 Die Revision übersieht, dass das Bundesverwaltungsgericht bei der Beurteilung, ob eine aktuelle Verfolgungsgefahr vorliegt, zum Ergebnis gelangte, es sei nicht auszuschließen, dass der Revisionswerber in seiner Herkunftsregion einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Es stützte die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten jedoch mit näherer Begründung auf das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in der Stadt Mazar‑e Sharif.

10 Soweit die Revision vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass der Revisionswerber in Mazar-e Sharif keine sozialen, familiären oder wirtschaftlichen Anknüpfungspunkte habe und auf sich alleine gestellt sowie obdachlos wäre, wendet sie sich erkennbar gegen die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, dem Revisionswerber sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif zumutbar.

11 Die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative stellt eine von der Asylbehörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu treffende Entscheidung im Einzelfall dar, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 5.3.2021, Ra 2021/14/0038, mwN).

12 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung, dass weder EASO (Leitfaden vom Juni 2018 und Juni 2019) noch UNHCR (Richtlinien vom 30. August 2018) von der Notwendigkeit der Existenz eines sozialen Netzwerkes in Mazar-e Sharif für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgehen (vgl. VwGH 26.2.2021, Ra 2021/14/0044, mwN).

13 Das Bundesverwaltungsgericht traf unter Bezugnahme auf Länderberichte, die EASO Country Guidance zu Afghanistan 2019 und 2020 sowie die UNHCR‑Richtlinien vom 30. August 2018 hinreichend aktuelle Feststellungen zur Situation in der Stadt Mazar-e Sharif (Sicherheits- und Versorgungslage) sowie zu dessen sicherer Erreichbarkeit und setzte sich mit den individuellen Umständen des Revisionswerbers auseinander. Der Revisionswerber tritt den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts, wonach es sich bei ihm um einen gesunden, jungen und arbeitsfähigen Mann handle, der mit den kulturellen Gepflogenheiten des Herkunftsstaates vertraut sei, über einen relativ hohen Bildungsstand, Sprachkenntnisse sowie Berufserfahrung als Lebensmittelverkäufer verfüge und dem die Teilnahme am Arbeits- und Wohnungsmarkt möglich sei, nicht entgegen.

14 Soweit sich die Revision gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung wendet, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, nach der eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist. Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 18.3.2021, Ra 2020/14/0184, mwN).

15 Wenn der Revisionswerber seinen mehr als fünfjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet anspricht, übersieht er, dass das persönliche Interesse zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zunimmt, die bloße Aufenthaltsdauer jedoch nicht allein maßgeblich ist, sondern vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. wiederum VwGH 7.10.2020, Ra 2020/14/0414, mwN).

16 Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigte im Rahmen der Interessenabwägung die von der Revision angesprochenen Umstände, darunter auch den Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet von knapp über fünf Jahren und sein Bemühen, seine soziale und berufliche Integration voranzutreiben. Die privaten Interessen erachtete das Bundesverwaltungsgericht jedoch als durch den unsicheren Aufenthaltsstatus relativiert, weshalb die öffentlichen Interessen an der Wahrung eines geordneten Fremden- und Aufenthaltswesens überwögen. Dass sich das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Beurteilung von den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien entfernt oder diese in unvertretbarer Weise zur Anwendung gebracht hätte, zeigt die Revision nicht auf.

17 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 28. April 2021

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